# taz.de -- Berlinale Vorschau: Büffelpelz und Schamhaare | |
> Die 58. Berlinale zeigt Konflikte der Gegenwart: Schwule und Lesben im | |
> Islam, Kindersoldaten, Jugendkriminalität. Zum Lachen und Staunen gibt es | |
> aber auch etwas. | |
Bild: Die Spannung vor dem Filmfestival ist in jedem Jahr die gleiche: Zuschaue… | |
Vor wenigen Tagen lud der Presseagent der Twentieth Century Fox zur | |
Vorführung einer Komödie ein. In der Betreffzeile seiner E-Mail stand: | |
"Damit Sie vor der Berlinale was zu lachen haben". Während des Festivals, | |
schwang darin mit, werde es wohl wenig zu lachen geben, und damit hat der | |
Mann vermutlich Recht. Denn wer in den nächsten Tagen am Potsdamer Platz | |
ins Kino geht, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Film treffen, | |
der von einer sozialen oder politischen Krise handelt. Die Berlinale, die | |
am Donnerstag Abend mit Martin Scorseses Konzertfilm "Shine a Light" | |
eröffnet wird, hat Schwerpunkte gewählt, die viel daran setzen, die | |
Problem- und Konfliktlagen der Gegenwart zu kartografieren. | |
So befasst sich der Wettbewerbsfilm "Standard Operating Procedure" von Erol | |
Morris mit dem Krieg gegen den Terror im Allgemeinen und mit Abu Ghraib im | |
Besonderen. Ein anderer, "Tropa de elite" von José Padilha, erzählt von der | |
Arbeit einer Sonderpolizeieinheit in den Favelas von Rio de Janeiro und war | |
in Brasilien umstritten - ihm wurde vorgehalten, die Gewalt der Polizisten | |
zu verharmlosen. Ein dritter Wettbewerbsbeitrag, "Feuerherz" von Luigi | |
Falorni, bringt die kontrovers diskutierte Autobiografie von Senait Mehari | |
auf die Leinwand. Es ist die Geschichte einer Sängerin aus Eritrea - den | |
Lesern dieser Zeitung dürfte sie wohlbekannt sein, da sie 2003 im Namen der | |
taz bei der deutschen Vorauswahl zum Grand Prix antrat. Mehari behauptet | |
von sich, in den Achtzigerjahren von der eritreischen Befreiungsbewegung | |
ELF als Kindersoldatin zwangsrekrutiert worden zu sein. Von einstigen, im | |
Buch beschriebenen Mitgliedern der ELF allerdings wird dieser Vorwurf so | |
vehement bestritten, dass sich mittlerweile Gerichte um den Fall kümmern. | |
Man darf gespannt sein, wie viel Fortune Falorni hat, wenn er eine so | |
aufgeladene Geschichte ins Format des Erzählkinos überträgt. | |
Das aktuelle Reizthema Jugendkriminalität kommt in vielen Filmen quer durch | |
die Sektionen vor. Dabei geht es mal um Gangs und deren tödliche | |
Rivalitäten in einem Viertel Manilas wie in dem Forumsbeitrag "Tribu" von | |
dem philippinischen Regisseur Jim Libiran. Mal stehen Drogengeschäfte in | |
einer Hamburger Satellitenstadt im Vordergrund wie in dem Panorama-Film | |
"Chiko" von Özgur Yildirim. Der Titelheld, ein junger Deutschtürke, steigt | |
ins Drogenbusiness ein und beweist dabei viel Schlagkraft und viel Geschick | |
- bis ihm ein double bind aus Freundschaft und Hierarchie das Leben zur | |
Hölle macht. Am anderen Ende der Republik, im friedlichen Schwarzwald, | |
kommt ein 25 Jahre alter Bundeswehrsoldat vom Afghanistan-Einsatz zurück. | |
Brigitte Berteles Regiedebüt "Nacht vor Augen" (Forum) konfrontiert ihn mit | |
einer verständnislos-ignoranten Umwelt, die viel lieber business as usual | |
