# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Es war einmal in Nicaragua | |
> Am 19. Juli 1979 endete in Nicaragua die Diktatur der Familiendynastie | |
> Somoza, die über 40 Jahre das Land beherrscht hatte. Die Aufständischen | |
> unter Daniel Ortega übernahmen die Macht. Ein Bericht. | |
Bild: Genosse Präsident Ortega, einst Guerillero Daniel. | |
César Augusto Sandinos Antwort an einen nordamerikanischen Offizier, der | |
ihn zur Kapitulation aufgefordert hatte, bewies Entschlossenheit: "Ich | |
ergebe mich nicht. Ich erwarte Sie hier. Wenn ich kein freies Vaterland | |
haben kann, will ich lieber sterben." | |
Im frühen 20. Jahrhundert hatte Nicaragua bereits mehrere Invasionen der | |
USA hinter sich. Seit 1854 mischten sich die Nordamerikaner militärisch in | |
die Politik des Landes ein. Auch Großbritannien versuchte, dessen | |
Atlantikküste unter seine Kontrolle zu bringen, denn beide Großmächte | |
planten lange Zeit eine Kanalverbindung zwischen Pazifik und Atlantik auf | |
nicaraguanischem Gebiet, bevor die Entscheidung für den 1914 vollendeten | |
Panamakanal fiel. | |
Unter dem Vorwand, die politischen und militärischen Konflikte zwischen | |
Liberalen und Konservativen im Land zu schlichten, entsandte | |
US-Außenminister Philander C. Knox im September 1909 ein Truppenkontingent | |
nach Nicaragua, das erst 1925 wieder abzog. Ein Jahr später landeten erneut | |
mehr als 5.000 amerikanische Marinesoldaten und blieben bis 1933, diesmal | |
vorgeblich, um die drohende Eroberung des Landes durch die "mexikanischen | |
Agenten des Bolschewismus" zu verhindern. | |
Einer dieser "Agenten" war Sandino. Zwar betrachtete er sich selbst als | |
liberal, doch 1927 griff er zu den Waffen, nicht nur um die US-Invasoren, | |
die er wahlweise als "Imperialisten" oder "Kokainistenbande" bezeichnete, | |
zu bekämpfen, sondern auch gegen die liberal-konservative Elite Nicaraguas. | |
Diese betrachtete er als repressiv, ausbeuterisch und rassistisch. | |
Außerdem warf er ihr den Ausverkauf des Landes vor. "Sandino hat von den | |
anarchistischen Gewerkschaften in Mexiko die schwarz-rote Fahne und vom | |
Salvadorianer Farabundo Martí(1) die Analyse der Klassengesellschaft | |
übernommen", erklärt der Soziologe Orlando Nuñez. "In seinen Schriften | |
formulierte er die Notwendigkeit einer lateinamerikanischen Einigung, von | |
der schon Simón Bolivar geträumt hat, aber er spricht auch davon, die | |
indigene Bevölkerung einzubinden und das Bündnis mit den einheimischen | |
Unternehmern zu suchen, um dem US-Imperialismus die Stirn zu bieten." | |
Bedrängt von der kleinen Guerilla, die Sandino, der "General der freien | |
Männer", um sich geschart hatte, wurden die US-Truppen zu Anfang der Großen | |
Depression aus Kostengründen abgezogen. Zurück ließen sie eine | |
Nationalgarde unter Führung eines einheimischen Offiziers, der seine | |
Ausbildung in Militärakademien der USA absolviert hatte: Anastasio Somoza. | |
Am 21. Februar 1934 folgte Sandino einer Einladung der Regierung zu | |
Verhandlungen. Beim Verlassen des offiziellen Empfangs bei Präsident Juan | |
Bautista wurde er ermordet. Einige Monate danach gab Somoza zu, dass die | |
Anweisung zu diesem Mordanschlag vom US-Botschafter Arthur Bliss Lane | |
