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# taz.de -- Geschichte und Zukunft: Die vier Krisen der SPD
> 150 Jahre Aufstiegs- und Krisengeschichte der SPD sollten uns davor
> warnen, der SPD das Totenglöcklein zu läuten. Kann eine
> "Resozialdemokratisierung" der SPD in der Opposition glücken?
Bild: Licht aus? Die Geschichte lehrt: Nicht zu früh das Totenglöcklein.
Allenthalben wird jetzt die Wahlniederlage der SPD "historisch" genannt.
Historisch offenbar in dem Sinn, dass das Ergebnis von 23,1 Prozent der
Stimmen als geschichtliche Zäsur empfunden wird, von der aus es kein Zurück
mehr gibt in die Erfolgsspur früherer Jahrzehnte.
In der Regel wird hierbei von dem Zeitraum 1949 bis heute gesprochen, wobei
das bisher schlechteste Ergebnis, die 28,8 Prozent bei den Wahlen von 1953,
als Referenzzahl dienen soll, die 2009 noch unterboten wurde. Weiter zurück
ging der Parteienforscher Franz Walter in der taz. Er konstatierte, die
Prozentzahl der SPD-Wähler sei noch unter die 23,3 Prozent gefallen, die
die SPD bei den Reichstagswahlen von 1893 nach Aufhebung des
Sozialistengesetzes erhalten habe.
Der Rekurs auf die Geschichte in den Medien dient generell dazu, die Tiefe
des Falls der Sozialdemokraten zu illustrieren und beim Publikum ein
historisches Schaudern angesichts von Aufstieg und Fall der einst so
Mächtigen hervorzurufen. Demgegenüber versucht die SPD-Führung, sich mit
der Vergegenwärtigung von 150 Jahren Parteigeschichte selbst Mut
zuzusprechen.
Wobei die glorreichen Stunden der Partei, beispielsweise die tapfere Rede
des Parteivorsitzenden Otto Wels gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933,
ebenso mitschwingen wie die Erinnerung an die Kapitulation der Weimarer
Vorgängerparteien von CDU und FDP, die damals dem Gesetz zustimmten. Stets
sei die SPD die Partei der Demokratie, der Freiheit und der sozialen
Gerechtigkeit gewesen. Und indem sie dieser Tradition folge, so
Frank-Walter Steinmeier am Wahlabend, werde sie zur neuen Kraft und Größe
zurückfinden.
Wer die Parteigeschichte der SPD bemüht und Vergleichszahlen über
Wahlergebnisse heranzieht, muss wenigstens skizzenhaft deren jeweiligen
geschichtlichen Hintergrund aufhellen. Dabei erweist sich, dass die SPD
mehrfach Phasen des Aufstiegs ebenso erlebt hat wie einschneidende Krisen,
aus denen es scheinbar keinen Ausweg mehr gab. 1893, die von Franz Walter
genannte Jahreszahl, bezeichnet den Beginn einer steilen Aufstiegsphase der
SPD. Sie wird, begünstigt durch die rasche Industrialisierung und
Verstädterung, zu der Partei des Industriearbeiterschaft.
Eine Partei des proletarischen Milieus, theoretisch in scharfer Opposition
zum Kaiserreich, aber praktisch zunehmend auf einen pragmatischen,
"reformistischen" Kurs gestimmt. 1912 wird sie zur stärksten Partei im
Reichstag, aber 1914 erliegt sie der Kriegsbegeisterung. Die Zustimmung zu
den Kriegskrediten wird während des Ersten Weltkrieges zur existenziellen
Krise der SPD. Diese Zustimmung wird als absoluter Sündenfall angesehen,
sie führt schließlich zur Spaltung der Arbeiterbewegung.
Aber der "stinkende Leichnam" SPD erwachte in der Weimarer Republik zu
neuem Leben. Die sozialistische Vision blieb programmatisch erhalten, aber
die SPD erzielte praktische Erfolge im Rahmen des Kapitalismus. Sie
beschritt den Weg zum Sozialstaat und stellte sich den Problemen der
industriellen Massendemokratie. Sie versagte allerdings, wie die KPD auch,
angesichts des heraufziehenden Nazismus. In die Emigration getrieben,
erlebte sie ihre zweite Krise. Zeitweilig sah es so aus, als ob die SOPADE
genannte SPD innerhalb des linken Spektrums der Emigration nur eine von
vielen schwachen Kräften darstellte.