inszeniert, anstatt dem Veteranen ein offenes Ohr zu schenken. Daran und an | |
den eigenen, peinigenden Erinnerungen geht der junge Mann fast zugrunde. | |
Das Festival zeigt auch im siebten Jahr seit Kosslicks Amtsantritt großes | |
Interesse an den Verwerfungen der globalisierten Welt. Darin unterscheidet | |
es sich kaum von der vorangegangenen Berlinale - die gab dem Publikum die | |
Chance, brutale Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Juarez zu | |
bezeugen oder israelischen Soldaten dabei zuzuschauen, wie sie sich in | |
einer längst verloren gegebenen Stellung im Libanon verheizen lassen. | |
Dass dabei das, was ein Filmfestival, zumal eines vom Rang der Berlinale, | |
auszeichnet, zu kurz kam, war das Fazit der meisten Beobachter. Zu viele | |
wichtige Themen, zu wenig wichtige Filme, zu viel Kino der guten Absicht, | |
zu wenig gut gemachtes Kino. Zu viel Wirbel rund um Events, zu wenig | |
Konzentration auf das Wesentliche. Und, nicht zuletzt, ein seltsamer | |
Ausverkauf des Wettbewerbs. Solange nur Sharon Stone über den roten Teppich | |
defilierte, war man sich nicht zu schade, Belanglosigkeiten wie "When A Man | |
Falls in the Forest" von Ryan Eslinger zu präsentieren, einen Film, an den | |
sich schon eine Woche nach der Berlinale niemand mehr erinnern wollte. | |
Dass es in diesem Jahr ein bisschen anders und damit besser werden könnte, | |
deuten leichte Verlagerungen im Programm an. Plötzlich laufen im Wettbewerb | |
Filme von Regisseuren, die vor einem Jahr noch im Panorama oder im Forum | |
Platz gefunden hätten - etwa "Bam Gua Nat" ("Nacht und Tag") von dem | |
koreanischen Filmemacher Hong Sang-soo. Mit Fernando Eimbcke ist ein junger | |
mexikanischer Regisseur in den Wettbewerb eingeladen, dessen Debüt | |
"Temporada de Patos" ("Entensaison") vor vier Jahren cinephile Herzen höher | |
schlagen ließ, und mit Erick Zonca ist ein viel versprechender | |
französischer Regisseur vertreten, der seit "La vie revée des anges" (1998) | |
und "Le petit voleur" (1999) pausiert hat und nun "Julia" präsentiert, mit | |
einer, wie es auf den Fluren der Berlinale-Büros heißt, großartigen Tilda | |
Swinton in der Hauptrolle. Johnnie To wiederum steht für jenes avancierte, | |
raffinierte, schnelle Kino aus Hongkong, das Cinephile wie | |
Action-Aficionados gleichermaßen beglückt. Und mit "Ballast", dem Debüt | |
Lance Hammers, wird ein Stück unabhängiges US-amerikanisches Kinos | |
präsentiert, mit Laiendarstellern gedreht, angesiedelt in einer kargen, | |
desolaten Landschaft im Bundesstaat Mississippi. Wenn diese leichten | |
Verschiebungen bedeuten, dass der nicht eben für seine Cinephilie berühmte | |
Dieter Kosslick dem Rat seines Auswahlgremiums in diesem Jahr mehr | |
Aufmerksamkeit gezollt hat als im letzten, dann ist das ein gutes Zeichen | |
für diese 58. Berlinale. | |
Zumal viele der Schwerpunktsetzungen - zumindest zum Auftakt des Festivals | |
- den Eindruck erwecken, gut kuratiert zu sein. Das gibt Anlass zur | |
Hoffnung, Filme zu sehen, die unser Bild von der Welt herausfordern und | |
verändern, Filme, die das Vertraute auf der anderen Seite des Globus | |
entdecken und das Unvertraute vor der Haustür, Filme, die es schaffen, | |