gekommen war. | |
Unter der Vormundschaft Washingtons hielt sich die Somoza-Dynastie - | |
Anastasio (1936-1956), Luis (1956-1963), Anastasio Junior (1967-1979) - | |
mehr als vier Jahrzehnte an der Macht. 1960 gründeten Carlos Fonseca | |
Amador, Tomas Borge und andere nicaraguanische Intellektuelle unter dem | |
Eindruck der kubanischen Revolution die Sandinistische Nationale | |
Befreiungsfront (FSLN). | |
Lange Zeit waren die Erfolge dieser Guerilla eher bescheiden, vor allem | |
weil es den Kämpfern an Erfahrung im Umgang mit der Landbevölkerung fehlte. | |
Doch die Machtfülle und der Machtmissbrauch der Familie Somoza und deren | |
Willfährigkeit gegenüber den USA schürten auch in Teilen des Bürgertums | |
Unzufriedenheit. | |
Dort keimte die Hoffnung, man könne sich im Bunde mit der FSLN des | |
Diktators entledigen und politisches Territorium zurückerobern. Auf der | |
anderen Seite erkannten die Sandinisten, dass mit dieser Annäherung ihre | |
Ziele in greifbare Nähe rückten. Auch das Zusammengehen mit den Anhängern | |
der christlichen Befreiungstheologie - verstanden als eine Kirche der Armen | |
- war ein entscheidender Schritt. | |
Während die Diktatur die Repression verschärfte, gewann die linke Guerilla | |
mit einigen spektakulären militärischen Erfolgen im Jahr 1978 auch | |
international viel Sympathie. Die US-Regierung unter Präsident Carter | |
(1977-1981) konnte Somoza nicht mehr stützen. Am 19. Juli 1979 endete der | |
bewaffnete Aufstand mit dem Sturz des Diktators. | |
Die sandinistische Revolution stieß international - insbesondere bei den | |
europäischen Linken - auf viel Sympathie. Dass zahlreiche Bürgerliche an | |
der Macht beteiligt waren, bekräftigte die Hoffnung, zumal der | |
sozialdemokratisch orientierten Regierungen, auf ein moderates politisches | |
System. Carlos Fonseca, der Sohn des FSLN-Gründers, erinnert sich: "Die | |
Revolution hat Begeisterungsstürme ausgelöst. Alle, die damals jung waren, | |
hat diese politische Atmosphäre zutiefst geprägt. Nichts schien uns | |
unmöglich." | |
In weniger als zehn Jahren sorgte die Bildungskampagne der Regierung unter | |
dem jungen Daniel Ortega für einen Rückgang des Analphabetentums von 54 auf | |
12 Prozent. Menschen aus einfachen Verhältnissen erhielten Zugang zu | |
höherer Bildung. Gesundheitsversorgung war nicht länger das Privileg einer | |
Minderheit. Bauern profitierten von der teilweisen Enteignung und | |
Neuverteilung von Großgrundbesitz. | |
Wichtige Ressourcen wurden verstaatlicht. Die Regierung drängte die | |
Arbeiter zum gewerkschaftlichen Zusammenschluss und die kleinen Bauern zur | |
Gründung von landwirtschaftlichen Kooperativen. "Es begann ein Prozess der | |
sozialen Gerechtigkeit und der politischen Organisation auf der untersten | |
Ebene", sagt Orlando Nuñez. | |
Doch dafür wäre ein Umbau des politischen Systems und eine andere | |
Wirtschaftsordnung nötig gewesen. An diesem Punkt kam es innerhalb des | |
Regierungsbündnisses sehr bald zu Zerwürfnissen. Die mit der FSLN | |
verbündeten Bürgerlichen wollten zwar die Diktatur stürzen, aber | |
keinesfalls die rechtsstaatliche Ordnung in ihrer überkommenen Form | |
antasten. | |
