# taz.de -- Afghanistan-Experte im Gespräch: "Die Taliban werden nicht gewinne… | |
> Der Afghanistan-Experte Michael Sempler hat gute Kontakte zu den Taliban. | |
> Nur Verhandlungen zwischen Taliban und Regierung könnten zum Frieden | |
> führen, sagt er. | |
Bild: Ein Kaufhaus in Kabul, das bei einem Taliban-Angriff völig zerstört wur… | |
taz: Herr Semple, Sie haben schon 2007 als stellvertretender | |
EU-Sonderbotschafter Kontakte mit den Taliban in der Unruheprovinz Helmand | |
aufgenommen. Wie ist das gelaufen? | |
Michael Semple: Ich habe mit 200 Taliban gesprochen, nicht nur in Helmand. | |
Es war Teil unseres Mandats, Versöhnungsbemühungen der Regierung zu | |
unterstützen. Ansprechpartner war der Nationale Sicherheitsrat. Bei den | |
Taliban hatte ich mit der mittleren Ebene zu tun, Kommandeuren mit je 30 | |
bis 50 Kämpfern. Wir besprachen, was es heißt, sich der Regierung | |
anzuschließen, welche Optionen und Garantien es gibt und welche Position | |
die internationale Gemeinschaft und die Regierung dazu hat. Ich konnte 50 | |
Taliban überzeugen, sich der Regierung anzuschließen. | |
Was hat Sie dafür qualifiziert? | |
Ich arbeitete zur Zeit des Taliban-Regimes in Afghanistan und hatte im | |
Rahmen humanitärer Programme mit Taliban-Führern zu tun. Ich hielt die | |
Kontakte, als ich nach 2001 für die UN arbeitete und versuchen sollte, sie | |
in den politischen Prozess zu integrieren. Ich entwickelte Ideen mit, die | |
in das Versöhnungsprogramm der Regierung von 2005 einflossen. Leider hat es | |
nie richtig funktioniert, weil es an strategischer Umsetzung und | |
Finanzierung fehlte. Soll jemand die Seite wechseln, braucht es konkrete | |
Angebote. | |
Ende 2007 wurden Sie und ein UN-Kollege plötzlich ausgewiesen. Warum? | |
Es gab auf der obersten Ebene der Regierung keine Klarheit, was sie mit dem | |
Versöhnungsprogramm wollte. Helmands Gouverneur wollte aus dem Programm | |
finanzielle Vorteile ziehen. Als wir da nicht mitspielten, schwärzte er uns | |
im Präsidentenpalast an. | |
Im Jahr 2009 gab es Gespräche zwischen dem Umfeld der Regierung und der | |
Taliban in Saudi-Arabien. Präsident Hamid Karsai kommt zur | |
Afghanistan-Konferenz am Donnerstag mit einem Reintegrations- und | |
Versöhnungsprogramm. Woher kommt dieser Wandel? | |
Seit Dezember 2001 erklärt Karsai, er wolle sich mit der Taliban-Führung | |
einigen. Die Ernsthaftigkeit misst sich an der organisatorischen Umsetzung. | |
Regierung, internationale Mächte und die Taliban misstrauen sich. Das | |
Misstrauen der Taliban reicht weit zurück. Sie griffen nach ihrer | |
Niederlage 2001 nicht gleich wieder zu den Waffen, sondern kehrten meist in | |
ihre Dörfer zurück und wollten sich arrangieren. Ihr Regime steckte schon | |
vor der Niederlage in einer Krise. Viele Taliban erwarteten, dass sie sich | |
am neuen System beteiligen könnten. | |
Im Jahr 2002 waren bewaffnete Kämpfe in Afghanistan fast alles Konflikte | |
zwischen Verbündeten Karsais. Doch wer sich von den Taliban mit dem neuen | |
Regime arrangieren wollte, wurde von dessen Angehörigen schikaniert. Karsai | |
setzte im Süden jene wieder ein, die 2004 von den Taliban vertrieben worden | |
waren. Auch die USA schnappten sich Taliban-Kommandeure, die sich mit der | |
Regierung arrangieren wollten, und brachten sie nach Guantánamo. | |
Ist Karsais Versöhnungsprogramm ein Fortschritt? | |
Es ist gut, dass er Farbe bekennt und dies international unterstützt wird. | |
Karsai will den Eindruck erwecken, dass es sich um eine besser | |
ausgestattete Version des Programms von 2005 handelt. Auch spricht er jetzt | |
von Reintegration. Der Begriff Versöhnung ist eher den höheren Ebenen | |
vorbehalten, also eine Verhandlungslösung. Die ist noch nicht im Angebot. | |
Vielmehr sollen jetzt Taliban für Geld und Jobs ihre Waffen niederlegen. | |
Sie sollen dafür keinen politischen Einfluss bekommen, aber Garantien für | |
ihre Sicherheit und den Lebensunterhalt. Wer die Taliban verlassen will, | |
muss um sein Leben fürchten. Im Jahr 2005 gab es weder Schutzmaßnahmen noch | |
Mittel für den Lebensunterhalt. Auch waren nur wenige Teilnehmer echte | |
Taliban. | |
Gibt es moderate oder versöhnungsbereite Taliban? | |
Ich spreche von pragmatischen Taliban. Die religiöse Haltung - moderat oder | |
strikt - ist irrelevant im Vergleich zu der Frage, wer bereit ist, | |
politisch zu verhandeln. Im Nordirland-Konflikt etwa ist Gerry Adams ein | |