dieses Unvertraute ein wenig zu erhellen, anstatt es zu exotisieren oder zu | |
skandalisieren. In verschiedenen, im Zwischenbereich von Essay und | |
Dokumentation angesiedelten Forumsfilmen etwa wird man die Gelegenheit | |
haben zu sehen, wie in verschiedenen Ländern Ostasiens politische | |
Transformationsprozesse erinnert respektive vergessen werden - ein Sujet, | |
das deutschen Zuschauern geläufig sein dürfte. "Yasukuni" von Li Ying zum | |
Beispiel handelt von einem Schrein in Tokio, in dem aller japanischen | |
Soldaten gedacht wird, mithin auch der Kriegsverbrecher des Zweiten | |
Weltkriegs. Der Essayfilm "Invisible City" von Tan Pin Pin versucht in der | |
sich mit rasender Geschwindigkeit verändernden Metropole Singapur daran zu | |
erinnern, wie die Stadt einmal war - er will etwas festhalten, was heute | |
nicht mehr existiert. | |
Traditionell ist die Berlinale dem Queer Cinema gegenüber aufgeschlossen; | |
in diesem Jahr bietet sie in diesem Zusammenhang einen interessanten | |
Schwerpunkt: Wie leben Homosexuelle in islamisch geprägten Ländern? "Be | |
Like Others" von Tanaz Eshagian zum Beispiel erzählt vom Iran, wo | |
Homosexualität zu einem Todesurteil führen kann, Transsexualität wiederum | |
legal ist. Wer sich als schwuler Mann zur Frau umoperieren lässt, versöhnt | |
sein Leben mit der Gesetzeslage. Ob er sich auch mit sich selbst versöhnt, | |
ist eine der Fragen, die "Be Like Others" aufwirft. Zugleich haben die | |
Programmverantwortlichen dafür gesorgt, dass sich niemand in seiner | |
westlichen Liberalität zu sicher fühlen kann. | |
Die Dichotomie "Wir sind aufgeklärt, die sind rückständig" wird spätestens | |
dann brüchig, wenn "Improvvisamente l'inverso scorso" ("Plötzlich im | |
letzten Winter") von Gustav Hofer und Luca Ragazzi von Homophobie in | |
Italien handelt. Gibt es bei all dem trotzdem etwas zu lachen? O ja: In | |
ihren acht mit "Green Porno" überschriebenen Kurzfilmen spielt Isabella | |
Rossellini Insekten, die Sex haben, und macht dabei vor allem als | |
Spinnenmännchen eine wunderbare, tragisch-komische Figur. Im Forumsbeitrag | |
"My Winnipeg", der Hommage Guy Maddins an seine Heimatstadt, kann man ein | |
der Ästhetik des Stummfilms verpflichtetes Delirium erleben. Die | |
Mutterobsession des Helden, eine Flussgabelung, Büffelpelz und Schamhaare | |
finden in wilden Überblendungen zusammen. In einer Sequenz wird eine | |
aberwitzige urbane Legende zum Besten gegeben: Pferde preschen aus einem | |
brennenden Stall, stürzen sich in ihrer Panik in den winterkalten | |
Assiniboine River und erfrieren. Ihre von der Todesangst entstellten Köpfe | |
ragen aus der Eisschicht heraus, die Kamera schaut aus nächster Nähe in | |
weit aufgerissene, schockgefrostete Pferdeaugen und vor Schmerz verzerrte | |
Mäuler. Weil der Winter in Winnipeg lang ist, gewöhnen sich die Bewohner | |
allmählich an die Pferdeköpfe. Sie promenieren an ihnen entlang, nutzen sie | |
als Treffpunkt für verstohlene Rendezvous und verwenden sie schließlich als | |
Tische für ihre winterlichen Picknicks. | |
7 Feb 2008 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
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Spielfilm | |
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