Aber nach 1945 gelang ihr ein zweites Comeback unter der Führung Kurt
Schumachers, dessen national-patriotische und volkspartei-sozialistische
Linie das Kontrastprogramm zu Adenauers Programm der Westorientierung,
Wiederbewaffnung und kapitalistischen Restauration bildete. Mit der langen
Konjunktur und der Zustimmung des Wahlvolks zur Westorientierung geriet
diese Linie in die Krise. Die SPD drohte in dem 30-Prozent-Turm
eingeschlossen zu bleiben. Dafür standen die Wahlniederlagen 1953 und 1957.
Auch diesmal gelang es der Partei, sich aus der Krise, ihrer dritten, zu
befreien. Sie warf den Schumacher-Kurs über Bord, übernahm mit dem
"Godesberger Programm" die Grundlagen der "sozialen Marktwirtschaft" und
schwenkte auf den außenpolitischen Kurs Adenauers ein. Dieser Prozess der
Anpassung fand vor dem Hintergrund tiefgreifender Änderungen der
Sozialstruktur statt.
Das proletarische Milieu löste sich schrittweise auf. Es gelang der SPD, in
den rasch wachsenden Mittelschichten, vor allem bei der technischen
Intelligenz, Fuß zu fassen. Sie wurde zum Herold des technischen
Fortschritts einschließlich der Atomenergie, zum Promoter eines modernen
Bildungswesens und - in der Person Willy Brandts - auch zum Architekten der
Entspannungspolitik. Die Wahlsiege von 1969 und der 70er-Jahre drücken die
sozialdemokratische Hegemonie dieser Jahre aus.
Es war die Anti-AKW-Bewegung und die aus ihr geborene Partei der Grünen,
durch die diese ungebremste Fortschrittslinie ins Wanken geriet. Aber die
SPD - seit 1982 in der Opposition - verstand es zunächst, sich
programmatisch wie auch in ihrer Bündnispolitik mit den Grünen dem
wachstumskritischen Kurs anzunähern. Mit dem Berliner Programm von Ende der
80er-Jahre war der größte Punkt der Annäherung erreicht.
Dann, mit der Vereinigung, kam die Partei unter den Druck der steigenden
Arbeitslosigkeit. "Arbeit, Arbeit, Arbeit" wurde zum Slogan der Wahl 1994.
Die SPD unterlag, eine Auseinandersetzung Vollbeschäftigung kontra
Wachstumsfetischismus unterblieb. Ein unguter Schwebezustand, der zu keiner
Krise der Partei führte.
Zunächst sah es so aus, als ob die SPD in der rot-grünen Koalition nach dem
Wahlsieg von 1998 erneut den Weg eine ökologischen Reform der
Industriegesellschaft beschreiten würde. Aber Rot-Grün antwortete auf die
anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die Krise der Staatsfinanzen nach den
Wahlen von 2002 mit Schröders "Agenda 2010". Das Resultat war die vierte,
bislang schwerste Krise der SPD.
Denn die Agenda verletzte mit ihrem Angriff auf Solidarität und soziale
Gerechtigkeit so tief den Identitätskern der SPD wie kein Ereignis mehr
seit der Bewilligung der Kriegskredite 1914. In den Wahlen von 2009 erhielt
die SPD die Quittung für die "Agenda 2010". Und es sieht nicht so aus, als
ob Die Linke, Hauptgewinnerin des neoliberalen Durchmarschs, so rasch von
der politischen Bühne verschwinden würde.
150 Jahre Aufstiegs- und Krisengeschichte der SPD sollten uns allerdings
davor warnen, der SPD vorzeitig das Totenglöcklein zu läuten. Kann eine
"Resozialdemokratisierung" der SPD in der Opposition glücken? Dafür wäre
ein "zweites Godesberg" nötig. Diesmal allerdings nicht in Richtung
Anpassung.
29 Sep 2009
## AUTOREN
Christian Semler
## TAGS
SPD
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