# taz.de -- Roman über die Littleton-Täter: Kamerad Amok | |
> Der Krieg der jungen Männer: Joachim Gaertners dokumentarischer Roman | |
> über die Täter von Littleton. | |
Bild: Die Grabkreuze von Littleton | |
"Ich bin voller Hass - und das liebe ich." Passender hätte Joachim Gaertner | |
seinen gerade erschienenen dokumentarischen Roman kaum titeln können. "Ich | |
bin voller Hass - und das liebe ich" führt in die Psyche zweier Amokläufer | |
ein, die am 20. April 1999 die Columbine High School in Littleton im | |
US-Bundesstaat Colorado gestürmt haben und 12 Schüler im Alter von 14 bis | |
18 Jahren und einen Lehrer ermordeten, bevor sie sich selbst erschossen. | |
Für die späteren Amokläufer von Erfurt (2002) oder Emsdetten (2006) waren | |
sie ein Vorbild, jetzt vielleicht auch für den 17-jährigen Tim K. in | |
Winnenden. | |
In welchem Krieg sich die jugendlichen Amokläufer des Westens wähnen, macht | |
Joachim Gaertners dokumentarische Studie "Ich bin voller Hass - und das | |
liebe ich" (Eichborn Berlin, erschienen im März 2009) eindrücklich | |
deutlich. Man sollte sich lieber damit beschäftigen, als daran zu glauben, | |
dass die Polizei einmal schneller als der Amokläufer sein kann. Wer das | |
Verbrechen bekämpfen will, muss es zuerst verstehen. Gaertner hat den | |
intellektuellen Nachlass der Columbine-Attentäter ausgewertet und daraus | |
ein komplexes Gesamtbild der Tätercharaktere geformt. Sein schlankes Buch | |
beinhaltet das intellektuelle Vermächtnis zweier Teenage-Attentäter. Es | |
sind Musterprofile, die die Theoretiker der historischen Frankfurter Schule | |
einmal methodisch dem "Autoritären Charakter" zugerechnet hätte, und die | |
man in aller Nüchternheit zur Kenntnis nehmen sollte. | |
Die Tat von Dylan Klebold und Eric Harris, beide ästhetisch und medial | |
geschult, wirkt fort. Nicht, dass sie die ersten Amokläufer gewesen wären. | |
Aber seither reißt die Kette wütender Jugendlicher nicht ab, die | |
augenscheinlich nach ähnlichem Muster, vornehmlich in Schulen in Finnland, | |
USA oder Deutschland ihr blutiges Werk anrichten. Der rasende, frustrierte, | |
männliche Teenager wird zum Alb der westlichen Konkurrenzgesellschaft. Eine | |
Plage ähnlichen Ausmaßes wie der religiös motivierte Selbstmordattentäter | |
des Orient. | |
Doch im Unterschied zum religiös vernebelten Märtyrer verfolgt der böse | |
Teenage-Riotler des Westens keine kollektiven, sondern strikt | |
individualistische Ziele. Sein Todeskult richtet sich gegen die | |
Erwachsenenwelt, genauer: gegen die Institutionen der Ausbildung zum | |
Erwachsenen, mit all ihren Disziplinar-, Auswahl- und | |
Statuszuordnungssystemen. Kamerad Amok sieht sich sexuell und sozial | |
willkürlich zurückgesetzt und ausgeschlossen. Er ist umzingelt von Feinden | |
und seine Väter schlafen mit Pistolen. Doch, was sagen 15 Waffen im | |
Panzerschrank und eine neben dem Bett, von denen man jetzt in Winnenden | |
weiß, über die psychische Befindlichkeit einer unauffälligen und eher | |
wohlhabenden deutschen Familie? Eben, nicht viel. | |
Die Ermittlungen werden jetzt wohl auch bei Tim K. die üblichen normalen | |
Anormalitäten des Amokläufers vom Typus Colombine zu Tage fördern. Dazu | |
gehören Vorlieben für Gewaltspiele, intensive Nutzung der neuen Medien, | |
komische Sexualvorstellungen, Einzelgänger- und Losertum etc. Doch nicht | |
