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# taz.de -- Debatte Integration und Migration: Verfall der Öffentlichkeit
> Die Presse verweigert beharrlich den genauen Blick auf Migranten. Dabei
> hat die Politik längst entsprechende Studien in Auftrag gegeben.
Bild: Integration in einem Frankfurter Altenheim: Burhan Akgül (rechts) hat t�…
Jeder dritte Einwanderer: arbeitslos. Migranten im Bremer Norden:
heimatlos. Eine Armada von Helfern: machtlos. […] Es ist schwer, nicht
wütend zu werden.“ (Stern, 5. 4. 2009)
Seit nunmehr fünf Jahren wird das Lied der gescheiterten Integration
gesungen. Ralph Giordano, Seyran Ates, Necla Kelek und Henryk M. Broder
trällern es, ebenso die FAZ und die taz. Längst hat sich ein binäres
Weltbild vom „Fremden“ und „Eigenen“ in die Köpfe eingefräst.
„Integration und Migration“ – an keinem anderen Thema lässt sich der Wan…
der Öffentlichkeit in den zurückliegenden Jahre besser illustrieren. Als
ein Teil der politischen Klasse Anfang der Neunzigerjahre eine Kampagne
gegen Asylsuchende entfachte, boten hunderte Journalisten den Scharfmachern
aus den Parlamenten die Stirn. Sie informierten, kritisierten und
kommentierten. Und sie warnten: Hier werden Freiheits- und Menschenrechte
zur Disposition gestellt. Am Ende stand ein Aufbruch der Zivilgesellschaft
– Proteste, Lichterketten und schließlich, unter der rotgrünen Regierung,
ab 1998 eine Phase der Selbstkritik und der Besinnung.
Zehn Jahre später ist alles anders. Nun ethnisieren und polarisieren vor
allem bürgerlich aufgeklärte Kreise, allen voran Journalisten – in der
Qualitätspresse ebenso wie im Boulevard. Ein Berufsstand, der so große
Stücke auf seine Aufgeklärtheit, Kritikfähigkeit und seine Wächterrolle
hält, entpuppt sich mehr und mehr als eine Ansammlung enthemmter
Kleinbürger. Ressentimentgeladen, unfähig und unwillig, den aktuellen
Entwicklungsstand der Einwanderungsgesellschaft zu reflektieren.
Ihr vermeintlich aufklärerisches Tun ist gespeist von Ängsten vor Verlust
der gesellschaftlichen Kontrolle. Eifrig sammeln sie Eindrücke in den
gesellschaftlichen Randzonen, den Neuköllns und den Rütli-Schulen der
Republik. Ohne Skrupel werden Anomien auf die Gesamtheit der Eingewanderten
übertragen, ein aggressives Ihr und Wir konstruiert.
Heute sind es Repräsentanten der Macht, die dem Wüten der Journaille
entgegentreten. Kanzlerin Merkel, Innenminister Schäuble, SPD-Chef
Müntefering und Außenminister Steinmeier – sie alle bemühen sich um neue
Wege der Integration. Die Politik als Korrektiv der vierten Gewalt – eine
Paradoxie der deutschen Geschichte.
Seit 2007 sind eine Reihe von umfangreichen Studien und Untersuchungen zum
Migrationsgeschehen in Deutschland erschienen. „Muslime in Deutschland“ zum
Beispiel. Ein 500-seitiges erhellendes Werk zu Integration,
Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie,
Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Aufschlussreiche
Ergebnisse, die in Vielem die Berichterstattung ad absurdum führen.
Differenzierung nach Milieus
Seit Ende 2008 liegt nun die komplette „Sinus-Studie über Migranten-Milieus
in Deutschland“ vor. Sie wurde 2006 begonnen und veröffentlichte erste
Ergebnisse im Herbst 2007. Die quantitativen und qualitativen Ergebnisse
der repräsentativen Studie räumen gründlich mit der medialen Konstruktion
auf: Migranten sind keine homogene Gruppe; sie definieren sich nicht vor
allem über den ethnischen Hintergrund oder Religion.
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik werden Migranten, analog zu
der deutschen Mehrheitsbevölkerung, differenziert nach sozialer Lage und
Grundorientierung betrachtet. Acht Milieus werden vorgestellt. Sie reichen
vom interkulturell-kosmopolitischen Milieu über das statusorientierte und
traditionelle Arbeitermilieu bis hin zum religiös-verwurzelten. Ergebnis:
Nur rund 7 Prozent der Migranten gehören dem religiös-verwurzeltem Milieu
an, das strenge und rigide Wertvorstellungen vertritt, den patriarchalen
und religiösen Traditionen der Herkunftsregionen verhaftet ist und sich in
kulturelle Enklaven zurückzieht.
Seit 2007 veröffentlicht das sozialwissenschaftliche Institut Sinus
Sociovision aus Heidelberg nun schon Teilergebnisse der groß angelegten
Untersuchung, die den Migrantinnen und Migranten ein hohes Maß an
Integrationsbereitschaft attestiert. Und die darauf aufmerksam macht, dass
der Einfluss religiöser Traditionen überschätzt wird. So bekennen sich 84
Prozent zur Trennung von Staat und Religion und meinen, Religion sei
Privatsache.
Wahrgenommen oder gar diskutiert werden die Ergebnisse der Studie kaum. Die
taz widmete ihnen seit 2007 einen einzigen Artikel. Im gleichen Zeitraum
erschienen rund 300 Artikel zu Ehrenmord, Zwangsheirat und Rütli-Schule;
Stichworte, die für das Scheitern der Integration stehen. Natürlich bemühen
sich eine Reihe dieser Artikel um Differenzierung. Allein durch ihr
Referenzsystem bleiben sie allerdings Teil der insgesamt problematischen
bis reaktionären Integrationsdebatte. Ähnlich sieht es in den anderen
Qualitätszeitungen der Republik aus.
Integration gilt als überflüssig
Diese Berichterstattung und nicht die Erkenntnisse der Sinus-Studie prägen
folglich das Alltagsbewusstsein. Demgegenüber beschreibt die Sinus-Studie
die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen unter Migranten:
98 Prozent wählen ihren Ehepartner selber; 83 Prozent der befragten
Menschen mit Migrationshintergrund leben gern in Deutschland; 82 Prozent
sprechen mit ihren engsten Freunden deutsch, und für 74 Prozent sind
Bildung und Wissen wichtige Werte. Obwohl die Migranten den Deutschen also
immer ähnlicher werden, beharrt die Publizistik darauf, Migranten weiterhin
nach ihrer ethnischen Herkunft und nicht nach ihren tatsächlichen
Wertvorstellungen und Lebensstilen zu definieren.
Nach einer Ende März veröffentlichten, repräsentativen Studie der
Forschungsgruppe Sinus Sociovision halten 40 Prozent der detuschen Bürger
Antidiskriminierungspolitik für „überflüssig“. So wird es zwar zu Recht …
wichtig empfunden, Frauen den gleichen Lohn zu bezahlen wie Männern oder
Ältere und Behinderte nicht zu benachteiligen. Weniger Verständnis haben
viele Deutsche für die Gleichbehandlung von Migranten, Homosexuellen oder
Andersgläubigen. Maßnahmen auf politischer und insbesondere auf
gesetzlicher Ebene werden abgelehnt.
18 Apr 2009
## AUTOREN
Eberhard Seidel
Eberhard Seidel
## TAGS
Bremen
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