# taz.de -- Totalverweigerer bei der Bundeswehr: Einer verweigert den Gleichsch… | |
> Am Sonntag geloben 500 Rekruten vor dem Reichstag Treue. Derweil sitzt | |
> der Totalverweigerer Silvio Walther in Bundeswehrarrest. Vier Wochen war | |
> er auf der Flucht. | |
Bild: "Für Vaterland und Ehre? Ich bin doch nicht blöd": Rekruten in Frankfur… | |
Es ist ein einsamer Gang. Und ein starker. Einmal blickt er sich noch um, | |
dann öffnet sich das Tor. Grau ist es, matt lackiert und abgegriffen, | |
unzählige Soldaten haben es schon passiert. Es ist Donnerstagabend, 20.57 | |
Uhr, Nonner Straße, Bad Reichenhall. Silvio Walther passiert das | |
Kasernentor der General-Konrad-Kaserne des 5. Gebirgsfernmeldebataillons | |
210. Es regnet. | |
Silvio Walther ist derzeit der einzige Totalverweigerer in der Bundeswehr. | |
Vier Wochen lang war der 21-Jährige auf der Flucht vor den Feldjägern. Er | |
weiß: Hinter diesem Tor wartet die Einzelzelle. 31 Tage hat er darin schon | |
verbracht, ehe er getürmt ist. Er weiß nicht, wann er wieder in Freiheit | |
kommt. Und an wie vielen Tagen er wieder einsam in seiner Zelle das Lied | |
von Marius Müller-Westernhagen vor sich hin singen wird: "Freiheit". Das | |
ist sein Lied auf sieben Quadratmetern. In der mintgrün gestrichenen Zelle | |
5. | |
Es ist 1.45 Uhr, in der Nacht davor. In der Bensheimer Kneipe läuft Bob | |
Dylans "Blowing in the Wind". Silvio Walther kennt nur die deutsche Version | |
von Juliane Werding, seine Mutter hört sie immer. Die Wirtin bringt das | |
zweite Bier. Silvio Walther ist noch einmal in seinen südhessischen | |
Heimatort gekommen, für eine Nacht. Er will sich von seiner Mutter | |
verabschieden. In den Wochen zuvor war er in der ganzen Republik unterwegs, | |
bei Freunden. Inkognito. Jetzt sitzt er in der Kneipe, in der er früher | |
Kicker und Darts gespielt hat. Er raucht eine Zigarette nach der anderen, | |
erzählt von seinen Lieblingsbüchern, Sciencefiction, dass er keltische | |
Sagen, Metal Music und Männer liebt. Es ist sein vorerst letztes Bier. | |
Morgen wird er sich stellen. Hat er Angst? "Angst habe ich nur vor Waffen." | |
Mit Waffen hat er es zu tun bekommen, ehe er aus Bad Reichenhall abgehauen | |
ist. In der Kompanie, die ihn seit April als "Funker" führt, hat er schon | |
viel Zeit im Arrest verbracht. 31 Tage saß Walther in Zelle 5. Und sang von | |
der Freiheit. Er wäre auch geblieben, sagt er, wäre da nicht die Sache in | |
Berchtesgaden passiert. | |
"Berchtesgaden" ist ein Wort, das Walther nervös macht. Dort hat er, zum | |
ersten und einzigen Mal in seinem Leben, einen Befehl ausgeführt, wie er | |
sagt. Was er noch sagt: unter Androhung von Schusswaffengewalt. Er erinnert | |
sich: Auf den Tag genau zwei Monate ist es her, dass zwei Soldaten in | |
Walthers Zelle kamen und sagten: "Jetzt gehen wir spielen." Das war am 17. | |
Mai 2008, Walther war vorübergehend in Berchtesgaden inhaftiert. Doch aus | |
dem Spiel wurde Ernst. Unter Waffenbegleitung führten die Soldaten den | |
Häftling zu einem nahe gelegenen Parkplatz. Dort gaben sie ihm, wie sie das | |
nannten, "die schöne Aufgabe", den Müll aufzusammeln. Es war ein Befehl. | |
Walther verweigerte ihn, wie immer. | |
Glaubt man dem Totalverweigerer, legte einer der Soldaten den Finger auf | |
den Abzug seines Gewehres, hob den Lauf demonstrativ an und betonte: | |
