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# taz.de -- Historikerin über 9. November 1938: "Die meisten haben zugeschaut"
> Am 9. November 1938 wurden nach offiziellen Angaben nur 91 Juden Opfer
> des Nazi-Terrors. Wie viele es wirklich waren, ist bis heute unklar
> geblieben.
Bild: Der Tag danach: Menschen am 10. November 1938 vor einem beschädigten Ges…
taz: Frau Heim, wie hat die deutsche Bevölkerung auf die antijüdischen
Pogrome am 9. November 1938 reagiert - mit Mitmachen oder Erschrecken?
Susanne Heim: Das waren überwiegend gezielte Aktionen, die von SA-Leuten
und Hitlerjugend durchgeführt wurden. Allerdings gibt es kaum Dokumente,
die zeigen, dass viele Deutsche wirklich entsetzt auf die Gewalt reagiert
haben. Bremsend eingegriffen hat niemand. Die meisten haben einfach
zugeschaut.
Also war gleichgültiges Zuschauen die typische Reaktion?
In der Nacht vom 8. auf den 9. November war eine Mischung aus Schaulust und
einem gewissen Erschrecken typisch. Eine Frau aus dem hessischen Bebra
beschreibt in einem aufschlussreichen Brief ihren Schock angesichts der
rohen Gewalt und des marodierenden Mobs. Und dann, wie die SA
Lebensmittelvorräte aus dem Haus eines Juden herausholte und kommentierte:
"Da sieht man mal, was der Jude so hortet." Diese Mixtur ist häufig. Man
erkannte, dass den Juden übel mitgespielt wird. Allerdings reagierte man
darauf nicht mit Mitleid, sondern eher mit achselzuckendem "So ist es eben"
- bis hin zur Rechtfertigung des Pogroms. Es gab bei den Deutschen das
diffuse Gefühl, dass nun klar sei, dass die Juden nicht bleiben konnten.
In dem Dokumentenband, den Sie bearbeitet haben, fällt auf, dass es viele
Zeugnisse von Tätern und Opfern gibt, aber wenige von Zuschauern. Warum?
Wir haben sehr intensiv nach solchen Dokumenten gesucht, aber
offensichtlich ist in dieser Zeit, also 1938 bis 1939, das Bedürfnis,
solche Szenen schriftlich zu fixieren, gering. Es gibt Einzelne, etwa einen
Hamburger Bankier, der solche Schilderungen durch seine jüdischen
Geschäftsfreunde in sein Tagebuch schreibt. Aber das sind Ausnahmen. Das
zeigt auch, dass 1938/39 der Kontakt von Deutschen zu Juden schon
weitgehend abgerissen war. Häufiger und sehr aufschlussreich sind indes
Berichte ausländischer Beobachter, von Diplomaten und Journalisten.
Wie groß war die Minderheit, die spontan aktiv an den Pogromen teilgenommen
hat?
Dazu gibt es keine solide belegbare Zahl. Es gab Deutsche, die Juden so
lange festgehalten haben, bis die SA kam und sie verprügelt hat. Das waren
aber Ausnahmen.
War der 9. November 1938 eine Zäsur in der NS-Enteignungspolitik gegenüber
den Juden?
Ja, eindeutig. Danach war Tätern und Opfern klar, dass es so wie bisher
nicht weitergehen würde. Auch in der deutschen Gesellschaft griff das
Bewusstsein um sich, dass nun etwas Entscheidendes passieren wird. Die
Juden hatten nach dem 9. November in den Augen vieler Deutscher keine
Daseinsberechtigung mehr in diesem Land.
Gleichzeitig war das NS-Regime in einem Zielkonflikt: Es brauchte eine
stabile Wirtschaft, um die Aufrüstung zu finanzieren - die Repression gegen
die Juden gefährdete dies.
Ja, aber das Regime reduzierte diesen Zielkonflikt, indem es das jüdische
Eigentum für sich reklamierte. Und nach dem 9. November gab es eine
radikale Zuspitzung des NS-Regimes in der Auswanderungsfrage.
Inwiefern?
Ende 1938 nahm das NS-Regime erstmals Kontakt mit dem Évian-Komitee auf,
das für die organisierte Emigration der Juden aus Deutschland eintrat.
Verhandlungen mit dem Komitee hatten die Nazis zuvor immer abgelehnt. Nach
dem 9. November waren sie dazu bereit, vor allem wegen der schlechten
Devisenlage. Ihr Plan war, die Juden zur Auswanderung zu zwingen, ihr
Vermögen aber weitgehend in Deutschland zu behalten. Hitler soll diesem
Plan ausdrücklich zugestimmt haben. Wegen des Krieges, der im Herbst 1939
begann, wurde nichts daraus. Aber dieser Plan zeigt, wie die Nazis diesen
Zielkonflikt lösen wollten.
Manche werden bei dem Thema Nazis und Juden 1938/39 abwinken und sagen: Das
ist doch alles bekannt …
Ja, ich weiß. Mir ist auch klar, dass ein 850-seitiger Dokumentenband kein
Verkaufserfolg in Bahnhofsbuchhandlungen wird. Aber wer ein bisschen
genauer hinschaut, merkt: Es stimmt nicht, dass wir alles wissen. Nehmen
Sie z. B. die Frage, wie viele Juden bei dem Novemberpogrom getötet wurden.
Es gibt die offizielle Zahl von 91 Toten, aber wie viele es wirklich waren,
weiß niemand. Es gibt viele solcher offenen Fragen.
Wie viele Quellen in diesem Band sind bislang unveröffentlicht?
Ungefähr drei Viertel.
Welche Rolle spielt diese auf 16 Bände angelegte Quellenedition in der
Erforschung des Holocaust? Ist das ein Mosaikstein in einem weitgehend
kompletten Bild - oder mehr?
Wir entwerfen kein völlig neues Bild, das ist klar. Aber wir versuchen,
Defizite auszugleichen. So ist z. B. der 9. November in westdeutschen
Städten recht gut dokumentiert, im damaligen deutschen Osten hingegen
nicht.
Das ist der Hauptzweck dieses Bandes?
Nein. Ich hoffe, dass es Leser gibt, die diese Lektüre zu eigenen
Nachforschungen animiert. Und es ist der Versuch, von der Metadiskussion
über den Holocaust wegzukommen, in der nur noch gedeutet und interpretiert
wird, und sich wieder dem Geschehen selbst zuzuwenden.
Götz Aly, Susanne Heim, Ulrich Herbert, Hans-Dieter Kreikamp, Horst Möller,
Dieter Pohl, Hartmut Weber (Hrsg.): "Die Verfolgung und Ermordung der
europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945".
Band 2 Deutsches Reich 1938 bis 1939, Oldenbourg Verlag, München 2009, 864
S., 60 €. Bearbeitet hat diesen Band Susanne Heim
6 Nov 2009
## AUTOREN
C. Semler
S. Reinecke
## TAGS
NS-Verfolgte
Novemberpogrome
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