Die Revolutionäre dagegen betrachteten ihre liberalen Mitstreiter als | |
Mittel, um international in einem günstigeren Licht dazustehen und so einem | |
möglichen Boykott oder militärischen Angriff zu entgehen. Nuñez: "Die | |
Revolution musste den Eindruck einer demokratischen und katholischen | |
Gesinnung erwecken. Mit anderen Worten: Sie durfte die Interessen der | |
Vereinigten Staaten und Europas nicht erkennbar gefährden." | |
Doch die Rechnung ging nicht auf. Noch unter Jimmy Carter rüsteten die | |
Vereinigten Staaten die ehemaligen Nationalgardisten Somozas zum | |
konterrevolutionären Kampf. Und Präsident Ronald Reagan war kaum im Amt, | |
als er sich im Januar 1981 zu der Behauptung verstieg, Nicaragua sei | |
gegenwärtig das größte Sicherheitsproblem für die USA. | |
US-amerikanische Offiziere und Söldner, darunter etliche Exilkubaner, | |
bildeten in Honduras, El Salvador und Costa Rica die konterrevolutionäre | |
Guerilla aus. Vom Grenzgebiet der Nachbarländer aus griffen diese Contras | |
nicaraguanische Soldaten und Zivilisten an. "Meine Generation wurde zum | |
Kriegführen gezwungen", erzählt Carlos Fonseca Junior. "Ich war fünfzehn, | |
als ich an die Front gehen musste, wie tausende andere Nicaraguaner auch. | |
Unsere Gegner waren die traditionelle Oligarchie im eigenen Land und die | |
Vereinigten Staaten." | |
"Gottlose", "Kriegstreiber", "Kommunisten", "totalitäre Exporteure der | |
Revolution", "Drogenhändler" - gekämpft wurde nicht nur mit Waffen. Die | |
Tageszeitung La Prensa und andere konservative Medien in Nicaragua | |
lieferten die Munition für eine internationale Diffamierungskampagne. | |
Die Kriegswirtschaft brachte Nahrungsmittelknappheit und Rückschritte bei | |
den Sozialreformen. Schon allein deshalb verbreitete sich Missstimmung in | |
der Bevölkerung. Überdies spielten viele Maßnahmen der Sandinisten den | |
Contras direkt in die Hände. Diese gewannen Anhänger bei den Kleinbauern, | |
für die die massiv geförderten staatlichen Genossenschaften eine unfaire | |
Konkurrenz darstellten. Auf Widerstand stießen auch dirigistische | |
Handelsbeschränkungen und Preisdiktate, ebenso die im September 1983 | |
eingeführte allgemeine Wehrpflicht. | |
Die indigenen Miskitos an der Atlantikküste wurden zwangsweise evakuiert, | |
und es kam zu Massenverhaftungen. Jacinto Suárez kämpfte damals auf Seiten | |
der FSLN und ist heute deren Abgeordneter im Zentralamerikanischen | |
Parlament. "Es gelang uns damals nicht, ein gutes Verhältnis zur | |
Landbevölkerung aufzubauen", sagt er. "Wenn ich heute mit ehemaligen | |
Anführern der Contras rede, wird mir klar, dass wir da schwere Fehler | |
gemacht haben. Wir haben Teile der Bauernschaft und der indigenen | |
Bevölkerung angegriffen. So mancher von uns glaubte, dass ihm die Waffe in | |
der Hand das Recht gab, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen." | |
Obwohl die Contras in diesem Konflikt, der insgesamt 29 000 Menschenleben | |
kostete, enorme Verwüstungen anrichteten, verfehlten sie ihre militärischen | |
Ziele. Den Regierungstruppen gelang es, sie in einem schmalen Landstreifen, | |
dem "Contra-Korridor", festzuhalten. 1984 gewannen die Sandinisten | |
überlegen die Präsidenten- und Parlamentswahlen. Zudem regte sich in den | |
