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# taz.de -- Häftlinge mit psychischen Störungen: Der Gesundheitsentzug
> Bei der psychologischen Behandlung von Häftlingen versagt das
> Justizsystem. Sie bleiben sich selbst überlassen - keine gute
> Voraussetzung für die Resozialisierung.
Bild: Für Therapien fehlt das Personal.
Maik M. lebt wieder. Auf der Intensivstation haben sie ganze Arbeit
geleistet. Das war vor einem Monat und nun kann er darüber reden. Eine
Abschieds-SMS habe er getippt, dann 8.700 Milligramm des Antidepressivums
Doxepin geschluckt, mit zwei Flaschen Bier runtergespült, dann aufs Sofa,
noch einmal umgeschaltet mit der Fernbedienung und weg war er. Genauso
redet er darüber. Sein Psychiater sagt, Maik wollte ernsthaft sterben und
dass seine Persönlichkeitsstörung schuld daran sei, seine Impulsivität und
sein verzerrtes Selbstwertgefühl. Und dann sagt der Arzt noch: "Hätte man
ihn im Gefängnis vor seiner Entlassung psychiatrisch behandelt, hätte man
ihm Mittel an die Hand gegeben, mit seinen Problemen umzugehen, dann - das
glaube ich fest - wäre es nicht so weit gekommen."
Aber im Knast gab es keine Hilfe für den verurteilten Drogenhändler. So wie
es für viele psychisch kranke Straftäter keine Hilfe gibt. Eine in
Deutschland bislang einmalige empirische Untersuchung hat ergeben, dass 88
Prozent aller inhaftierten Straftäter an einer psychischen Erkrankung
leiden. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um Gefangene, die schuldunfähig
sind und zum Schutz der Allgemeinheit im Maßregelvollzug untergebracht
werden. Die Studie untersuchte, wie viele Gefängnisinsassen zum Nervenarzt
müssten oder eine adäquate psychiatrische Versorgung bräuchten.
Die Daten wurden durch ein Forscherteam des Aachener Uniklinikums und des
Bielefelder Zentrums für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin in
der nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt Brackwede I gesammelt.
Die Ärzte und Psychologen studierten in den Jahren 2002 und 2003 die Akten
von 139 zufällig ausgewählten männlichen und weiblichen Insassen, befragten
sie anschließend anhand standardisierter Fragebögen und klassifizierten die
Ergebnisse nach international gültigen Systemen.
Die Ergebnisse seien alarmierend, sagt Frank Schneider, der Präsident der
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN) und Mitautor der Studie ist (siehe Interview). Die Zahlen
übertreffen die Vergleichsdaten der Allgemeinbevölkerung je nach
untersuchter Erkrankung um das Drei-, Vier-, teilweise um das Siebenfache.
Über 70 Prozent der Inhaftierten litten an "substanzbezogenen Störungen",
wobei die Männer eher alkohol- und die Frauen eher opiatabhängig waren.
Etwa ein Drittel aller Gefangenen wies Angststörungen auf. Bei den Frauen
nahmen hier posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) mit über 30 Prozent
eine herausragende Stellung ein. Auch in der Gruppe der psychotischen
Störungen (beispielsweise Schizophrenie) und der affektiven Störungen
(Depressionen) lag die Häufigkeit einer Erkrankung massiv höher als in der
Normalbevölkerung.
Bei 83 Prozent der Gefangenen bestehe direkter, fachspezifischer
Behandlungsbedarf, der "bisher im Strafvollzug nicht oder nur unzureichend
befriedigt wird", so ein Ergebnis der Studie. Bezogen auf die im
Untersuchungszeitraum in NRW einsitzenden 16.400 Straftäter kommt die
Untersuchung auf knapp 8.000 Gefangene, die eine therapeutische Behandlung
nach den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen
Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) brauchen - und auch wollen.
Dem gegenüber steht ein verschwindend geringes Angebot. Dazu zählen in NRW
heute rund 177 Sozialtherapiehaftplätze und 502 Plätze in den
Drogenabteilungen der JVAs sowie 30 Betten in der Psychiatrischen Klinik
des Justizvollzugskrankenhauses Fröndenberg. Wie viele Straftäter sich
darüber hinaus in einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen
Behandlung in anderen Fachkliniken oder bei niedergelassenen Ärzten
befinden, ist statistisch nicht erfasst. Aber die Erfahrungen der
Wissenschaftler lassen den Schluss zu, dass es sich um Einzelfälle handelt.
Die Zahlen sind aussagekräftig für den Strafvollzug in ganz Deutschland.