"Befehl ist Befehl." "Da bekam ich zum ersten Mal Angst. Denn ich wusste | |
nicht, was als Nächstes kommt", sagt Walther heute. Er gehorchte. Und | |
sammelte mit bloßen Händen den Müll ein, Plastikflaschen, gebrauchte | |
Tampons. | |
Sechs Tage später erschien Walthers Kompaniechef bei ihm, in der Hand eine | |
Verschwiegenheitserklärung. Walther sollte unterschreiben, "explizit" über | |
den Vorfall in Berchtesgaden Stillschweigen zu bewahren. Er unterschrieb. | |
Jetzt redet er. | |
Dies sind Szenen einer Heldengeschichte ohne Gleichschritt. Wann sie | |
begann? Vielleicht im Förderzentrum in Gera, wo der kleine Silvio damals | |
Klassensprecher wurde? Oder nach dem Umzug, in der Sonderschule in Bayern, | |
wo er trotz Ossi-Witzen und Hänseleien wegen seines Thüringer Dialekts | |
seinen Hauptschulabschluss mit 1,7 feierte? Womöglich in der Betriebshalle | |
von Suzuki, wo sich der Hilfsarbeiter Walther für die Wahl einer | |
Vertrauensperson einsetzte, der sich auch Kolleginnen anvertrauen könnten? | |
Vielleicht setzt sich Silvio Walthers persönliche Heldengeschichte auch | |
erst fort, wenn er wieder zurückkommt: in sein Leben, in seine Freiheit. | |
Wenn er aussteigt aus dem Zug, in Bensheim, wenn er nach Hause geht und | |
endlich das Lied hören kann, das er dann hören möchte: "A hero comes home". | |
So heißt sein zweites Lied. | |
Doch vorerst muss Silvio Walther sein eigener Held bleiben. Wenn am Sonntag | |
in Berlin 500 Rekruten Tapferkeit und Treue geloben, wird er in der Zelle | |
sitzen. Nicht freiwillig, nicht gerne. Aber lieber. "Ich gelobe gar | |
nichts", sagt Walther. Auf seinem T-Shirt steht: "Für Vaterland und Ehre? | |
Ich bin doch nicht blöd!" | |
Blöd ist er auch nicht. "Ich will mich nicht zu etwas ausbilden lassen, das | |
töten können soll", schrieb er bereits vor Dienstantritt an den | |
Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), und lud | |
ihn bereits vorsorglich in seine Arrestzelle ein. Bisher ist Robbe nicht | |
gekommen. Auch nach dem Vorfall in Berchtesgaden nicht. Doch Robbe prüft | |
den Fall. Aus seinem Büro heißt es: Zu laufenden Verfahren keine | |
Stellungnahmen. Auch das Heer hat die Untersuchungen gegen die Wachsoldaten | |
aus Berchtesgaden aufgenommen. Zwar will sich der Heeressprecher nicht | |
abschließend äußern, doch der taz sagte er: "Es ist vermutlich so, dass es | |
so war." Der Verteidigungsausschuss im Bundestag und das | |
Verteidigungsministerium sind informiert. | |
"Ich bin Demokrat", sagt Silvio Walther, "und ich bekenne mich absolut zur | |
Verfassung." Er meint Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit. | |
Warum leistet er dann nicht einfach Zivildienst, wie über 80.000 andere | |
Männer jährlich auch? "Zivildienst ist für mich auch ein Kriegsdienst. Im | |
Kriegsfalle müsste ich kriegsunterstützende Arbeiten leisten. Und dazu bin | |
ich nicht bereit." Im Kriegsfall? Ist das nicht abstrakt? "Das ist nicht | |
abstrakt, sondern konkret. Die Bundswehr befindet sich im Krieg." | |
Dass die Bundeswehr das anders sieht, liegt auf der Hand. Aus dem | |
Verteidigungsministerium heißt es: Das Grundgesetz sieht eine "sogenannte" | |
Totalverweigerung nicht vor. Wer nicht an der Waffe dient, muss - zumindest | |
theoretisch, denn die Praxis sieht anders aus - zivil dienen. Deshalb | |
erkennt das Ministerium den Begriff nicht an, er vertrage sich nicht mit | |