USA Widerstand gegen die Unterstützung der Contras. 1986 wurde die | |
Iran-Contra-Affäre öffentlich: Die US-Regierung hatte heimlich Waffen an | |
Iran verkauft und mit diesem Geld die Contras finanziert. Zudem hatten die | |
Contras mit Rückendeckung der CIA Drogenhandel betrieben. | |
1987 wurden die Vereinigten Staaten vom Internationalen Gerichtshof in Den | |
Haag wegen der Verminung der nicaraguanischen Häfen zu einer hohen | |
Entschädigungszahlung verurteilt. | |
Der Krieg gegen die Contras hatte das arme Nicaragua wirtschaftlich völlig | |
erschöpft, das Land teilweise verwüstet und die Bevölkerung demoralisiert. | |
Nach Friedensverhandlungen zwischen Sandinisten und Contras wurden am 25. | |
Februar 1990 Präsidentenwahlen abgehalten, bei denen die bürgerliche | |
Kandidatin Violeta Chamorro siegte, Anführerin des Nationalen | |
Oppositionsbündnisses UNO. Im Verlauf des Wahlkampfs konnten die | |
Sandinisten laut Meinungsumfragen noch auf die Unterstützung von 53 Prozent | |
der Bevölkerung zählen. Doch dann marschierten die USA in Panama ein, und | |
die Regierung beging einen verhängnisvollen Fehler. | |
"Dank der Verhandlungen mit den Contras schien das Land endlich einem | |
Frieden nahe", sagt Jacinto Suárez. "Endlich hörte das Töten auf, und es | |
zeigte sich ein Licht am Ende des Tunnels. Aber als die Amerikaner in | |
Panama einmarschierten, umstellten Panzer die US-Botschaft in Managua.(2) | |
Bewaffnete Sandinisten marschierten durch die Straßen, um Solidarität mit | |
dem Nachbarland zu demonstrieren. Zwei Tage danach lagen wir in den | |
Meinungsumfragen nur noch bei 34 Prozent. Dieser Trend ließ sich nicht mehr | |
umkehren. Die Leute hatten Angst, dass unter einer sandinistischen | |
Regierung der Krieg weitergehen würde." | |
Den Wahlverlierern blieben noch wenige Wochen, um mit Violeta Chamorro eine | |
geordnete Machtübergabe auszuhandeln. Gegen den Widerstand der Vereinigten | |
Staaten akzeptierte die neue Präsidentin, den Sandinisten das Kommando über | |
Armee, Polizei und Geheimdienste zu überlassen, wobei Letztere allmählich | |
aufgelöst werden sollten. | |
Die Europäer spielten bei diesem Friedensprozess die Rolle des Vermittlers. | |
Insbesondere der spanische Ministerpräsident Felipe González "übernahm eine | |
Aufgabe, die die Gringos nicht direkt erledigen konnten", versichert der | |
damalige Armeeinspekteur Lenín Cerna. "Schon bald danach hatten sie alle | |
unsere Geheimdienste in der Hand." Immerhin behielten die Sandinisten die | |
Kontrolle über Armee und Polizei. Der letzte hohe Offizier, der seine | |
Laufbahn als sandinistischer Guerillero begann, wird demnächst in Pension | |
gehen. | |
Nachdem die Contras aufgelöst waren, gliederten sich ihre Angehörigen mehr | |
oder weniger erfolgreich in die nicaraguanische Gesellschaft ein. Die neue | |
Regierung und die Oligarchie begannen zunehmend, die Vereinbarungen zur | |
Machtübergabe in Frage zu stellen. Zugleich gingen sie daran, die sozialen | |
Errungenschaften der Revolution zu demontieren. Der Wind hatte sich | |
gedreht. | |
Das war auch für Israel Galeano, einen ehemaligen Anführer der Contras, | |
eine bittere Erfahrung: "Erst hat die Oligarchie mit eurer Hilfe den | |
