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# taz.de -- Verlieren: Im Reich der herrenlosen Dinge
> In Hamburg sitzt das größte Fundbüro Deutschlands. 50.000 Fundsachen
> kommen hier im Jahr zusammen, vom Gebiss bis zum Kuscheltier. Doch nicht
> einmal jede Vierte wird abgeholt. Der Rest landet auf Versteigerungen.
Bild: An dieser Wand im Fundbüro wird der Mann seinen Schlüssel hoffentlich w…
Silveer zittert ein wenig. Seine Wangen leuchten rot, fast kreisförmig. Sie
geben der blassen Haut eine Spur von Farbe. Silveer ist aufgeregt. Immer
wieder reckt er sich nach oben, stellt sich auf die Zehenspitzen, um die
Bühne sehen zu können. Er ist nicht groß, höchstens 1,60 Meter, und steht
inmitten einer dichten Menschenmenge.
Die steinernen Wände der hohen Lagerhalle sind grau und kahl. Nur die
Stahlträger und nackten Rohre, die weit oben entlanglaufen, blitzen. Wie
auch Silveers grüne Augen, vor Nervosität. "Ich bin das erste Mal bei einer
Versteigerung vom Fundbüro", flüstert der 19-jährige Schüler. Sein Fahrrad
wurde ihm schon vor längerer Zeit geklaut, aber ein neues kann er sich
nicht leisten.
Das Zentrale Fundbüro Hamburg ist mit etwa 50.000 Fundsachen im Jahr das
größte in Deutschland - größer als das in Berlin, das nur auf 25.000 bis
30.000 Fundsachen kommt - unter anderem deswegen, weil die Berliner
Verkehrsbetriebe ein eigenes Fundbüro unterhalten.
Im Hamburger Fundbüro lagern die verlorenen Dinge auf 3.000 Quadratmetern,
in seinen Regalen spiegelt sich das gesellschaftliche Leben so gut wieder
wie an keinem anderen Ort. Was sich verändert habe, sei die "Wertigkeit der
Sachen", sagt Rüdiger Voß, seit 18 Jahren Leiter des Fundbüros. Schmuck und
wertvolle Goldsachen würden nicht mehr so häufig abgegeben. Dass die
Menschen weniger verlieren, glaubt er nicht. "Heute behalten die Leute es,
wenn sie etwas Kostbares finden."
Die Tür des Publikumsbereichs geht auf. Die kahlen Wände sind komplett von
sechs großen, mit Schlüsseln behangenen Tafeln verdeckt. Oben drüber
thronen große Schilder: "Juli", "August" und "September" - je nachdem, in
welchem Monat das Schlüsselbund verloren wurde. Die September-Tafel ist
noch leer, der Monat hat gerade erst begonnen.
Herein kommt ein älterer Mann mit langem, strähnigem Haar. Die vielen
Falten im Gesicht sind trotz des vollen, krausen Barts erkennbar. Seine
braune Cordhose hat mehrere Löcher; an seinem Hemd fehlen die Knöpfe. "Ich
hab meine Zähne verloren", schreit er. Ein stechender Geruch breitet sich
aus. "Wo, weiß ich nich mehr."
Die Zahnprothesen liegen in einer Lagerhalle neben den Hörgeräten. Es sind
drei verschiedene. An einer fehlen oben fast alle Zähne. Die andere ist
bräunlich verfärbt. Der Kunde schaut hilflos. "Welche davon isn meine?" Die
Sachbearbeiterin holt jedes Gebiss aus dem Tütchen. Der Mann schaut sie
sich skeptisch an. Dann steckt er sich die Prothesen einzeln in den Mund.
Beim Probieren berührt sich der Kunststoff der oberen und unteren
Zahnreihe. Es klappert in seinem Mund. Als er das Fundbüro verlässt, hat er
seine Zähne wiedergefunden.
Auch Hannah hat Glück. Das fünf Jahre alte Mädchen kommt mit ihrer Mutter,
weil sie ihren Kuschelhasen verloren hat. Gemeinsam gehen sie in einen der
großen Lagerräume weit hinter dem Eingangsbereich. Nicht enden wollende
Ständer und Kleiderhaken reihen sich aneinander. Alles ist dicht behangen,
ein buntes Durcheinander. Schaut man genauer hin, erkennt man hunderte
Plastiktüten, Leinentaschen und Turnbeutel. Ganz vorne die Regenschirme,
dicht gedrängt. Jede Farbe, jede Form, alle Größen, geordnet nach Monaten.
