Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Frauenmorde in Tschetschenien: Tödliche Traditionen
> In Tschetschenien werden immer wieder Frauen umgebracht, weil sich Männer
> durch ihr Verhalten "beleidigt" fühlen. Der Menschenrechtsbeauftragte
> gibt den Opfern die Schuld, weil sie gegen einen Kodex verstossen hätten.
Bild: Sollen sich an einen patriachialen Verhaltenskodex halten: tschetschenisc…
Drei Frauenleichen wurden im Staropromyslowskij-Stadtteil Grosnys gefunden,
zwei weitere Tote lagen in der Nähe eines verlassenen Kindergartens an der
Straße von Grosny nach Schatoj, die sechste Leiche auf der Straße unweit
der Ortschaft Petropawlowsk. Alle waren mit gezielten Schüssen in Kopf und
Brust getötet worden. Die Patronenhülsen lagen direkt neben ihnen auf dem
Boden.
Zwei Tage später wurde unweit des Dorfs Engena im Bezirk Gudermes eine
siebte Frauenleiche entdeckt. Sie war teilweise verkohlt. Auch diese junge
Frau war mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe buchstäblich hingerichtet
worden. Die Ermittlungsbehörden haben ihre Arbeit aufgenommen. Ergebnisse
gibt es noch nicht.
"Leider haben bestimmte Frauen bei uns vergessen, dass für Frauen der
Bergvölker ein Verhaltenskodex gilt. Und so kommt es gelegentlich vor, dass
deren Verwandte, Männer, die sich durch das Verhalten der Frauen beleidigt
fühlen, Lynchjustiz üben." Dies war der Kommentar des
Menschenrechtsbeauftragten Tschetscheniens, Nurdi Nuchaschiew, zu den
Morden an sechs jungen Frauen Ende November 2008.
Warum fiel dem Menschenrechtsbeauftragten in Tschetschenien zu dieser
schrecklichen Tragödie nur ein, die Frauen hätten den "Verhaltenskodex von
Frauen der Bergvölker" vergessen? Warum fand er nicht ein einziges Wort
Mitleid für die getöteten Frauen?
Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow fand kritischere Worte: "Die Taten
der Mörder lassen sich durch keinerlei Traditionen rechtfertigen. Weder in
unserem Volk noch im Islam gibt es Traditionen, die derartiges
rechtfertigen würden", sagte er bei einer gemeinsamen Sitzung von
Ministerrat und den Chefs der einzelnen Rayone, den Bezirken. Deswegen
werde er "immer wieder dazu aufrufen, verstärkt prophylaktisch zu arbeiten.
Die spirituelle und moralische Erziehung sowie eine gesunde Entwicklung der
Gesellschaft müssen verstärkt gefördert werden."
Zwei Monate zuvor jedoch hatte der Präsident noch ganz anders geklungen:
"Eine Frau muss wissen, wo ihr Platz ist. Sie muss uns ihre Liebe schenken.
Der Mann ist ihr Eigentümer. Wenn eine Frau bei uns über die Stränge
schlägt, wird sie von den Verwandten getötet. So sind unsere Sitten. Dass
ein Bruder seine Schwester, ein Mann seine Frau tötet, das kann vorkommen.
Als Präsident darf ich es nicht tolerieren, dass sie töten. Dann sollen
aber die Frauen auch bitte keine Shorts tragen", sagte er in einem
Interview mit der Zeitung Komsomolskaja Prawda.
Mit "moralischer Erziehung" will Kadyrow gegen Frauenmorde angehen. Was er
darunter verstehen mag, kann man in einem Interview auf seiner
Internetseite nachlesen: "Heute beunruhigt mich die Kleidung unserer jungen
Frauen sehr. Mitunter steht eine Braut vor dem Bräutigam, der
Schwiegermutter, den Verwandten des Ehemannes, entschuldigen Sie bitte,
fast nackt da, ohne jegliche Kopfbedeckung. Und auf den Straßen sieht man
Frauen in Miniröcken und offenem Haar. Die Mentalität unseres Volkes lässt
Derartiges nicht zu." Er wünsche sich, dass "eine junge tschetschenische
Frau auch von ihrem Äußeren her als echte Muslimin erkennbar ist, sie sich
an die Sitten und Traditionen ihres Volkes hält". Eine Vorstellung, wie
dieser Wunsch erfüllt werden kann, hat er bereits: "Derzeit plant der
Jugendausschuss bekannte Textildesigner zu beauftragen, die einheitliche
Schuluniformen entwerfen sollen." Die Frau ist also Eigentum des Mannes und
hat ihn glücklich zu machen. Sie soll sich aber hüten, ihn zu kritisieren.
Und sie sollte auch keinen Gewaltakt durch das Tragen von Shorts
provozieren. Ich selbst habe übrigens noch nie eine Tschetschenin in Shorts
gesehen.
Gleichzeitig kann der Mann mehrere Frauen haben. Und wenn sich eine von
ihnen unbotmäßig verhält, kann er sie verstoßen und eine neue Frau
erwerben. Frauen sollen sich in ihr Los finden, zu Hause bleiben, sich ganz
dem Haushalt widmen und nicht das Feuer, hier sogar im direkten und nicht
im übertragenen Sinn des Wortes, auf sich ziehen.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass ein schrecklicher Krieg in
Tschetschenien wütete, Dörfer und Städte bombardiert wurden, Menschen dabei
ihr Leben verloren. Junge Männer wurden bei den sogenannten
Säuberungsaktionen mitgenommen, ohne dass man sich dafür interessiert
hätte, ob sie schuldig oder unschuldig waren. Man folterte und tötete die
Verschleppten. Damals waren es Frauen, die sich der Willkür und den Panzern
entgegengestellten. Sie harrten stundenlang vor den Büros der Staatsanwälte
und Kommandeure aus, um die eigenen Söhne, Männer und Brüder zu retten.
