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# taz.de -- Kirche quält Kinder: Fliesenschrubben mit der Zahnbürste
> Fußtritte, Schläge, Demütigungen, Vergewaltigungen: Misshandlungen waren
> in kirchlichen Kinderheimen in den 50er und 60er Jahren üblich. Das zeigt
> eine Studie der hannoverschen Landeskirche
Bild: Ihr Kinderlein kommet: In kirchlichen Erziehungsheimen wurde gequält, ge…
Es reichte schon, die Schule zu schwänzen. Auch nach einem kleineren
Diebstahl gerieten Kinder im Nachkriegsdeutschland schon ins Visier der
Fürsorgeerziehung. Jugendliche wurden wegen Lappalien aus den Familien
gerissen und in Kinderheime eingewiesen.
Ein von der hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann angeregtes Projekt
der Diakonie unter dem Titel "Gewalt und Unrecht in der Heimerziehung der
50er und 60er Jahre" erforscht nun, was die Jugendlichen in solchen
Einrichtungen durchgemacht haben: Fußtritte, Schläge, Demütigungen und
sogar Vergewaltigungen seien nicht "bedauerliche Einzelfälle", sondern die
Regel gewesen.
Projektleiter Hans Bauer hat in neun Einrichtungen der evangelischen Kirche
in Niedersachsen recherchiert.
Ehemalige Heimkinder hätten ihm vom sexuellen Missbrauch durch das Personal
der Einrichtungen berichtet, sagte Bauer. "Da vergingen sich Erzieherinnen
an 13-jährigen Jungen und umgekehrt noch häufiger Erzieher an Mädchen. Da
ist beides geschehen." Männer, die heute im Rentenalter seien, hätten ihm
unter Tränen das ihnen zugefügte Leid geschildert.
In der Diakonie Freistatt, die bis heute mehrere Standorte in Niedersachsen
unterhält, landeten die hartnäckigen Fälle: Jugendliche Kriminelle ebenso
wie "Wegläufer", die mehrfach nach Hause geflüchtet waren. Die Insassen
sollten "ans Arbeiten gewöhnt" werden und für ihren Lebensunterhalt selbst
aufkommen - durch Schwerstarbeit: Torfstechen. Unbezahlt schufteten die
jungen Männer. Wer nicht genug schaffte, kassierte Hiebe.
Wolfgang Rosenkötter, der mit 16 Jahren nach Freistatt kam, berichtet von
den Misshandlungen der Aufseher. Im Tagesraum stand ein Billardtisch. Die
jungen Männer mussten im Entengang um den Tisch watscheln, bis sie
umkippten. Wenn sich einer aufrichtete, schlugen ihm die Aufseher den
Rücken blutig. Über eine weitere Variante der Demütigungen berichtet Bauer:
"Heiminsassen mussten Fliesen mit der Zahnbürste schrubben oder wurden
tagelang in fensterlose Verliese eingesperrt." Weitere Schikanen:
entwürdigende Behandlungen von Bettnässern. Außerdem, sagt Bauer, habe man
den Jugendlichen im Heim auch ihre Bildungsmöglichkeiten genommen, ihr
Recht auf freie Berufswahl und ihr Briefgeheimnis missachtet.
Die Täter, sagt Rüdiger Scholz von der Diakonie Freistatt, waren meist
nicht älter als die Opfer: Jungdiakone, die ihre Ausbildung absolvierten.
Immerhin: Die Diakonie Freistatt hat sich ihrer Vergangenheit gestellt. Ein
Buch über dieses dunkle Kapitel ist in Arbeit. Ehemalige Insassen werden
aktiv in die aktuelle Arbeit eingebunden und unterstützen die heutigen
Heimkinder als Vertrauenspersonen.
Einige der damaligen Jungdiakone sind bereit, sich mit den Insassen von
einst an einen Tisch zu setzen. Einer gestand: "Ja, mir ist die Hand
ausgerutscht."
Mit dem Schuldeingeständnis der Ehemaligen sieht Scholz von der Diakonie
jedoch keine Entschädigungen verknüpft: "Das muss auf politischer Ebene
diskutiert werden." Behörden und Gerichte, die die Jugendlichen in den
Einrichtungen untergebracht haben, seien hier auch involviert. Für die
juristische Aufarbeitung ist es oft zu spät.
Regina Eppert vom Verein ehemaliger Heimkinder begrüßt, dass die
kirchlichen Träger ihre Geschichte aufarbeiten. "Aber es kommt zu wenig bei
uns persönlich an", findet sie. Statt weiterer Studien wünscht sie sich
eine öffentliche Entschuldigung. Sie selbst bemüht sich schon seit langem
um ein Gespräch mit Erzbischof Zollitsch, dem Vorsitzenden der Deutschen
Bischofskonferenz. Eine Antwort erhielt sie nie. "Klar", sagt Eppert,
"vielen geht es auch um eine Abfindung." Viele der Opfer leben bis heute in
Armut, Rentenversicherungen rechnen die Zwangsarbeit nicht an.
Das Bistum Osnabrück hat indessen eine Umfrage in seinen
Jugendhilfeeinrichtungen gestartet. In fünf Heimen stießen die Katholiken
auf drei Fälle, in denen ehemalige Insassen mit Vorwürfen zurückkehrten. In
einem Fall wurde eine deutliche Entschuldigung ausgesprochen, in den
anderen hatten sich die Vorwürfe im Gespräch "nicht erhärtet", sagt
Bistumssprecher Roland Knillmann. Das dunkle Kellerverlies, das die
betroffene Person in ihrer Erinnerung quälte, habe es in dem Gebäude nie
gegeben, wie sich bei einem gemeinsamen Rundgang zeigte. Knillmann: "Hier
ist wichtig, dass man die Leute ernst nimmt und ihnen zuhört. Aber man kann
sich nicht für etwas entschuldigen, was nie passiert ist."
15 Sep 2008
## AUTOREN
Annedore Beelte
## TAGS
Heimerziehung
Katholische Kirche
Bankraub
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