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# taz.de -- Zu wenig Hartz IV: Es geht nicht nur um die Kinder
> Drei Familien sind vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, weil die
> Grundsicherung nicht reicht. Die Richter nahmen das zum Anlass, über
> einen neuen Bewertungsmaßstab nachzudenken.
Bild: Protest vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
KARLSRUHE taz | "Ich hätte mir für die Verhandlung gerne einen anständigen
Anzug gekauft, aber wovon soll ich dann mein Kind satt bekommen?" Kläger
Thomas Kallay schildert knapp das Dilemma eines Hartz-IV-Beziehers. Am
Bundesverfassungsgericht wurde am Dienstag verhandelt, ob die
Hartz-IV-Sätze und ihr Zustandekommen mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Dabei ging es – entgegen der allgemeinen Erwartung – nicht nur um das
Sozialgeld für Kinder, sondern ganz grundsätzlich auch um das
Arbeitslosengeld 2 (ALG 2) für Erwachsene. Mit Änderungen ist wohl zu
rechnen.
Ausgelöst wurde das Verfahren durch drei Familien aus Bayern,
Nordrhein-Westfalen und Hessen. Anwesend war aber nur Thomas Kallay aus
Eschwege (Nordhessen), ein erwerbsloser Journalist, der sich ehrenamtlich
in Sozial-Initiativen engagiert. Mit seiner Frau und seiner 15-jährigen
Tochter lebt er von insgesamt 825 Euro Hartz IV.
Das Landessozialgericht (LSG) Hessen nahm den Fall zum Anlass, die Höhe der
Hartz-IV-Sätze in Frage zu stellen. Vorsitzender Richter am LSG war Jürgen
Borchert, ein bekannter Sozial-Aktivist. In den beiden übrigen Fällen, die
das Bundessozialgericht vorgelegt hatte, ging es dagegen nur darum, wie die
Bedarfssätze für Kinder von Hartz-IV-Familien berechnet werden.
Für die Bundesregierung erläuterte Sozialstaatsekretär Detlef Scheele
(SPD), dass bis 1989 der Sozialhilfesatz nach einem von Experten
festgelegten Warenkorb berechnet wurde. Da aber kein Konsens mehr
herzustellen war, was in den Korb gehöre, gilt als Maßstab seitdem die
Einkommens- und Verbrauchsstudie (EVS) des Statistischen Bundesamts. Hier
wird alle fünf Jahre anhand von 75.000 repräsentativen Haushalten
untersucht, was die Deutschen tatsächlich konsumieren.
Der Hartz-IV-Satz für einen Erwachsenen bemisst sich danach, was die
ärmsten 20 Prozent der nicht ALG 2 beziehenden Single-Haushalte
konsumieren. Allerdings werden viele Abzüge gemacht, die die Regierung nur
teilweise erklären konnte. Umstritten war in Karlsruhe aber auch
grundsätzlich, ob die Vergleichsgruppe, die kein Hartz IV bezieht,
überhaupt ein geeigneter Maßstab für die Definition des Existenzminimums
ist. So fragte Verfassungsrichter Johannes Masing, ob ein niedriges
Einkommen heute das Existenzminimum decken könne, solange es keine
Mindestlöhne gebe.
Die Richter wollen die Hartz-IV-Sätze vor allem an Artikel 1 des
Grundgesetzes messen, der die Würde des Menschen garantiert. Das kündigte
am Dienstag Hans-Jürgen Papier an, der Präsident des Gerichts. Wenn die
Richter nicht generell höhere Sätze oder ein anderes Verfahren verlangen,
so dürfte wohl zumindest eine "Öffnungsklausel" verlangt werden.
Hilfsbezieher, die mit dem schmalen Hartz-IV-Budget nicht zurechtkommen,
könnten dann in extremen Fällen ausnahmsweise einen individuellen Zuschlag
verlangen. Dies forderte jedenfalls Anwalt Peter Schmitz und wurde dabei
von mehreren Verfassungsrichtern unterstützt.
Als Beispiele nannte Caritas-Generalsekretär Georg Cremer einen
Aidskranken, der vom Hartz-IV-Satz teure Medikamente kaufen müsse, die die
Krankenkasse nicht zahle, oder jemand, der bei der Kleidung Übergrößen
benötige. Da schaltete sich der rührige Kläger Thomas Kallay ein und
schilderte seine Probleme als Mann mit zwei Metern Körpergröße, 150 Kilo
Gewicht und Schuhgröße 48.
Stephan Rixen, der Rechtsvertreter der Bundesregierung, protestierte nicht
nachdrücklich gegen eine Öffnungsklausel. Nach seiner Darstellung gibt es
heute in derartigen Fällen aber oft schon Darlehen, die gelegentlich auch
erlassen würden. Eine Öffnungsklausel dürfe auch nicht zu weit gehen,
mahnte Rixen und führte an, "Menschenwürde hat auch mit Eigenverantwortung
zu tun". Die Idee der Hartz-IV-Pauschalen sei schließlich gewesen, dass die
Leistungsempfänger selbst auf größere Anschaffungen sparen sollen und nicht
mehr bei jedem Sonderbedarf beim Sozialamt Anträge stellen müssen.
Soweit bislang bekannt sollte es am Dienstag vor allem um die Höhe des
Sozialgelds für Kinder gehen. Deren Sätze wurden einfach vom ALG 2 der
Erwachsenen abgeleitet. Kinder bis 14 Jahre erhielten zunächst 60 Prozent
von 345 Euro, also 207 Euro. Für Jugendliche bis 18 gab es 80 Prozent.
Inzwischen hat die Bundesregierung auf die Kritik reagiert, dass dies zu
schematisch sei. Sie nahm eine Sonderauswertung der EVS-Studie vor, die
ergab, dass die Sätze überwiegend bedarfsgerecht, teilweise sogar einige
Euro zu hoch sind. "Damit haben wir erstmals einen kindspezifischen Bedarf
ermittelt", sagte Staatsekretär Scheele.
Seit Juli hat die große Koalition zudem die Sätze für 6- bis 13-jährige
Schulkinder auf 70 Prozent (derzeit 251 Euro) erhöht. Außerdem bekommen
Hartz-IV-Schulkinder jetzt jährlich 100 Euro für Schulbedarf extra. Damit
hat der Bundestag vermutlich eine Verurteilung zur Erhöhung der Sätze
vermieden. Möglicherweise wird es aber auch hier eine Öffnungsklausel für
außergewöhnliche Situationen geben. Das Urteil soll in einigen Monaten
verkündet werden.
20 Oct 2009
## AUTOREN
Christian Rath
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