Die Ergebnisse bestätigen eine Studie aus dem Jahr 1996, die den Anteil
stationär psychiatrisch behandelter Inhaftierter in zehn Bundesländern auf
unter 1 Prozent beziffert. Neben dem Justizministerium in Düsseldorf
verzeichnet man auch in anderen Bundesländern eine hohe Zahl und sogar
einen Anstieg an psychisch auffälligen Gefangenen. Darauf reagierte zum
Beispiel Hessen im vergangenen Oktober mit der Einrichtung von 40
zusätzlichen Betten in der JVA Weiterstadt. Auf der letzten
Justizministerkonferenz spielte das Thema allerdings nur am Rande eine
Rolle - die Politiker reagieren behäbig; eine statistische Erfassung aller
Behandlungsfälle wird bislang in keinem Bundesland für nötig gehalten. In
NRW selbst kam es nach der Studie zu einer Anhörung der Verfasser vor dem
Rechtsausschuss des Landtags. Die Justizverwaltung hatte laut
Ministeriumssprecher die Anregungen seinerzeit mit sehr großem Interesse
aufgenommen. Derzeit wird geprüft, ob die psychiatrische Abteilung in
Fröndenberg weiter ausgebaut werden kann.
"Die Verhältnisse sind schlimm", sagt Carl-Ernst von Schönfeld, der als
leitender Arzt der Tagesklinik Bielefeld-Bethel die Studie mit konzipiert
und durchgeführt hat. Von Schönfeld arbeitet seit 17 Jahren als
Konsiliarpsychiater in Brackwede I. Er wird vom Anstaltsarzt bei akuten
Krisen hinzugezogen und bietet Sprechstunden in der JVA an. Brackwede I sei
eine Ausnahme. Generell könne man sagen, dass der medizinische Dienst in
den Anstalten seit etwa fünf Jahren kontinuierlich zusammengestrichen
worden ist. Das trifft alle kranken Gefangenen, die mit psychischen
Störungen aber besonders. Aus ärztlicher Sicht untragbar, sagt von
Schönfeld: "Die Leute sind zum Freiheitsentzug und nicht zum
Gesundheitsentzug verurteilt."
Die "Verrückten" stünden in der Knasthierarchie ganz weit unten. Das, was
sie dringend bräuchten, nämlich menschliche Kontakte, Beschäftigung,
Ansprache, werde ihnen meistens verwehrt, sagt von Schönfeld. Die Beamten
hätten sich daran gewöhnt, dass sie "nicht richtig ticken" - und so würden
die Frühwarnzeichen bei Schizophrenen oft nicht erkannt. Sie würden hinter
den Gefängnismauern sogar für normal gehalten. Das sei der eigentliche
Skandal. Beispielhaft erzählt von Schönfeld von seinem ersten Patienten:
"Dieser junge Mann war schon seit etlichen Monaten inhaftiert. Der Punkt,
dass er mir vorgestellt wurde, war erst erreicht, als er sich komplett mit
Klopapier eingewickelt hatte. Er sagte, er wolle seine Schatten bei sich
behalten." Der Mann hätte sich schon seit Wochen nicht mehr bei der
Freistunde blicken lassen und sich völlig zurückgezogen. Solange er seine
Mahlzeiten angenommen habe, hätten die Vollzugsbeamten in diesem Verhalten
gar nichts Gestörtes gesehen. Erst als er da stand, ganz in Klopapier.
Selbst wenn ein Allgemeinmediziner in der Anstalt rechtzeitig feststellt,
dass psychiatrischer Handlungsbedarf besteht, verhindert das Justizsystem
die nötigen Schritte. Schneider, der selbst als Konsiliararzt über fünf
Jahre lang in Düsseldorf gearbeitet hat und heute die Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie am Aachener Uniklinikum leitet, geht so
weit, zu sagen: "Ich bin der festen Überzeugung, dass den Patienten mit
psychischen Erkrankungen im Strafvollzug die adäquate Diagnostik und
Behandlung verweigert wird." Oft sei es aus juristischen Gründen nicht
möglich oder zu kompliziert, einen Gefangenen aus dem Vollzug zu holen und
in eine Fachklinik zu bringen. Oft werde ein Patient vom psychologischen
Dienst betreut, der aber meist keine leitliniengerechte Therapie
durchführen könne. Psychiater mit eigenen Sprechstunden wie in Brackwede I
seien die absolute Ausnahme. Und Seelsorger, Sozialarbeiter oder Pädagogen
seien nicht im Ansatz in der Lage, mit handfesten Persönlichkeitsstörungen,
Psychosen oder Depressionen umzugehen.
Die Gefangenen lassen die Verhaltensauffälligen links liegen. "Das kennt
man schon", sagt Udo, ein 31-jähriger Gefangener aus Block A in Brackwede
I. "In Zelle 43 haben wir auch so einen, der liegt den ganzen Tag nur rum."
Aber Udo - schlechte Zähne, knopfgroße Pupillen - hat seine eigenen
Probleme. Er muss jeden Tag "auf die Jagd gehen" nach Heroin. Notfalls geht
auch die Ersatzdroge Subotex. Sein ganzes Geld, 150 Euro, gehen dabei im
Monat drauf. Der Markt wird durch den Besuchsverkehr mit praktisch allem
versorgt. "Da kann ich mich nicht noch um andere kümmern."
