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# taz.de -- Nach den Straßenkämpfen in Tibet: Chinas Polizei jagt Tibeter
> Tag drei nach den Protesten gegen die chinesische Fremdherrschaft:
> Während die Bewohner sich um Normalität bemühen, veranstalten
> Militärpolizisten Razzien. Taz-Reporterin Kristin Kupfer aus Lhasa
Bild: Nicht nur in Lhasa, auch in chinesischen Provinzen marschiert das Militä…
LHASA taz Eine alte Tibeterin in purpurner Tracht schaut den jungen
Militärpolizisten fassungslos an. Sie hat Tränen in den Augen. "Warum
können wir nicht zu unserem Tempel", murmelt sie, "ich verstehe nichts
mehr." Mit einem kleinen weißen Hund an der Leine und auf einen Stock
gestützt humpelt sie wieder in Richtung Gasse. Dort hängen bunte Stoffborde
über kleinen Fenstern in weißen Häuserwänden. Bis auf einen Kiosk haben
hier noch alle Läden geschlossen. Die Menschen wandern ziellos und stumm
umher. Eine Frau in dunkelrot-blauer Tracht läuft vorbei. "Hier haben sie
so viele von uns getötet", ruft sie klagend in die hohen Gassenwände, "es
ist schrecklich". Sie legt die Hand auf die Augen und verschwindet hinter
einer Hausecke.
Am Tag drei nach den gewalttätigen Protesten bemühen sich die Bewohner von
Lhasa um Normalität. Die Militärpolizei hat die Straßensperren größtenteils
aufgehoben. Viele Geschäfte haben nachmittags wieder geöffnet.
Sicherheitsleute versuchen verbeulte Straßenschilder gerade zu schlagen.
Lastwagen karren verbrannten Schrott und Scherben davon. Chinesen suchen
nach unversehrten Produkten in ihren ausgebrannten Läden. Fußgänger dürfen
den Altstadtbezirk um den Jokhang-Tempel im Osten Lhasas wieder betreten.
Hier wohnen überwiegend Tibeter. Einige Gasseneingänge sind von bis zu 20
Militärpolizisten in grau-braunen Tarnanzügen mit Maschinengewehren
abgeriegelt. Nur Bewohner mit Personalausweis dürfen passieren.
Zwar haben sich die Proteste mittlerweile von Lhasa auf die angrenzenden
Provinzen Sichuan, Gansu und Qinghai verlagert. Dennoch vermuten die
chinesischen Behörden im Tempelviertel eine der potenziellen Hochburgen für
weitere Proteste. So hat die Militärpolizei neben den drei Klöstern Sera,
Deprung und Ganden in der Nähe der Stadt auch den Jokhang-Tempel umzingelt.
Auf dessen Vorplatz steht eine Hundertschaft mit Gewehren zwischen Panzern
und Militärlastwagen. "Separatismus ist eine Gefahr", "Harmonie und
Stabilität in Ehren halten" steht auf Plakaten. Wer sich dem Platz nähert,
wird mit erhobenem Maschinengewehr zum sofortigen Rückzug aufgefordert.
Die Tibeter ringen um Fassung angesichts des Schreckens der vergangenen
Tage. Etwa 100 Menschen sind nach Angaben der tibetischen Exilregierung ums
Leben gekommen. Von einem "kulturellen Genozid" spricht der Dalai Lama. Die
Bilanz der chinesischen Behörden fällt dagegen nüchtern aus. Tote stehen
nicht mal an erster Stelle. "56 Autos sind ausgebrannt, 13 unschuldige
Menschen sind verbrannt oder erschlagen worden, 14 Polizisten und 6
Militärpolizisten sind schwer verletzt, an 300 Stellen und in 214 Läden hat
es gebrannt", so zitiert die Nachrichtenagentur Xinhua den Vorsitzenden der
autonomen Region Tibet, Xiang Baping, am Montag. Und es waren die
Demonstranten, die äußerst brutale Maßnahmen angewendet haben, so Xiang
laut Xinhua.
Die ausgebrannten Läden und Lastwagen auf der Beijing-Zhong-Straße nördlich
vom Jokhang-Tempel sprechen Bände. Die Straße ist laut offiziellen Angaben
von Brandlegungen und Vandalismus am schwersten betroffen. Nur die
tibetischen Läden mit bunten Stoffborden sind unversehrt. Ein Chinese mit
einem hastig umgewickelten Kopfverband wirft Cola- und Sprite-Dosen auf
einen Lastwagen. "Mein Angestellter konnte nicht schnell genug fliehen",
sagt sein Chef, der Ladenbesitzer. Von seinem Supermarkt ist nur ein Berg
schwarz verbrannter Reste von Regalen und Kühltruhen übrig. Eine
Versicherung hat er nicht. Den Schaden schätzt er auf umgerechnet mehrere
tausend Euro. "Ich habe doch mit Politik nichts zu tun", sagt er
kopfschüttelnd, "nur weil die ihre Unabhängigkeit wollen, habe ich alles
verloren."
Im unversehrten tibetischen Restaurant südwestlich des Potala-Palastes
bangen die Menschen derweil um ihr Leben. "Gestern Abend und heute Morgen
haben Polizisten hier zwei Lastwagen voll von jungen Männern mitgenommen",
erzählt die Kellnerin im bunten Strickpulli und blauer Schürze. Um einen
der vier kleinen Holztische des Restaurants spielen drei Männer bei Yak-Tee
Karten. Als die Kellnerin die Festnahmen erwähnt, schauen sie auf und
nickend schweigend. Seit Sonntagnachmittag führen die chinesischen
Sicherheitsbehörden Razzien in ganz Lhasa durch, berichtete das
exiltibetische Zentrum für Menschenrechte und Demokratie in Dharamshala am
Montag. Alle verdächtigen Tibeter, insbesondere junge Männer, würden
mitgenommen. In der Nacht zu Dienstag sollte ein Ultimatum der Behörden zur
strafmildernden Selbstanzeige ablaufen. "Wir haben alle Angst", sagt der
Chef des Restaurants im braunen Wollpullover und legt die Karten aus der
Hand, "für alles, was man sagt, kann man schon verdächtigt werden."
Seit dem Wochenende mischten sich hier vermehrt Spitzel unter die Leute,
erzählen die Männer. Auch fremden Tibetern könne man nicht mehr trauen. Wie
es weitergeht mit Tibet und in Lhasa, kann keiner sagen. "Selbst wenn die
lokale Regierung hier etwas ändern wollte, es stände doch nicht in ihrer
Macht", sagt die Kellnerin mit Pferdeschwanz. Ob die Proteste für ihr
Anliegen einer gerechteren Behandlung von Tibetern hilfreich waren, mag
keiner der vier so recht sagen. Die Männer sind sich auch nicht sicher, ob
ein unabhängiges Tibet wirtschaftlich überlebensfähig wäre. "Aber wir
wollen mehr Freiheit für unsere Religion", sagt der Restaurantbesitzer,
"und der Dalai Lama soll zurückkehren."
18 Mar 2008
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