der Verfassung. So wird aus Silvio Walthers Gewissensentscheidung ein | |
verfassungsfeindlicher Akt. | |
Dementsprechend wirft das für Walther zuständige Truppendienstgericht Süd | |
in einem Beschluss, der der taz vorliegt, dem Verweigerer vor, er stelle | |
seine Argumente lediglich als seine Gewissensentscheidung dar. Wer so | |
widerspenstig ist, kann kein Gewissen haben. | |
Das ist der Umgang mit einem Thema, das die Bundeswehr bis heute | |
herausfordert: Junge Männer, die auf ein Recht pochen, keinen Kriegsdienst | |
- weder Wehr- noch Ersatzdienst - zu leisten. Gar nichts. Keine Waffen. | |
Kein Gelöbnis. Und die dafür in den Knast gehen. 2007 gab es drei von | |
ihnen. 2008 auch. Derzeit gibt es nur einen einzigen Totalverweigerer: | |
Silvio Walther. | |
Es wird immer wieder junge Männer wie ihn geben. Ihnen drohen | |
Strafverfahren, Sozialstunden, Geldbußen, Freiheitsstrafen. Im Höchstfall | |
bis zu drei Jahre wegen Gehorsamsverweigerung. Bis zu fünf Jahre wegen | |
Fahnenflucht. Es wirkt bizarr, wie treffsicher Walthers Geschichte eine | |
Geschichte des Rückgrats ist. Statt zur Truppe steht er treu zu sich. Und | |
sagt: "Mit jedem meiner Arreste wird das Interesse der anderen Soldaten an | |
meiner Haltung größer." | |
Auf seiner Stube könnte er jetzt viel erzählen. Von vier Wochen | |
"eigenmächtiger Abwesenheit", wie er es nennt, mit der er auf den Vorfall | |
in Berchtesgaden aufmerksam machen wollte. Er könnte auch erzählen, dass er | |
nun nachts meist wach liegt, oft nur noch zwei Stunden schläft. Und von der | |
Unterstützung, die er durch seinen Freund Alexander Hense erfährt. Der | |
Totalverweigerer aus dem letzten Jahr hat ihn gestern noch besucht. | |
Hat Walther Zweifel? "Nein, die gibt es nicht. Das Militär kann mich nicht | |
mehr erziehen. Ich nehme das hier mit Humor." | |
Dreimal hat er für seine Art von Humor schon eingesessen. Erst 7, dann 10, | |
dann 14 Tage war er in der Einzelzelle. Wenn er an diesem Donnerstagabend | |
durch Bad Reichenhall zur General-Konrad-Kaserne geht, vorbei an den | |
Seniorenresidenzen und Kurvillen, wandert er in den nächsten Arrest. | |
Weitere 21 Tage, wieder wegen Befehlsverweigerung. Walther fordert seine | |
sofortige Freilassung. Doch die Verurteilung wegen eigenmächtiger | |
Abwesenheit steht noch aus. Dann könnten weitere 21 Tage auf ihn warten. | |
Danach hätte er 73 Tage Disziplinarhaft hinter sich, beinahe doppelt so | |
viel, wie es ein Erlass des Bundesverteidigungsministeriums vom April | |
vorsieht: 42 Tage sollen solche wie Walther mindestens per Arrest | |
diszipliniert werden - um ihr Gewissen zu prüfen. Ob erfolgreich oder nicht | |
- danach könnten sie entlassen und an den Staatsanwalt übergeben werden. | |
Bei Silvio Walther besteht noch Hoffnung: Disziplinieren soll ihn die Zeit | |
in Einzelhaft, zurückbringen auf den Boden des Grundgesetzes. Zurück auf | |
den rechten Weg. Das wäre der Weg zurück in die Kompanie. | |
Silvio Walther lässt das Kasernentor hinter sich ins Schloss fallen. Jetzt | |
geht er weiter. Er dreht sich nicht mehr um. Auf der regennassen Straße | |
spiegelt sich der Schein der Straßenlaternen. Die Figur des Deserteurs wird | |
kleiner. Er biegt ums Eck. | |
Seit gestern sitzt er wieder in Einzelhaft. Als sei Silvio Walther noch zu | |
disziplinieren. | |
19 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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