jeder verdruckste und autoritär geprägte Jungmann greift sich eine Beretta | |
Kaliber 9 Millimeter und erschießt damit 15 Menschen, Schülerinnen, | |
Lehrerinnen, Passanten und Wildfremde im 40 Kilometer entfernten Autohaus. | |
Was tun mit all diesen unglücklichen, vereinsamten Halberwachsenen, die | |
sich vor dem Erwachsenwerden fürchten und die im jugendlich-sensiblen | |
Existenzialismus dazu neigen, Leidens-, Freundschaft-, Glücks- und | |
Einsamkeitsgefühle extrem zu überhöhen? Deren Familien mit sich und ihnen | |
"überfordert" sind und dazu tendieren, eben ihre allzu normalen und | |
autoritären Orientierungen häufig einfach an die jüngere Generation | |
weiterzugeben? Vielleicht gehören diese verwirrten Subjekte einfach zu | |
einer Gesellschaft dazu, die dem banalisierten Einzelnen die Ausstellung im | |
Big-Brother-Ego-Körpercontainer andient und an ihrer Gehalts- und | |
Statuspyramide ansonsten klarmacht, wer wo steht und wie viel zählt. Die | |
Jugend von heute muss durch einen idiotischen Populärdarwinismus, dessen | |
mediale Daueraufbereitung die geistige Grundlage für Taten wie in Winnenden | |
bildet. Killerspiele auf dem Computer, die Gefechtssituation in so manchem | |
Kinderzimmer, sind nur in diesem Zusammenhang eine Gefahr und eine, die | |
sich nicht einfach per Gesetz und Restriktion beheben lässt. | |
Von besonderem Interesse sind deshalb in Gaertners Buch die Selbstzeugnisse | |
der späteren Attentäter im schulischen Umfeld, die doch einige Rückschlüsse | |
auf die sie umgebenden Vorstellung von Normalität zulassen. Die Attentäter | |
Eric Harris und Dylan Klebold waren literarisch und filmisch durchaus | |
beschlagene Nachwuchskräfte. Harris schwärmte für den | |
"Renaissance-Menschen". In den Creative-Writing-Kursen schrieb er von | |
Militärbasen auf dem Mond, Blut, Fleisch, Aliens, Blitzkriegen usw. Aber, | |
und das ist ja nicht untypisch, für einen intelligenten, sich überlegen | |
Fühlenden, er streute auch immer wieder humanistisch anmutende | |
Konsensformulierungen für seine Umgebung mit ein, die im Nachhinein eher | |
als Alibiveranstaltung für naive Lehrerinnen zu betrachten sind: "All der | |
Tod, all die Zerstörung - es ist einfach zu viel. Es ist sinnlos, es gibt | |
keinen Ausweg, keinen einzigen. Ich kann nicht mehr kämpfen…" Und ein | |
anderes Mal sprach Harris in seinen Schlachtenzyklen begrifflich von | |
"Menschlichkeit". Dies veranlasste eine Lehrerin zu aufmunternden | |
Kommentaren wie: "Du hast einen besonderen Ansatz und deine Erzählung | |
funktioniert auf eine grausige Weise - gute Details und guter | |
Stimmungsaufbau." | |
Das klingt von heute aus gesehen makaber, nicht nur, so man um den Fortgang | |
der Geschichte in Columbine weiß. Dieses verständnisvolle Unverständnis | |
dürfte auch auf eines der Probleme in Winnenden deuten: wie sollen | |
Autoritäten, die in vielem dem Teenager nicht unähnlich, sondern zumeist | |
nur vorgängig sind, diesen und sich vor einem finalen Riot schützen? Die | |
Rektorin der Schule in Winnenden sagte, Tim K.s Neigung zu dem tödlichen | |
Exzess wäre nicht absehbar gewesen, der Schüler stammte aus "ordentlichen | |
Familienverhältnissen". Genau dies markiert das Problem. | |
14 Mar 2009 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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