# taz.de -- Debatte Balkan-Kriege: Das Erbe von Dayton | |
> Am Montag beginnt in Den Haag der Prozess gegen Karadzi. Für Bosniens | |
> Zukunft als funktionsfähiger Staat ist er aber ohne Bedeutung. | |
Bild: Die Stadthalle von Sarajewo erstrahlt in den französischen Farben | |
Stellen wir uns vor: In Bosnien versöhnen sich Bosniaken, Serben und | |
Kroaten. Sie arbeiten ihre blutige Kriegsgeschichte auf, bauen eine | |
gemeinsame Zukunft auf, die ethnischen Grenzen verschwänden. Der föderale | |
Bundesstaat Bosnien und Herzegowina erfüllt alle Kriterien und wird | |
Mitglied der Nato und der Europäischen Union. So sollte es sein. | |
So ist es aber nicht, und so wird es wohl auch nicht werden. Das Land ist | |
nicht zusammengewachsen. Unter Vergangenheitsbewältigung verstehen alle | |
nur, die eigenen Opfer zu zählen. Bosnien wird nur durch internationalen | |
Druck und Einmischung vor Ort zusammengehalten. Es ist ein Protektorat. | |
Vierzehn Jahre nach dem Kriegsende ist das Land wieder an einem Punkt, wo | |
man gewalttätige Auseinandersetzungen befürchten muss. Anders gesagt: | |
Bosnien ist keinen Schritt weitergekommen. | |
Die Verfassung des heutigen Bosniens beruht auf dem Abkommen von Dayton, | |
das 1995 auf Druck der USA unterzeichnet wurde und die Kriegshandlungen | |
beendete. In Dayton wurde Bosnien in zwei Landesteile mit ausgeprägter | |
Autonomie aufgeteilt: in die bosniakisch-kroatische Föderation und die | |
Serbenrepublik "Republika Srpska" (RS). Die Föderation gliedert sich weiter | |
in zehn Kantone: drei davon sind ethnisch rein kroatisch, zwei gemischt und | |
fünf mehrheitlich von Bosniaken bewohnt. Diese innerbosnischen Grenzen sind | |
zum guten Teil ein Ergebnis der ethnischen Säuberungen während des | |
Bosnienkriegs. Diesen Zustand haben die internationalen Abkommen | |
legalisiert. Sie garantieren Bosniaken, bosnischen Serben und Kroaten in | |
allen gesamtbosnischen Institutionen ein Vetorecht. | |
Aus Sicht der meisten Bosniaken ist die "Republika Srpska" innerhalb | |
Bosniens eine "genozidale Schöpfung", durch Verbrechen an und Vertreibung | |
von Muslimen entstanden. Das serbische Staatsgebilde in Bosnien war das | |
Kriegsziel von Radovan Karadzic, ihres ersten Präsidenten, gegen den am | |
Montag vor dem UN-Tribunal in Den Haag der Prozess beginnt. Es ist | |
vielleicht die letzte Gelegenheit, die politische Verantwortung für | |
Kriegsverbrechen im Bosnienkrieg festzustellen, deren Spuren direkt in | |
Richtung Belgrad führen könnten. | |
Am Status quo in Serbien ändern wird der Prozess nichts, auch wenn die | |
weitgehend autonome Republika Srpska für viele verbliebene muslimische | |
Kriegsopfer ein Stachel im Fleisch bleibt. Von außen mag Bosnien und | |
Herzegowina als Staat anerkannt sein, von innen ist er es nicht. Die | |
verschiedenen nationalen Interessengruppen machen den Gesamtstaat | |
funktionsunfähig. Der Westen aber will grundsätzlich das Mehrheitsprinzip | |
einführen und das Vetorecht abschaffen, um den Zentralstaat auf diese Weise | |
EU-tauglich zu machen. Als größtes Hindernis auf diesem Weg sieht er die | |
bosnischen Serben an. | |
Boom in der Republika Srpska | |
Das folgt einer Logik, die von der Opferrolle der Muslime im Bosnienkrieg | |
ausgeht und weithin akzeptiert ist. Dabei aber werden Fakten missachtet, | |
die durch internationale Abkommen geschaffen wurden. Die Lunte für den | |