Somoza-Clan verjagt. Dann hat sie uns benutzt, um euch aus der Regierung zu | |
jagen. Keiner von uns hat etwas davon gehabt. Nur die Oligarchie hat am | |
Ende triumphiert."(3) | |
Elena Aguilar war einst militante Sandinistin und arbeitet heute an der | |
Arbeiter-und-Bauern-Schule "Francisco Morazán" in einem Vorort von Managua. | |
Sie schildert, wie die alten Eliten des Landes nicht nur den Staat | |
betrogen, sondern auch die Bauern, die in den 1980er-Jahren von der | |
Umverteilung des Ackerlands profitiert hatten. "Zunächst erklärte man den | |
Bauern, dass die alten Eigentümer ihr Land zurückverlangten, stattdessen | |
aber vom Staat entschädigt würden. | |
Tatsächlich hat der Staat großzügige Entschädigungen gezahlt. Das hat die | |
Alteigentümer aber nicht daran gehindert, später die Rückübertragung von | |
"gestohlenem" Land einzuklagen. Es kam zu endlosen Gerichtsverhandlungen. | |
Die Bauern und die Kooperativen konnten sich diese Prozesse nicht leisten. | |
Irgendwann tauchten angebliche Berater auf und rieten den Leuten zum | |
Vergleich. Viele verkauften ihr Land billig an die Kläger. Rein zufällig | |
gab es enge Familienbande zwischen diesen Klägern und einigen hohen | |
Ministerialbeamten." | |
Mit Violeta Chamorro hielt der Neoliberalismus in Nicaragua Einzug - zum | |
Vorteil vor allem US-amerikanischer, aber auch europäischer und asiatischer | |
Konzerne. Öffentliche Güter wurden verschleudert, die Spekulation blühte. | |
"In nur wenigen Jahren", sagt Orlando Nuñez, "haben diese Leute die ohnehin | |
schwache Mittelschicht im Land so gut wie eliminiert und den vielen | |
Kleinbetrieben auf dem Land und in den Städten den Boden entzogen. Sie | |
haben Nicaragua in seine bisher schlimmste wirtschaftliche, soziale und | |
finanzielle Krise gestürzt." | |
Unter den Präsidenten Violeta Chamorro, Arnoldo Alemán und Enrique Bolaños | |
gingen die meisten Errungenschaften der Revolution zum Teufel. Die Löhne | |
schrumpften auf Grund der Inflation um ein Drittel, die Arbeitslosigkeit | |
erreichte 45 Prozent, die Verarmung zog immer weitere Kreise. | |
Unaufhaltsam schien der deprimierende Rückfall in alte Zeiten. "Die | |
Revolution hat nicht lange genug gedauert, um das System zu erneuern", | |
erklärt Carlos Fonseca. "Sie ist an den politischen und wirtschaftlichen | |
Realitäten und an dem Krieg gescheitert, den man ihr aufgezwungen hat. Die | |
aktive Teilhabe der Bevölkerung an der Macht war nicht institutionell | |
gefestigt, sonst hätte der Neoliberalismus nicht so leicht die sozialen | |
Errungenschaften aushebeln können." | |
Ernüchternd ist, dass der Widerstand gegen diesen Neoliberalismus durch | |
Spaltungen und erbitterte Kämpfe unter den Sandinisten untergraben wurde. | |
Beim Parteikongress von 1994 eskalierte die Auseinandersetzung. Mit 12 von | |
15 Sitzen im Parteivorstand siegte Ortegas radikaler Flügel. Für sein | |
autoritäres Vorgehen wurde er wiederholt scharf kritisiert. Viele | |
prominente Funktionäre, darunter fast alle früheren FSLN-Minister und | |
Abgeordneten, traten aus der Partei aus und gründeten die Bewegung der | |
Sandinistischen Erneuerung (MRS).(4) | |
Zwölf Jahre später siegte die FSLN unter Ortega bei den Präsidentenwahlen | |
