# taz.de -- Schriftsteller Chaim Noll über Juden in der DDR: "Die Dresscodes d… | |
> In der DDR geriet Chaim Noll auf der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln | |
> mit dem Staat in Konflikt. Sein neu aufgelegter Wenderoman "Der goldene | |
> Löffel" beschreibt die zerfallende DDR-Gesellschaft. | |
Bild: Der Roman aus dem Jahr 1989 wurde zum 20-jährigen Jubiläum neu aufgeleg… | |
taz: Herr Noll, Sie tragen eine Kippa. | |
Chaim Noll: Ich habe für alle Fälle immer eine Mütze in der Tasche, aber | |
ich brauche sie nicht aufzusetzen. Neulich bin ich mit Tifosi - wie sagt | |
man das auf Deutsch? - im Zug gefahren. | |
Fußballfans, Hooligans? | |
Die stiegen in Pirna ein. Und da war es den anderen Fahrgästen dermaßen | |
peinlich, als ich meinen Hut aufsetzte, um die Kippa zu verdecken. Die | |
sagten in breitem Sächsisch: "Also, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, | |
wir sind auch noch hier!" Das war ganz angenehm. | |
Sie sind in der DDR aufgewachsen. Nicht in einem jüdischen Haushalt, | |
sondern als Sohn des von Lesern und Partei gleichermaßen geschätzten | |
Schriftstellers Dieter Noll. Seine Bücher waren Schullektüre. | |
Ich habe sehr viele jüdische Autoren jeglicher Art - von Marxisten bis zu | |
Konservativen - gelesen. Ich wusste nicht genau, was jüdisch sein heißt, | |
aber es hat mich immer interessiert. Dieses Interesse musste ich gegen | |
Widerstände von außen durchsetzen. Man hat mir natürlich ausreden wollen, | |
dass es überhaupt so was wie jüdisches Denken gibt - das gab es nicht in | |
der DDR. In der DDR wurden ein paar Bücher jiddischer Volksschriftsteller | |
aus Osteuropa veröffentlicht und natürlich die Werke unserer Genossen | |
Arnold Zweig, Anna Seghers, Friedrich Wolf und wie sie hießen. Die waren | |
jüdisch von Geburt, aber jetzt sozialistische Schriftsteller. Auch mein | |
Vater hat sich immer als sozialistischer Schriftsteller verstanden. | |
Wie ging die DDR mit dem Judentum um? | |
Die Verfolgung "zionistischer Verbindungen" und "Aktivitäten" während der | |
frühen Jahre der DDR schüchterte viele jüdische Intellektuelle ein und | |
brachte sie dahin, ihre jüdischen Wurzeln zu verleugnen. Es gab bis 1987 | |
keinen Rabbiner und keinen Mohel, zum Judesein unerlässliche Rituale wie | |
Beschneidung und Bar-Mizwa wurden verhindert. Falls es zu einer jüdischen | |
Hochzeit kam - mir ist nur ein einziger Fall bekannt -, wurde ein Rabbiner | |
aus dem Ausland geholt. Der in der DDR politisch korrekte Weg, über Juden | |
zu schreiben, war ihre Darstellung als Opfer während der NS-Zeit. Es war | |
daher schon ein Aufstand an sich, wenn man überhaupt im Jüdischen eine | |
Identität suchte. Mit den Jahren haben wir das immer intensiver gefühlt, | |
aber da es keine Literatur zum Thema gab und keine richtigen jüdischen | |
Gemeinden, blieb es etwas ungefähr. Erst als wir 1983 in den Westen kamen, | |
konnten wir anfangen zu lernen und den Talmud wenigstens in einer deutschen | |
Übersetzung lesen. | |
Was hat Sie daran interessiert? | |
Die jüdische Religionsgeschichte fand ich zunehmend faszinierend. Das | |
rabbinische Judentum hat es geschafft, dieses eigentlich vom Untergang | |
bedrohte Volk 2.000 Jahre lang zusammenzuhalten. Andere Völker sind in der | |
römischen Sklaverei einfach untergegangen, die Juden nicht. Auch nicht in | |
den 2.000 Jahren Verfolgung und Heimatlosigkeit. Das ist die große | |
kulturgeschichtliche Leistung der Rabbiner - das darf man nie vergessen. In | |
Europa hat sich dafür lange niemand interessiert. Erst heute beginnt man zu | |
verstehen, dass die rabbinischen Denkmethoden und die enorme Konzentration | |
