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# taz.de -- Suhrkamp-Verlag zieht nach Berlin: Mal Bürger, mal Revoluzzer sein
> In der Hauptstadt pflegt man die Verknüpfung von Internetboheme und
> besseren preußischen Traditionen. Diese Kombination ist für die
> Neuerfindung des Verlags attraktiv.
Bild: Suhrkamp möchte seine AutorInnen da abholen, wo sie schon sind: In der K…
Das Nicolaihaus in der Berliner Brüderstraße ist 338 Jahre alt. 1670 wurde
das barocke Wohnhaus südlich des Stadtschlosses errichtet - überhaupt ist
die Immobilie gut geeignet, bildungsbürgerliche Gelehrsamkeit zu
demonstrieren. Im 18. und 19. Jahrhundert trafen sich hier Berliner
Aufklärung und Romantik. Schadow, Mendelssohn, Lessing, Schinkel, Nicolai -
alle dabei. Eine zurückhaltende Fassade, dahinter die schöne Pracht
großbürgerlicher Verhältnisse. Hier soll ab 2010 also der Suhrkamp Verlag
residieren. Noch ist zwischen Verlag und Berlin nicht alles geklärt. Aber
so ist es gedacht. Zu der klaren Formenstrenge der bundesrepublikanischen
Nachkriegsmoderne im jetzigen Stammsitz in der Frankfurter Lindenstraße
bildet das Nicolaihaus einen starken Kontrast.
Von dem Umzug des Suhrkamp Verlags nach Berlin gehen unterschiedliche
Signale aus, die auf den ersten Blick kaum auf einen Nenner zu bringen
sind. Auf der einen Seite ist von Neubeginn und Neuerfindung die Rede,
davon, Anschluss an das Labor Berlin finden zu wollen und dorthin zu gehen,
wo kulturell am meisten los ist. Die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz
präsentiert sich diesbezüglich als gar nicht in einem Gegensatz, sondern in
direkter Nachfolge des Verlagspatriarchen Siegfried Unseld stehend. In
einem Interview mit der FAZ zitierte sie am Samstag einen Brief Unselds, in
dem es heißt: "Was Berlin heute vielleicht noch nicht ist, wird es in
Zukunft werden: der entscheidende Mittelpunkt deutscher Kultur in allen
Bereichen." Auch Siegfried Unseld prüfte bereits Pläne für einen Umzug,
Ulla Unseld-Berkéwicz legt nun nahe, dass er sie nur deshalb nicht
ausgeführt hat, weil die Zeit noch nicht reif war.
Das alles folgt der Erzählung, dass Suhrkamp stets vornedran am Puls der
Zeit zu stehen habe. Auf der anderen Seite gibt es das Signal Nicolaihaus,
und das folgt ganz anderen Erzählungen. Suhrkamp zieht eben offenbar
keineswegs in eines der angesagten Viertel, die tatsächlich als soziales
Labor funktionieren, sondern in einen touristisch bereits erschlossenen,
intellektuell aber durchaus noch zu besiedelnden Bereich in der Nähe des
bald wohl neu entstehenden Stadtschlosses. Dies Signal steht dafür, sich in
historische Kontexte einfinden, Anschluss an das finden zu wollen, was man
als die besseren deutschen Traditionen bezeichnen könnte.
Berlin zu verstehen heißt nun zu begreifen, dass diese unterschiedlichen
Signale gar keinen Gegensatz bilden. Eine jede Institution bastelt sich
hier ihren ganz eigenen Identitätsmix zusammen, bestehend aus verschiedenen
Anteilen Avantgardebewusstsein und Tradition. So wie der Freistaat Bayern
sein "Laptop und Lederhosen" pflegt man in der Hauptstadt die Verknüpfung
von Internetboheme und Gründerzeit- oder Preußenambiente. Man schwadroniert
davon, Deutschland durch restaurierte Schlossfassaden wieder eine Mitte zu
geben, möchte aber auf gar keinen Fall konservativ erscheinen und packt
hinter die Fassaden ein betont weltmännisch ausgerichtetes Humboldt-Forum.
Man lebt von Projekt zu Projekt und bloggt sich arm, aber sexy ins
kulturelle Leben hinein, tut das aber inzwischen hinter hübsch renovierten
Altbaufassaden.
Wer der Berliner Republik Böses wollte, als sie Ende der Neunzigerjahre
heiß diskutiert wurde, sprach von Verbürgerlichung und meinte Restauration.
In Wahrheit steht die gelebte Berliner Republik inzwischen dafür, dass man
sich hier zwischen Bürgerlichkeit und Bohemeleben gar nicht recht zu
entscheiden braucht; man kombiniert einfach Elemente aus beidem. Diese
Freiheit der Kombination ist es, die ein aktuelles Berliner Lebensgefühl
ausmacht.
Gerade diese Bastelei scheint, wenn man beide Signale zusammennimmt, auch
für die Führung des Suhrkamp Verlags attraktiv zu sein. In ihrem
Nicolaihaus kann sie nun an die bildungsbeflissene Salonkultur früherer
Zeiten anknüpfen. Aber genauso gut kann sie hier auch einen revolutionären
Salonavantgardismus zelebrieren. Und was derzeit wohl nur in Berlin geht:
Sie kann auch mal das eine und mal das andere machen. Dabei soll sich
offenbar mit der Zeit eine neue Suhrkamp-Kultur herausmendeln.
9 Feb 2009
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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