am 5. November 2006 mit 38 Prozent der Stimmen. Um das zu erreichen, hatte | |
sich Ortega immer wieder auf politischen Kuhhandel und Kompromisse | |
eingelassen, die die alten Anhänger vor den Kopf stoßen mussten. So hatten | |
in der Vergangenheit Sandinisten und Konservative gemeinsam dafür gesorgt, | |
dass der ehemalige Präsident Arnoldo Alemán wegen Korruption angeklagt und | |
verurteilt wurde. | |
Nun bot Ortega dem zu 20 Jahren Haft verurteilten Politiker die Freilassung | |
- formell als Umwandlung der Strafe in einen angeblichen Hausarrest -, | |
falls sich Alemáns Liberale Verfassungspartei (PLC) aus dem | |
Präsidentenwahlkampf heraushielt. Ebenso erstaunlich war der | |
"Nichtangriffspakt" der Sandinisten mit Kardinal Miguel Obando y Bravo: In | |
den 1980er-Jahren war der Kleriker einer der wütendsten Feinde der | |
Sandinisten gewesen, doch angesichts des Vormarschs evangelikaler Sekten in | |
Lateinamerika sah er den Vorteil eines solchen Bündnisses für die | |
Katholiken und spielte mit. | |
"Wir haben konsequent vorteilhafte Allianzen mit den Parteien der | |
Oligarchie angestrebt", erzählt Eden Pastora5, der legendäre Comandante | |
Zero aus den Tagen der Revolution und spätere Überläufer zu den Contras, | |
der dann nochmals die Seite wechselte: "Mal machen wir mit den einen | |
gemeinsame Sache, dann wieder mit anderen. So sind wir vorangekommen, aber | |
wir verkaufen uns nicht. Es ist uns gelungen, den Gegner zu spalten und zu | |
schwächen. | |
Anfangs hatte ich auch meine Probleme mit dieser Strategie, aber ich bin | |
der nüchternen Einsicht gefolgt: Wenn uns solche Pakte an die Macht bringen | |
und uns in die Lage versetzen, unsere Gesellschaftsreform fortzusetzen, | |
dann sind sie gerechtfertigt." Lenín Cerna sekundiert: "Unsere Bündnisse | |
während der Opposition waren rein taktische Manöver. Was Taktik und | |
Strategie angeht, macht uns so schnell keiner etwas vor. Wir waren | |
schließlich mal Guerilleros und Offiziere, dann erst sind wir Politiker | |
geworden." So viel Pragmatismus ist für viele nicht mehr hinnehmbar. | |
Bei den Kommunalwahlen vom 9. November 2008 siegte die FSLN dennoch in 105 | |
von 146 Gemeinden. Zuvor hatte Ortega die beiden wichtigsten | |
Oppositionsparteien trickreich von der Wahl ausgeschlossen: die | |
konservative PC und die 1994 von der FSLN abgespaltene MRS. Es gab auch | |
Vorwürfe des Wahlbetrugs, zumindest der Intransparenz. | |
Dennoch: Seit Beginn der sandinistischen Präsidentschaft am 10. Januar 2007 | |
sind Gesundheitsvorsorge und Bildung wieder umsonst. Hinzu kommt ein "Null | |
Hunger"-Programm: Millionen Kinder erhalten in den Schulen täglich eine | |
unentgeltliche Mahlzeit. Um die Abhängigkeit des Landes von | |
Nahrungsmittelimporten zu verringern, vergibt die Regierung zudem Ackerland | |
und Kredite zu sehr niedrigen Zinsen an kleine und mittlere Produzenten. | |
Mehrere hunderttausend Familien kamen bereits in den Genuss dieser | |
Initiative, die von Frauen verwaltet und in Kooperativen organisiert wird. | |
"Die Frauen sind am verlässlichsten und fast immer für das Überleben der | |
Familie verantwortlich", erklärt Elena Aguilera. "Und zwar umso mehr, als | |
die Männer immer häufiger auswandern müssen, weil sie in Nicaragua keine | |