geistiger Leistung, die in ihnen steckt, dann eben auch Juden, die dieses | |
geistige System verlassen haben, befähigt hat, auf ganz anderen Gebieten - | |
Medizin oder Atomphysik oder Psychoanalyse, moderne Literatur oder wo immer | |
- große Denkleistungen zu vollbringen. Das ist das Erstaunliche: Die | |
Geistesschärfe, die sich dieses in der Diaspora zerstreute Volk über | |
Jahrhunderte eintrainiert hat, um zusammenzubleiben. Das ist eine | |
einzigartige Leistung in der Weltgeschichte, wie immer man sonst zu | |
orthodoxen Juden und Rabbinern stehen mag. | |
Es war aber nicht nur Ihr Interesse für das Judentum, das Sie zunehmend in | |
Konflikt mit der Staatsmacht gebracht hat? | |
In Konflikt mit der Staatsmacht haben uns innere und äußere Entwicklungen | |
gebracht. Mein Interesse für das Judentum gehörte zu den inneren. Darüber | |
konnte ich sowieso zu niemandem sprechen außer zu meiner Frau und ein, zwei | |
Freunden. Zu den inneren Gründen gehörte auch, dass man sich nicht | |
artikulieren durfte. Man lebte in einer Verfallsgesellschaft, die aber | |
keine sein durfte. Es war offiziell eine fortschrittliche und blühende | |
sozialistische Gesellschaft. Das war das Absurde: dieser sich vertiefende | |
Riss zwischen der offiziellen Selbstdarstellung und der Realität. Die | |
Realität war, dass wir in einer verfallenden, sich auflösenden Gesellschaft | |
lebten - das war überall zu spüren. | |
Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. | |
Die Selbstdarstellung war hochgemut bis zum Schluss. Die DDR war seit den | |
70er-Jahren bankrott, dennoch wurde behauptet, der Plan sei übererfüllt. | |
Aus einer solchen Absurdität kann sich ein Künstler - oder überhaupt ein | |
kreativer Mensch - nur retten, indem er das artikuliert. Wenn dann aber | |
noch ein Verbot jeglicher Äußerungen hinzukommt, wenn dann noch geboten | |
ist, nur in vorgeschriebenen Bahnen zu schreiben, zu forschen, zu malen, | |
Theater zu machen - das war einfach nicht mehr auszuhalten. | |
Und die äußeren Gründe? | |
Zu den äußeren Gründen gehörte vor allem, dass ich 1980 in der DDR den | |
Wehrdienst verweigert habe, weil ich nicht in einer Armee dienen wollte, | |
die ich für unmenschlich hielt. Das hat dann unsere Verstoßung aus der | |
DDR-Gesellschaft sehr beschleunigt. | |
Wie hat Ihr Vater auf Ihre Entwicklung reagiert? | |
Wir haben über diese Fragen irgendwann nicht mehr gesprochen. Mein Vater | |
war bis zum Schluss systemtreu. Es gehört zu den Verrücktheiten des Lebens | |
in der DDR, dass wir darüber nicht sprechen konnten. Ich vermute, er hat | |
sehr unter meiner Entwicklung gelitten. Wie ich unter seiner. Wir haben | |
darüber erst sprechen können, als es zwanzig Jahre zurücklag, kurz vor | |
seinem Tod. | |
Ihr Vater war ein anerkannter Schriftsteller. War das ein Problem für Sie | |
beim Schreiben? | |
Nein. Wir sind nie in Konkurrenz zueinander getreten. Ich habe in der DDR | |
nie etwas veröffentlicht, sondern nur für die Schublade geschrieben. Mir | |
war von Anfang klar, dass ich dort nichts veröffentlichen kann. Alles, was | |
ich schrieb, war von einer Art, dass es dort nicht erscheinen konnte. Dass | |
es mich sogar - wie mir allmählich klar wurde - ins Gefängnis bringen | |
würde. Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, wegen welcher | |
Bagatellen man in der DDR ins Zuchthaus gekommen ist. | |
Sind Sie beobachtet worden? | |
Meine Lage wurde langsam gefährlich, weil ich auf einer Reise in die | |
Sowjetunion, die ich als Meisterschüler der Akademie der Künste machen | |
konnte, Tagebuch führte. Auf solchen Reisen waren immer Beobachter von der | |