Udo gehört zu der großen Gruppe suchtkranker Häftlinge, die ebenfalls
bessere Therapieangebote dringend brauchen. In NRW sind von aktuell 17.760
Insassen laut Ministerium 8.140 Gefangene drogensüchtig. Bundesweit kann
man davon ausgehen, dass zwischen einem Viertel und der Hälfte aller rund
73.000 Häftlinge von Alkohol oder illegalen Drogen abhängig sind. Für die
Aachener und Bielefelder Forscher ist das deshalb brisant, weil laut ihrer
Studie die sogenannte Komorbidität extrem hoch ist. Das bedeutet: Es gibt
eine sehr große Schnittmenge von Straftätern mit Persönlichkeitsstörung und
Drogensucht. Genauer gesagt litten in Brackwede I die meisten Untersuchten
statistisch an mindestens drei Erkrankungen gleichzeitig.
So wie der 50-jährige Maik M., der den enormen Suchtdruck während der
21-monatigen Haft nach eigener Aussage unter anderem mit Schokoriegeln und
sechs Litern Kaffee am Tag befriedigt hat. "Das war meine Therapie, wenn
man so will." Ihm selbst war nicht bewusst, dass seine permanenten
Schuldgefühle, seine Antriebslosigkeit und die bohrenden Selbstzweifel
Ausdruck einer behandlungswürdigen Persönlichkeitsstörung waren. "Dass bei
mir was nicht stimmt, habe ich erst draußen gemerkt. Im Knast hatte ich
mich zurückgezogen und die Devise lautete: Augen zu und durch."
Die Ergebnisse der Studie haben die Anstaltsleitung in Brackwede I nicht
sonderlich überrascht. Der stellvertretende JVA-Chef Oliver Burlage sagt,
er hätte sogar ähnliche Zahlen getippt. Die hohe Zahl der Drogensüchtigen
sei durch eigene Erhebungen des anstaltseigenen Suchtberaters ohnehin
bekannt. "Natürlich fallen uns psychisch Kranke auf. Zum Beispiel durch die
selbstgewählte Isolation, aber auch durch aggressives Verhalten oder durch
mangelnde Hygiene." Ein Team aus Psychologen, Seelsorgern und
Sozialarbeitern stehe auch zur Verfügung: "Wenn der Gefangene etwa in die
Suizidalität kippt, dann treffen wir Sicherheitsmaßnahmen, um ihn vor sich
selbst zu schützen."
Sicherheitsmaßnahmen, damit ist in der Regel der besonders gesicherte
Haftraum gemeint, im Justizjargon kurz "BgH". Sondieren und beruhigen,
meistens mit Medikamenten. Dass die Möglichkeiten der Krisenintervention
aber noch lange nicht die nötige psychiatrisch-psychotherapeutische
Versorgung sichert, räumt Burlage auch ein. Das sei schließlich auch eine
Frage der zur Verfügung stehenden Mittel. In NRW würde schon sehr viel für
den Strafvollzug getan, aber: "Der Bevölkerung ist schwer zu verkaufen,
dass Millionen in die Gefängnisse gesteckt werden und möglicherweise dafür
auf der anderen Seite keine Lehrer eingestellt und keine Kitaplätze
geschaffen werden."
Es versucht auch keiner, der Bevölkerung irgendetwas zu verkaufen. Frank
Schneider kommt zu dem trockenen Fazit: "Psychisch Kranke haben in unserer
Gesellschaft keine Lobby. Psychisch kranke Straftäter erst recht nicht."
Dabei würde die Gesellschaft unmittelbar von einer Verbesserung der
Verhältnisse profitieren, sagt Carl-Ernst von Schönfeld. Stünden
ausreichend therapeutische Ansätze zur Verfügung, ließe sich die
Rückfallquote um ein Drittel senken. Ein Drittel weniger Straftaten, ein
Drittel weniger neue Opfer. Im Zeitraum 1994 bis 1999 sind 14.659
Straftäter durch Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz rückfällig
geworden - mehr als 50 Prozent.
Maik M. durchlitt seine erste Panikattacke, als er mit zwei Kartons vor dem
Gefängnistor stand und auf seine Frau gewartet hat. Dann habe er in der
Folgezeit alle Suchthilfeangebote der Umgebung abgeklappert. Eine Beraterin
steckte ihn in eine Alkoholiker-Selbsthilfegruppe. "Was sollte ich da? Ich
war nackt wie ein Baby und habe schreiend nach Hilfe gesucht. Diese Männer
haben überhaupt nicht verstanden, wovon ich rede." Seine Familie brach
auseinander, an seinem neuen Arbeitsplatz fehlte irgendwann ein Portmonee,
dann wieder eine Attacke, mitten in der Menschentraube an der
Bushaltestelle und dann haben sie ihn wieder mit Amphetaminen erwischt. Die
Kosten-Nutzen-Rechnung fällt in seinem Fall sehr einfach aus: Eine
psychiatrische Behandlung seiner Krankheit hätte ihn vor dem
Selbstmordversuch bewahrt.
7 Feb 2009
## AUTOREN
Lutz Bernhardt
## TAGS
Schwerpunkt Thüringen
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