bezahlte Arbeit finden."(6) Die Frauen erhalten eine Ausbildung und ein | |
Startkapital in Form von Kühen, Schweinen und Getreide. Sie bezahlen nur 20 | |
Prozent ihrer Darlehen zurück. Der Rest soll kapitalisiert werden und ihnen | |
helfen, als Selbstversorgerinnen auf eigenen Beinen zu stehen. Im Rahmen | |
des Programms "Null Wucher" vergibt der Staat zu einem Zinssatz von 5 | |
Prozent (statt der üblichen 25 Prozent) Kredite an Selbständige.(7) | |
Außerdem weht der politische Wind in der Region jetzt aus einer anderen | |
Richtung. Im Rahmen der Wirtschaftsgemeinschaft Bolivarianische Allianz für | |
unser Amerika (Alba)(8) tauscht Nicaragua Bohnen, Fleisch und Leder gegen | |
Erdöl aus Venezuela.(9) Die Alba finanziert über solche Tauschgeschäfte und | |
über ihre Entwicklungsbank einen wesentlichen Teil der Sozialprogramme im | |
Land, wie die Alphabetisierungskampagne und die kubanischen Augenärzte, die | |
mit modernem Gerät aus Venezuela arbeiten. | |
Im Februar trat der neue US-Botschafter Robert Callahan in Managua sein Amt | |
an. Diese Personalie hat alte Wunden wieder aufgerissen, denn in den | |
1980ern war derselbe Callahan Presseattaché der diplomatischen Vertretung | |
der USA in Honduras unter John Negroponte. Zu dieser Zeit steuerte die CIA | |
von dort aus die Offensive der Contras. Präsident Ortega hat dem | |
Botschafter im Februar schon einmal mit Ausweisung gedroht. | |
Fußnoten: | |
(1) Farabundo Martí, Gründer der Kommunistischen Partei El Salvadors, wurde | |
1932 hingerichtet. | |
(2) Am 20. Dezember 1989 begannen die USA mit der Operation "Just Cause", | |
um General Noriega zu stürzen - einen nicht eben demokratischen Staatschef, | |
der mit Drogen handelte. | |
(3) Orlando Nuñez, "La oligarquía en Nicaragua", Managua (Cipress) 2006. | |
(4) Die Partei erhielt bei den Wahlen von 1996 nur ein Prozent der Stimmen | |
(2006: 7 Prozent). | |
(5) Am 22. August 1978 stürmte der mit der FSLN verbündete | |
Guerillakommandant Eden Pastora den Palácio Nacional in Managua und löste | |
damit den Aufstand gegen Somoza aus. Zwischenzeitlich | |
Vizeverteidigungsminister, wechselte er 1982 die Seiten und lief zu den | |
Contras über. Dort säten seine Einheiten vor allem Zwietracht. | |
(6) Vgl. Raphaëlle Bail, "Aus Nicaragua. Arbeitsmigranten in | |
Mittelamerika", "Le Monde diplomatique, Dezember 2006. | |
(7) Dennoch führt Ortega den von seinem Vorgänger eingeschlagenen | |
wirtschaftspolitischen Kurs im Prinzip fort: Sowohl die Freihandelsabkommen | |
unter anderem mit den USA als auch die mit dem IWF ausgehandelten | |
Bedingungen werden eingehalten. | |
(8) Der Alba gehören an: Antigua, Bolivien, Ecuador, Honduras, Kuba, | |
Nicaragua, Saint Vincent, Dominica und die Grenadinen. | |
(9) Im Rahmen der Petrocaribe-Verträge, die rund zwanzig Staaten | |
unterzeichnet haben, liefert Venezuela Öl zum halben Preis, der Rest soll | |
zur Finanzierung von Sozialprogrammen verwendet werden. | |
Aus dem Französischen von Herwig Engelmann | |
Le Monde diplomatique Nr. 8931 vom 10.7.2009, Seite 16-17, 586 | |
Dokumentation, Hernando Calvo Ospina | |
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16 Jul 2009 | |
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