Stasi oder vom KGB dabei, als Dolmetscherin getarnt oder ähnlich. Und diese | |
Beobachter meldeten dann: "Er schreibt ständig irgendwas." Die Manuskripte, | |
die auf diese Weise entstanden, versteckte ich im Atelier meiner Frau. | |
Eines Tages vergaß ich dort meine Handschuhe, kehrte um und traf zwei | |
Männer, die gerade versuchten, die Tür aufzubrechen. Sie haben schnell bei | |
dem alten Rentner nebenan geklingelt, ihn in seine Wohnung geschubst und | |
die Tür zugemacht. Sie hatten offenbar Anweisung, es zu keiner | |
Konfrontation kommen zu lassen. Daraufhin haben wir angefangen zu | |
überlegen, wie können wir die Manuskripte aus dem Land schaffen und wie | |
kommen wir selbst mit den Kindern hier raus. | |
1983 haben Sie die DDR verlassen, im September 1989 ist Ihr | |
autobiografischer Roman "Der goldene Löffel" erschienen. Es war ein | |
Abgesang auf den real existierenden Sozialismus, in dem Sie | |
Völkerwanderungen prophezeit haben, die dann auch bald eingetreten sind. | |
Welche Botschaft wollten Sie vermitteln? | |
Zum Ersten, dass es zu Ende ist mit der DDR. Als ich mit dem Buch anfing, | |
war das noch nicht klar. Bis in den Sommer 1989 glaubten ja viele, auch im | |
Westen, dass das ewig noch so weitergeht. Die Regierung Kohl hat durch ihre | |
Geldzahlungen das Regime unnötigerweise bis zum Schluss gestützt. Wenn es | |
nicht so viel Unterstützung aus dem Westen gegeben hätte, wäre das | |
schneller kaputtgegangen. Zum Zweiten war es der Versuch, psychologisch | |
glaubhaft zu machen, was da eigentlich mit den Menschen passiert. Dass sie | |
letztendlich alle Opfer dieses Systems werden, von oben bis unten, durch | |
sämtliche Schichten hindurch. Dass ein starker Leidensdruck bestand in der | |
DDR. Dass diese Sache nicht mehr funktionierte und immer unmenschlichere | |
Züge annahm. | |
Was in Ihrem Buch oft zur Sprache kommt, ist der pathologische Ordnungswahn | |
der deutschen Sozialisten. War das eine sehr prägende Erfahrung? | |
Der DDR-Sozialismus war besonders bedrückend - und vergleichsweise mit | |
anderen Ostblockländern eben durch dieses Mitläufertum, dieses | |
Duckmäusertum, diese Spießigkeit noch verschärft. Wir fuhren nach Polen | |
oder nach Ungarn, um Luft zu schnappen, weil es dort auch mal eine | |
abweichende Meinung gab, während bis zu einem gewissen Zeitpunkt in der DDR | |
weitgehend eine geistige Öde herrschte. Ich sag das mal unter Vorbehalt, | |
weil es natürlich auch Kreise gab, die ich nicht kannte. Und das änderte | |
sich dann mit den Bürgerrechtlern und brach auf im Laufe der 80er-Jahre. | |
Aber das Gros der Bevölkerung hat sich eben doch an die Spielregeln des | |
Systems gehalten. | |
Maxim Biller hat die "Ossifizierung des Westens" beklagt. Er regt sich über | |
die nachträgliche Verherrlichung des DDR-Opportunismus auf. | |
In gewisser Weise kann ich das nachvollziehen. Wir haben unter der | |
Mentalität der DDR sehr gelitten, schon als Kinder. Die Atmosphäre war von | |
großer Kleinbürgerlichkeit, in einer unguten Weise, die dann auch zugleich | |
mit etwas Brutalem verbunden war - gegen jeden, der nicht von dieser Art | |
war. | |
Wie äußerte sich das? | |
Es war im Grunde alles verboten. Ich habe die ganze Schulzeit über erlebt, | |
wie Jugendliche von der Erweiterten Oberschule religiert wurden und kein | |
Abitur machen konnten, weil sie einen Bart oder lange Haare oder ein | |
bestimmtes Kleidungsstück trugen, das aus irgendwelchen Gründen auf der | |
Liste der Partei als provokatorisch registriert war. Das waren in den | |
50er-Jahren Ringelsocken, später war es ein Parka. Wegen solcher | |
Bagatellen, weil jemand gegen irgendeinen dieser Dresscodes des Systems | |