Eine dieser Frauen ist Zejnab Goschajewa. Sie war unter denjenigen, die
Meetings gegen den Krieg organisierten. Wieder und wieder kehrte sie nach
Tschetschenien zurück, um dann vor der Welt zu bezeugen, was passiert war.
Auch Eliza Musajewa, Lida Jusupowa und Lipchan Basajewa waren dabei: In den
Kriegsjahren haben sie Beratungsstellen aufgebaut, sich während der
"Säuberungsaktionen" bewaffneten und alkoholisierten Militärs in den Weg
gestellt. Sie sagten den höchsten Vertretern des Staates die Wahrheit
direkt ins Gesicht. Natascha Estemirowa gehört ebenfalls zu diesen
furchtlosen Frauen. Damals reiste sie eigens nach Moskau, um Bilder der
Zerstörungen, der Morde und Gräber zu veröffentlichen. Dieselbe Natascha
Estemirowa ist es, die der tschetschenische Präsident vor Kurzem aus dem
Gesellschaftlichen Rat für die Menschen- und Freiheitsrechte gejagt hat.
Der Grund: In einem Fernsehinterview soll sie gesagt haben, dass sie auch
an öffentlichen Plätzen nicht immer ein Kopftuch trage.
Es waren Frauen, die ihre Familien aus dem Bombenhagel in andere Gebiete
Russlands brachten. Es waren Frauen, die ihre Familie versorgten, Stunden
in der Kälte auf dem Markt standen. Dort handelten sie Gemüse, reinigten
Bushaltestellen oder wuchteten riesige Mülltonnen über das Marktgelände.
Zugleich trauten sich die Männer oftmals nicht vor die Haustür, weil sie
Angst hatten. Angst davor, man könnte ihnen Rauschgift, Waffen oder
Sprengstoff in die Taschen stecken und sie mithilfe dieser manipulierten
Beweismittel anklagen.
Tschetschenische Frauen müssen auch noch etwas anderes erdulden: die
"kaukasische Sitte" des Brautdiebstahls. Die junge Frau wird auf der Straße
entführt, man schlägt ihren Kopf auf den Asphalt, und wenn sie dann in das
wartende Auto gesteckt wird, hat sie oft schon das Bewusstsein verloren.
Wenig später wacht sie im Haus ihres künftigen Ehemannes auf. Sie wird
wenig von dem begreifen, was mit ihr passiert ist. Doch sie kann sich
sicher sein, dass ihr keiner helfen wird.
Eines Tages suchte mich eine Frau in meiner Beratungsstelle auf und
erzählte mir von Erniedrigungen an ihrem Arbeitsplatz. "Jeden Augenblick
können junge bewaffnete Männer in mein Dienstzimmer eindringen, um sich
davon zu überzeugen, ob die jungen Frauen um mich herum auch wirklich ein
Kopftuch und keine zu freizügige Kleidung tragen. Auch ich bin von deren
Aufforderungen nicht geschützt. Noch nie habe ich es erlebt, dass sich
fremde Männer mir gegenüber so verhalten. Dabei bin ich älter als sie und
habe eine höhere Position inne." Auf einmal erkenne ich die Angst in ihren
Augen.
"Bitte nennen Sie auf keinen Fall meinen Namen, bitte geben Sie dieses
Gespräch niemandem weiter. Denn dann stehe ich auch auf deren Liste." Ich
habe dieser Frau versprochen zu schweigen. Und ich habe geschwiegen über
all die jungen Frauen, die entführt und dann zwangsverheiratet worden sind.
Ich redete nicht über Mütter, deren minderjährige Mädchen entrissen worden
sind. Sie konnten sich nicht an die offiziellen Vertreter des Staates
wenden. "Niemand hilft dir", sagte mir eine Mutter, "die heiraten doch
selbst Minderjährige."
Doch jetzt kann ich nicht mehr schweigen, weil ich glaube, dass diese
sieben Frauen von ihren Familien ermordet worden sind, wenngleich sich das
derzeit nicht belegen lässt. Ich kann nicht mehr einfach schweigen, weil
ich die zahlreichen Reaktionen der tschetschenischen Gesellschaft auf diese
Morde gesehen und auf Internetseiten gelesen habe. Und es macht mir Angst,
wenn ich an diejenigen denke, die ich in den vergangenen Jahren lieben
gelernt habe.
Ihnen gebührt Freiheit der Persönlichkeit, unabhängig von Geschlecht,
Glauben, Rasse oder Nationalität. Das ist übrigens auch in der Verfassung
der Russischen Föderation klar und eindeutig festgeschrieben. Deren
Einhaltung hat der Präsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, so häufig
gelobt.
23 Feb 2009
## AUTOREN
Svetlana Gannuschkina
## TAGS
Russland
Frauenmord
## ARTIKEL ZUM THEMA
Russland geht gegen NGO vor: Das Telefon steht nie still
Die Menschenrechtsorganisation Komitee Bürgerlicher Beistand verliert seine
Räumlichkeiten. Sie ist eine wichtige Anlaufstelle für Flüchtende in
Russland.
Frauenmorde in Italien: Mit dem Segen der Kirche
Ein italienischer Priester rechtfertigt die häufigen Feminizide. Frauen
seien selbst schuld, weil sie Männer provozierten und sich schlampig
verhielten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.