Sofort kann man erkennen, wann es viel geregnet haben muss.
Ganz hinten hängen Puppen und Schlüsselanhänger. Und unendlich viele
Kuscheltiere. "Da ist er!", ruft Hannah und rennt los. Fünf Euro muss ihre
Mutter bezahlen, für die Verwahrung der Fundsache. Als sich Hannah noch mal
umdreht, mit dem Kuschelhasen im Arm, glitzern Tränen in ihren Augen.
Helene Hermann hat weniger Glück. Zum dritten Mal sei sie schon hier,
erzählt die Rentnerin. An ihrem 80. Geburtstag hat sie ihren Hausschlüssel
in der U-Bahn verloren. Wieder steht sie vor dem hohen Schlüsselbrett,
wieder ist ihr Schlüssel nicht dabei. "Mein ganzes Leben lang war ich ein
Glückskind", sagt sie. Die gebrechliche Dame schaut noch einmal hoch zu den
vielen Schlüsseln. "Ich habe eine innere Stimme, die mir sagt, was ich
machen soll. Bei meinem Schlüssel sagt sie mir: Ja, versuche es noch mal."
Sie werde noch mindestens sieben Mal kommen: "Jeden Montag."
Ab einem Wert von zehn Euro gilt ein Gegenstand als Fundsache, ab diesem
Wert nimmt das Hamburger Fundbüro ihn an. "Die Fundsachen der Hochbahn sind
da!", hallt es durch die Räume. In großen Kartons werden sie geliefert und
auf einer langen Tischbahn ausgebreitet: Fahrradhelme, Rucksäcke,
Gehstöcke, Babyflaschen, Kickboards, Jacken. Wie immer sind auch mehrere
Koffer dabei, ein Koffer wird geöffnet. Als der Deckel hochklappt, kommen
verschiedenste Sexspielzeuge und pornografische DVDs zum Vorschein. Der
Inhalt des Koffers wird bei der nächsten Saalversteigerung als Posten von
"Kulturfilmen" angeboten. Die Käufer wissen dann schon Bescheid.
Im letzten Lagerraum werden die kuriosen Fundsachen aufbewahrt. Auf einer
der grauen, blechernen Ablagen sitzt der Rumpf einer Schaufensterpuppe.
Daneben ein länglicher Gegenstand, eine Beinprothese. Ganz hinten in der
Ecke, fast versteckt, stehen zwei schwarze Granitplatten auf dem Boden. Der
polierte Stein schimmert und die goldene Schrift, die ihn ziert, lässt ihn
edel aussehen. Man kann zwei Namen lesen. Die beiden Tafeln sind Grabsteine
- die Besitzer offenbar Dänen.
Die wirklich wertvollen Fundsachen werden allerdings in einem Safe unten im
Keller verwahrt. Ein ehrlicher Finder hat eine Plastiktüte abgegeben. Ihr
Inhalt: 42.000 Euro. Seit mehreren Monaten wartet auch eine Rolex-Uhr im
Wert von über 120.000 Euro auf ihren Besitzer - bisher vergeblich.
Obwohl sich seine Mitarbeiter bemühen, die Eigentümer zu finden, wird nicht
einmal jede vierte Fundsache abgeholt, berichtet Fundbüro-Leiter Voß. Nach
sechs Monaten werden die herrenlosen Dinge versteigert, so wie das kleine
rote Fahrrad, bei dem Silveer seinen Arm am längsten oben hat. "60, 62, 64?
Zum ersten, zum anderen, zum letzten,!", dröhnt es durch das Mikrofon.
Applaus. Silveer springt vor Freude in die Luft, so dass er für einen ganz
kurzen Moment größer ist als alle anderen.
9 Sep 2009
## AUTOREN
Laura Schneider
## TAGS
Kolumne Zwischen Menschen
Kolumne Zwischen Menschen
Polizei Berlin
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