nächsten Konflikt brennt schon, denn Russland haben die USA und EU dabei | |
völlig aus ihrem Blickwinkel verloren. Es ist zu erwarten, dass sich Moskau | |
auf die Seite der bosnischen Serben stellen wird, die auf ihrer | |
Eigenstaatlichkeit beharren werden. Und wer soll die Serben überhaupt zum | |
Nachgeben zwingen? | |
Und welches Interesse sollten die bosnischen Serben denn haben, einen Teil | |
ihrer Eigenstaatlichkeit aufzugeben? Die Arbeitslosigkeit in der Republika | |
Srpska liegt knapp über 20 Prozent, in ganz Bosnien bei über 40 Prozent. In | |
der serbischen Entität geht es wirtschaftlich aufwärts, im anderen | |
Landesteil bergab. Da muss man schon bessere Argumente haben als nur das | |
vage Versprechen einer entfernten, ungewissen europäischen Zukunft. | |
Einen starken Zentralstaat wollen nur die Bosniaken im Land. Die bosnischen | |
Kroaten besitzen alle auch noch die Staatsbürgerschaft Kroatiens, das | |
unmittelbar vor seinem EU-Beitritt steht. Im Falle einer Verfassungsreform | |
hätten sie lieber eine eigene föderale Einheit in Bosnien. | |
Schon vor dem Krieg von 1991 besaß Bosnien einen Zentralstaat, den eine | |
Koalitionsregierung der drei nationalistischen Parteien der Muslime, der | |
Serben und der Kroaten führte. Als Jugoslawien zerfiel und das bosnische | |
Parlament mehrheitlich für die Unabhängigkeit stimmte, griffen zuerst die | |
Serben zu den Waffen, die anderen folgten. Laut dem "Bosnischen Atlas der | |
Verbrechen", der gerade in Sarajevo erschienen ist, wurden in dem | |
vierjährigen Krieg 98.000 Menschen getötet oder gelten bis heute als | |
vermisst. Muslimische Bosniaken machen demnach 65,88 Prozent, Serben 25,62 | |
Prozent und Kroaten 8,01 Prozent der Kriegsopfer aus. | |
Reform einer Kopfgeburt | |
Jetzt will der Westen also, ganz im Sinne der Bosniaken, den bosnischen | |
Serben einen Zentralstaat aufzwingen. Und zwar in einem Land, in dem nur | |
"Muslime" sich mit dem eigenen Staat identifizieren und, zum Beispiel, die | |
bosnische Nationalmannschaft anfeuern. Die kroatischen "Katholiken" und die | |
"orthodoxen" Serben sehen ihre Nationalmannschaft eher in den Nationalteams | |
Kroatiens beziehungsweise Serbiens. Meist freuen sie sich sogar, wenn die | |
Bosniaken gegen irgendjemanden verlieren. Dagegen kann der Westen, auch | |
wenn der Protektor in Bosnien über den demokratischen Institutionen steht | |
und deren Entscheidungen nichtig machen kann, wenig tun. | |
Statt die bosnischen Serben mit Gewalt zu zwingen, auf einen Teil ihrer | |
Autonomie zu verzichten, oder gar die gesamte trotzige Führung ablösen zu | |
lassen, könnte der Westen Druck auf die Bosniaken ausüben, um das | |
bestehende föderale System samt Vetorecht funktionsfähig zu machen. Die | |
Republika Srpska ist relativ einfach gegliedert, sie stellt einen Premier, | |
16 Ministerien und insgesamt 111 Abgeordnete. Der bosniakisch-kroatische | |
Teil aber besitzt 11 Ministerpräsidenten, 110 Ministerien und insgesamt 445 | |
Abgeordnete. Der Westen könnte mit der Reform dieser kostspieligen | |
amerikanischen Kopfgeburt anfangen. Nimmt man Schuld und Sühne zum Maßstab, | |
wäre das vielleicht nicht gerecht. Pragmatisch aber schon. | |
23 Oct 2009 | |
## AUTOREN | |
Andrej Ivanji | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrienkrieg | |
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