verstieß, wurden Existenzen zerstört. | |
Und die Intellektuellen? | |
Diese halbkritischen Intellektuellen und Schriftsteller, die es in der DDR | |
gab, gingen auf eine eher heuchlerische Weise mit dem System um. Ich habe | |
zum Beispiel sehr stark Christa Wolf kritisiert vom Westen aus. Sie wurde | |
ja im Westen groß gehandelt als authentische Stimme. Und war natürlich | |
alles andere als das. Es war dieser halbkritische Ansatz von Leuten wie | |
ihr, der letztlich das System affirmierte. | |
Viele der Kritiker nicht nur innerhalb der DDR haben bis zuletzt an ihre | |
Reformierbarkeit geglaubt. | |
Wir sind ja alle angetreten in der Hoffnung, es von innen ändern zu können. | |
Ich habe mal einen Abend mit Bürgerrechtlern von drüben erlebt, da saßen am | |
Tisch Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs, Lutz Rathenow und andere - und da | |
stellten wir plötzlich fest, dass wir alle mal in der Partei gewesen waren. | |
Wir sind da alle eingetreten als junge Leute, in der Hoffnung, wir können | |
das von innen verbessern. Und dann haben wir gelernt, dass das völlig | |
unmöglich war. Dass so kleine Ansätze der Beweglichkeit immer wieder | |
zerstört wurden von den Betonköpfen, die sich letztendlich durchsetzten. | |
Aber zum Schluss waren viel Antikräfte in diesem Staat. Das war dann auch | |
für mich nicht überraschend, als die zu zehntausenden auf die Straße | |
gingen. | |
Es gibt in Ihrem Roman "Der goldene Löffel" ein zerstrittenes | |
Geschwisterpaar, die eine ist eine überzeugte Sozialistin, die andere eine | |
überzeugte Kapitalistin. Man kann Ihren Roman als deutsche | |
Familiengeschichte lesen. | |
Eindeutig, das war eine zerstrittene, zerbrochene Familie. Wir hier in | |
Berlin haben das ja besonders deutlich gemerkt. Auf welcher Seite man sich | |
am 13. August 1961 befand, bestimmte die Biografien. Ich habe genug | |
Streitigkeiten zwischen den Tanten - die eine hier, die andere dort - bei | |
Familienfesten erlebt. Die sich gegenseitig vorhielten, dass ihr System | |
unmenschlich sei: "Ihr seid gewinnorientiert und profitsüchtig!" - "Und ihr | |
achtet die Menschenrechte nicht!" | |
Seit 1995 leben Sie in Israel. Von außen betrachtet: Worin unterscheidet | |
sich Deutschland heute vom Deutschland der Achtzigerjahre? | |
Es ist eine Entwicklung zum Besseren, eindeutig. Für beide Teile. Auch die | |
Westdeutschen haben unter der Teilung so weit gelitten, dass sie die ganze | |
Zeit mit einer schwelenden Krankheit leben mussten. Ich sehe heute auch | |
nicht so einen großen Unterscheid in den Mentalitäten in Ost und West, wie | |
das jemand, der hier im Land lebt, vielleicht empfindet. Das traf vor | |
zwanzig Jahren zu, vielleicht auch noch vor zehn, aber mit jeden Tag wird | |
das weniger. Auch die DDR-Bürger haben ja die Welt 20 Jahre bereisen | |
können, sind unterwegs gewesen. Und sie leben jetzt mit Fremden. Die DDR | |
war eine fremdenlose Gesellschaft. Es gab zwar ein paar arme Gastarbeiter | |
aus Kuba oder so, die lebten dann verschüchtert in einem Wohnheim, unter | |
der Aufsicht ihres Parteisekretärs. Das hat die DDR-Bürger enorm verändert. | |
Mir selbst ist Deutschland heute sehr viel angenehmer als vor 20 Jahren. | |
Und ich bin gar nicht so sicher, ob meine Frau und ich heute noch die | |
Energie aufbringen würden, wegzugehen. Man braucht ja aversiven Schub, der | |
einen in Bewegung setzt. Heute könnte ich als Jude auch in Berlin, in | |
Dresden, München oder Hamburg ganz normal leben, ohne Probleme. | |
25 Aug 2009 | |
## AUTOREN | |
U. Gutmair | |
M. Karasek | |
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