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# taz.de -- Buch über Stasi-Spitzel in der Familie: Verrat unter Brüdern
> Der Onkel, der sich selbst stahl: Susanne Schädlich hat die Geschichte
> eines infamen Verrats aufgerollt - und schreibt über Stasi-Spitzel in der
> eigenen Familie.
Bild: Bibliothek der Stasi-Akten.
"Letzten Endes hat es B. gegeben. B. lebt", schreibt Hans Joachim Schädlich
1992 in seinem Text "Die Sache mit B.". Dass es B. gegeben hat, ist
Schädlichs Selbstvergewisserung von etwas Unwirklichem. 1986 behandelte er
im Roman "Tallhover" noch als Fiktion, was erst 15 Jahre später, nachdem
die Stasi-Akten bekannt werden, als eine reale Vergangenheitsbewältigung
lesbar wird.
Schädlich konstruiert hier den prototypischen politischen Polizisten,
Tallhover. Ein Mann, der sowohl im Auftrag der politischen Polizei Preußens
als auch des NS-Regimes und in der DDR-Diktatur spioniert. Ein ewiger
Spitzel, variabel sind nur die politischen Systeme, für die er dienstbar
ist.
Diese literarische Auseinandersetzung mit der Stasi gibt Günter Grass den
Impuls, Tallhover als Hoftaller 1995 in seinem Roman "Ein weites Feld"
auferstehen zu lassen. Das Buch wird von Marcel Reich-Ranicki auf der
Titelseite des Nachrichtenmagazins Spiegel buchstäblich zerrissen.
Sechs Jahre nach Tallhover, 1992, verwandelt sich Fiktion in Dokumentation,
als Schädlich Akteneinsicht nimmt. Er liest, wie ihn sein Bruder Karlheinz
Schädlich über Jahre bespitzelte, er lernt damit einen Bruder kennen, von
dessen Existenz er nichts ahnte, doch "letzten Endes hat es B. gegeben."
Karlheinz in den Akten
Susanne Schädlich, die Tochter von Hans Joachim Schädlich, hat nun die
Geschichte dieses infamen Verrats aufgerollt. Ihr Buch "Immer wieder
Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich" rekonstruiert auch den
Tag, an dem ihr Vater die Akten las: den 22. Januar 1992, in der
Gauck-Behörde. Am Tag zuvor lesen Schädlich, Gerd Poppe, Jürgen Fuchs,
Katja Havemann, Hubertus Knabe und Wolf Biermann ihre Akten. "An diesem
zweiten Tag habe ich Karlheinz entdeckt. Ich bin irgendwann aufgestanden
und zu Jürgen gegangen." Der empfiehlt ihm, nach Hause zu fahren. "Ich
konnte nicht losfahren. Ich verfiel in eine Art Weinkrampf. Die
Frontscheiben beschlugen von innen." Havemann und Poppe, denen er von IM
Schäfer erzählt, sagen, auch bei ihnen stecke er in den Akten.
Susanne Schädlich schreibt aus Sicht einer scheinbar nur mittelbar
Beteiligten. Ab 1975 ist der Onkel IM Schäfer im Operativen Vorgang
"Schädling". Als die Familie 1977 die DDR verlässt - im August erscheint
Schädlichs "Versuchte Nähe", das den Tatbestand der "staatsfeindlichen
Hetze" erfüllt -, ist Susanne Schädlich gerade 12 Jahre alt. Für sie war
der Onkel einmal der "beste Freund". Sie schreibt: "Der Onkel war ein Dieb,
er hat sich uns gestohlen."
Ihr Buch verdeutlicht, wie sich der Verrat in der Familie fortgepflanzt
hat. Im Westen, in den der Vater mit seiner Familie floh, zerbricht die
Familie, wird die Mutter erstmals mit Arbeitslosigkeit konfrontiert,
erleidet der Vater eine Depression. Die Tochter, Susanne, fühlt sich
entwurzelt. In der Schule fragte keiner nach der DDR, "die lag so weit weg,
dass sie für viele gar nicht existierte. Wenn die DDR aber nicht
existierte, wo kam ich dann her? Von nirgendwo." Der Onkel berichtet der
Stasi von Susannes Anpassungsproblemen, er versucht sie für eine Ausbildung
nach Ostberlin zu locken. Briefe von Freunden aus der DDR erreichen sie
erst 2007, nach der Lektüre der Akten. Ihr Onkel, der Dandy mit Pfeife, der
Verehrer des britischen Lebensstils und der Frauen, der Fan des fabelhaften
Agenten Kim Philby, Susanne Schädlich spricht ab 1992 kein Wort mehr mit
ihm. "Die Harris-Tweed-Jacketts waren sein Schafspelz", schreibt sie. Als
sie später in seiner Wohnung das Bücherregal abschreitet, findet sie Werke
von Erich Mielke und Markus Wolf. "Ein Buch des Vaters gibt es nicht."
Ekel vor dem Sprachdreck
Noch in der DDR trifft sich der Vater mit Kollegen zu Werkgesprächen. Mit
Günter Grass, Uwe Johnson, Günter Kunert, Sarah Kirsch, Jurek Becker und
anderen. Es ergeht der Auftrag an IM Schäfer: "Aufklärung der Wohnung des
Bruders des IM, wo Literar.-kreis tagt." Der Onkel erklärt sich bereit,
auch Aufträge im "NSW", dem "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet", zu
erfüllen. Er bespitzelt fortan auch Günter Grass. Die Eintrittskarte zu ihm
ist der Bruder.
Susanne Schädlich macht sich Luft, stanzt den Verrat in sperrige und
protokollarische Sätze. Als müsste sie sich die Geschichte vom Leibe
halten. Sie schreibt: "der Onkel", "der Vater", "die Mutter"; nie: "mein
Vater", "meine Mutter" oder "mein Onkel". Es ist ein Ekel vor dem
Sprachdreck der Staatssicherheit. Kostprobe: "Auf diesem Weg gingen
,224135' und ,Staat' mit ,Fahrer', sowie ,Sprache' und ,Sack' zusammen.
Alle Personen begaben sich zu dem abgeparkten Pkw von ,Fahrer' und stiegen
ein." Die vermeintlich kommode DDR-Diktatur ist für die Schädlichs ein
Horror. Diejenigen, "die das Wort [der Akten] in die Tat zurückübersetzen
können, denen sitzt der Schreck noch in den Gliedern".
Hans Joachim Schädlichs Agent Tallhover endet so: "Er schließt den Mund,
öffnet den Mund, sagt etwas, hört seine Stimme nicht. Er schreit, aber hört
sich nur flüstern, Warum kommt niemand! Warum hilft mir keiner! Genossen!
Kommt! Helft mir! Tötet mich!"
Im Dezember 2007 hat sich der Bruder in einem Park im Berliner
Bötzowviertel in den Mund geschossen.
Susanne Schädlich: "Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel
und ich". Droemer, München 2009, 240 S., 16,95 €
12 May 2009
## AUTOREN
Kai Schlieter
Kai Schlieter
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Nachruf
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