# taz.de -- Nach dem 4:1 gegen Frankreich: Oranjes sind EM-Favorit | |
> Hollands Trainer Marco von Basten hat sich jahrzehntealtem vom | |
> 4-3-3-Dogma gelöst. Mit seinem flexibleren und extrem schnellen Spiel ist | |
> sein Team klarer Titelfavorit. | |
Bild: Hatten ihren Spass: Hollands Antreiber Robben, Van Persie und Wesley Snej… | |
BERN taz Eineinhalb Stunden vor dem Anpfiff standen Frankreichs Kicker auf | |
dem Rasen des Stade de Suisse und machten sich mit der Atmosphäre vertraut. | |
Was sie sahen, wird ihnen kaum gefallen haben: Fast alle Zuschauer, die | |
sich bis dato auf den Tribünen eingefunden hatten, waren in orange | |
gewandet, ein Heimspiel würde die Equipe Trikolore also kaum erleben. | |
Fünf Minuten später kam Bewegung in die Szene. Hollands Spieler betraten | |
die Bühne, in Trainingsanzug und teilweise in kurzen Hosen. Dirk Kuit | |
marschierte in die Kurve und nahm seine Tochter auf den Arm. Die hatte eine | |
Kappe auf. Die Farbe: Natürlich orange. Die Kontrahenten aus Frankreich, in | |
edle, graue Anzüge gewandet, bemühten sich, unbeteiligt zu wirken. Thierry | |
Henry schottete sich mit einem Kopfhörer von der Umwelt ab, Franck Ribery | |
hatte seine Krawatte gelockert. | |
Doch als der Ball rollte wurde schnell klar, dass das Szenario die Blauen | |
nicht unbeeindruckt gelassen hatte. Am Ende gingen die Holländer mit einem | |
grandiosen 4:1 (1:0) vom Feld. Nach dem 3:0-Erfolg gegen Italien haben sie | |
in der so genannten "Todesgruppe" ein zweites dickes Ausrufezeichen | |
gesetzt. Sechs Punkte, sieben Tore bei nur einem Gegentreffer - und das | |
gegen den Weltmeister und den Vize-Weltmeister. | |
Ganz Europa fragt sich, wer diese unglaublich präzise agierende | |
Angriffsmaschinerie stoppen soll. "Wir sind sehr glücklich", gab Bondscoach | |
Marco Van Basten nach dem Spektakel von Bern zu Protokoll, "wenn du erst | |
Italien und dann Frankreich schlägst, und dann noch mit solchen Resultaten, | |
kannst du nur äußerst zufrieden sein." | |
Der Sieg nach Treffern von Dirk Kuyt, Robin van Persie, Arjen Robben und | |
Wesley Snijder bei einem Gegentreffer durch Thierry Henry ist auch ein | |
persönlicher Triumph für Van Basten. In der Heimat ist der frühere | |
Ausnahmestürmer permanent angefeindet worden, weil er es gewagt hat, vom | |
holländischen Ur-System mit drei Stürmern abzurücken. | |
Eher, so die vorherrschende Überzeugung, wird der Pabst das Zölibat | |
aufgeben, als Hollands Fußball das heißgeliebte 4-3-3. Vor allem Van | |
Bastens ehemaliger Förderer Johann Cruyff ließ kein gutes Haar am | |
Bondscoach. Cruyffs Wort gilt in den Niederlanden als Dogma, König Johann | |
geißelt es bereits als schweres Vergehen, wenn ein holländischer Trainer | |
die Stirn hat, mit zwei Spitzen zu agieren. Van Basten ist sogar so weit | |
gegangen, mit Ruud van Nistelrooy nur einen Stürmer aufzubieten, was nach | |
der reinen orangen Lehre dem Tatbestand des Hochverrats gleichkommt. | |
Doch nach den grandiosen Erfolgen gegen Italien und Frankreich muss nun | |
sogar Hollands letzte Instanz Abbitte leisten. Im neuen System ist der | |
Stossstürmer van Nistelrooy in vorderster Front stets anspielbar, über die | |
Außen rücken Spieler wie van Bronckhorst, Robben oder van Persie mit mit | |
irrem Tempo nach, das seinesgleichen sucht. Der beinahe artistisch | |
vorgetragene One-Touch-Football der Holländer ist schlicht eine Augenweide. | |
"Dieses System klappt von vorn bis hinten", sagt Nigel de Jong vom | |
Hamburger SV, "wenn du so spielst, macht es einfach Spaß." Das hätte de | |
Jong nicht extra zu erwähnen brauchen. Sein seeliges Lächeln verriet, dass | |
er es als Gnade empfindet, in diesem Ensemble mitkicken zu dürfen. Van | |
Basten hat es geschafft, Hollands Fußball ein starkes und diszipliniertes | |
Kollektiv zu verordnen, ohne seine Stärken zu verraten. | |
Doch das schöne Spiel ist kein Selbstzweck, es muss zwingend zum Ziel | |
führen. Und wenn das nicht funktioniert, ist es nicht verpönt, sich des | |
schnöden Pragmatismus zu bedienen, um Spiele zu gewinnen. So wie gegen | |
Frankreich, als die Holländer zwischen der 20. und 60. Minute die Kontrolle | |
über das Spiel verloren und dem Gegner eine ganze Reihe erstklassiger | |
Chancen ermöglichten, mit denen Frankreich das Spiel durchaus hätte wenden | |
können. | |
Die die Franzosen vergaben mehrfach hundertprozentige Chancen, wie etwa | |
Thiery Henry, der in der 54. Minute den Ball nicht nur über Torhüter Van | |
der Saar lupfte, sondern auch über das Tor. Als er in der 71. Minute | |
endlich doch zum 1:2-Anschluss traf, stellten die Holländer mit einem | |
schnellen Angriff postwendend eine Minute später den Abstand durch Robbens | |
Tor wieder her. | |
Dass sein Team diese heikle Phase schadlos überstand, stimmt Van Basten | |
noch zuversichtlicher als ohnehin. "Unser Team kann auch verteidigen, das | |
ist eine gute Erkenntnis", sagt der 43-Jährige. Geholfen hat auch, dass die | |
Holländer Spieler wie die Flügelstürmer Arjen Robben und Robin van Persie | |
in der ersten Hälfte noch auf der Bank lassen konnte. Nach der Einwechslung | |
spielten sie ihre Frische voll aus. | |
Wo sind denn eigentlich die Schwächen bei dieser Übermannschaft? Schwer zu | |
sagen, gegen Italien und Frankreich waren sie kaum zu sehen. Denn auch beim | |
Teambuilding haben die Oranjes Fortschritte gemacht. Während die Mannschaft | |
früher in verfeindete Cliquen verfiel, präsentieren sie sich jetzt als | |
Einheit, die dem Ziel alles unterordnet. | |
Das Ganze hat zu einer luxuriösen Ausgangslage geführt: Vor dem letzten | |
Vorrundenspiel stehen die Niederlande als Gruppensieger fest und können | |
darüber entscheiden, ob Rumänien als lachender Zweiter überlebt, während | |
Italien und Frankreich als weinende Dritte und Vierte nach Hause fahren | |
müssen. Ein wahrhaft spektakuläres Szenario, das die bisherigen | |
Kräfteverhältnisse komplett über den Haufen werfen würde. | |
13 Jun 2008 | |
## AUTOREN | |
Felix Meininghaus | |
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