Hardliner, aber eben pragmatisch genug zu sehen, dass eine politische | |
Strategie erfolgversprechender ist als der bewaffnete Kampf. So gibt es | |
auch pragmatische Taliban - bis hinein in die Führung. | |
An wen richtet sich Karsais Programm? | |
Es zielt auf die mittlere Ebene, also jene, die nicht viel Zeit in Pakistan | |
verbringen und etwa 50 bis 100 Mann unter sich haben. | |
Würde die höhere Ebene nicht mitmachen? | |
Um solche Konflikte zu beenden, gibt es grundsätzlich drei Methoden: | |
Militär, Geld und Politik. Militär wird schon eingesetzt. Jetzt wird es | |
auch mit Geld versucht. Reintegration ist nur eine Art der | |
Aufstandsbekämpfung. Für die höhere Ebene bräuchte es ernsthafte politische | |
Verhandlungen, wofür es bisher keinen Plan gibt. | |
Die Taliban fordern vor Verhandlungen den Abzug aller ausländischen | |
Truppen, die Regierung die Anerkennung der Verfassung. | |
Die Forderungen sind Unsinn: Die ausländischen Truppen würden nur zu gerne | |
abziehen, gäbe es keinen Aufstand mehr. Umgekehrt haben die Taliban aus | |
ihrer Herrschaft Lehren gezogen. Ihr Regime war schlicht zu unbeliebt. | |
Deshalb geben sie sich jetzt nationalistisch und mobilisieren gegen die | |
ausländischen Truppen. Nach deren Abzug käme es zum Bürgerkrieg, doch | |
würden die heute wesentlich wohlhabenderen Fraktionen einen Taliban-Sieg | |
verhindern. Die Frage ist: Wann sehen die Pragmatiker bei den Taliban, dass | |
sie lieber Teil des Systems werden sollten? Umgekehrt ist auch die | |
Verfassung nicht sakrosankt. Die Regierung bricht sie selbst nach Belieben. | |
Es geht nicht darum anzuerkennen, dass die Verfassung nicht geändert werden | |
darf, sondern dass nicht alles mit Gewalt zu ändern versucht wird. Viele | |
Taliban können nur durch ein Arrangement befriedet werden und nicht durch | |
bloße Kapitulation. | |
Der US-Verteidigungsminister fordert eine Teilnahme der Taliban an Wahlen, | |
der deutsche Verteidigungsminister ihre Regierungsbeteiligung. | |
Es geht weniger darum, dass Taliban bei Wahlen kandidieren als dass sie | |
Wahlen akzeptieren und Wähler nicht einschüchtern. Es gibt schon sechs von | |
den Taliban unterstützte Abgeordnete. Die Beteiligung von Taliban an der | |
Regierung macht erst mal mehr Sinn. Bei einer Verhandlungslösung müssten | |
Taliban aber auch in Institutionen integriert werden wie die Justiz, | |
zumindest in den Taliban-Hochburgen. | |
Sollte es nicht Prinzipien geben, die nicht verhandelbar sind? | |
Wer sich für Menschen- und Frauenrechte sowie Rechtsstaatlichkeit einsetzt, | |
befürchtet bei einer Integration der Taliban den Verlust aller Fortschritte | |
seit 2001. Das ist berechtigt. Doch ist die Integration der Taliban nicht | |
die Hauptbedrohung für Menschen- und Frauenrechte in Afghanistan. Die | |
Taliban haben kein Monopol auf den Konservativismus. Als Karsai 2009 das | |
schiitische Familiengesetz durchsetzte … | |
… das Frauen verbietet, das Haus ohne Genehmigung ihrer Männer zu verlassen | |
und Letzteren einen Rechtsanspruch auf regelmäßigen Geschlechtsverkehr gibt | |
… | |
… da gab es liberalere Alternativen. Doch Karsai wollte schiitischen | |
Geistlichen gefallen. | |
Und die Taliban? | |
Die Taliban streben sicher eine konservative Atmosphäre an, aber nicht mehr | |
ein Bildungsverbot für Frauen. | |
Die Taliban greifen doch heute wieder Schulen und Schulmädchen an. | |
Auf beiden Seiten bedarf es des Vertrauens, weshalb es bis zu einem | |
Abkommen zwischen Taliban und Regierung noch weit ist. Die | |
Vertrauensbildung hat noch nicht begonnen. Erst dann dürfte klar werden, | |
dass sich die Haltung zur Bildung für Frauen geändert hat. Bisher sind das | |
Lippenbekenntnisse. Umgekehrt haben auch die Taliban Kriterien, ob sie der | |
Gegenseite trauen können. Dazu gehören Sicherheitsgarantien und dass | |
Unschuldige nicht mehr festgenommen oder getötet werden. | |
Warum sollten die Taliban verhandeln? Sie werden stärker. Zudem wird in | |
westlichen Ländern die Militärintervention immer unbeliebter und | |
US-Präsident Barack Obama kündigt schon einen Termin für den Abzugsbeginn | |
an. | |
Seit Obamas Ankündigung spielt der Zeitfaktor in der Tat eine Rolle im | |
Kalkül der Taliban. Das gibt Hardlinern Auftrieb. Eine Verhandlungslösung | |
gibt es erst, wenn alle Seiten einsehen, dass es keinen militärischen Sieg | |
gibt. Vielleicht kommen wir da nie hin. Ein Bürgerkrieg ist nach einem | |
Abzug ausländischer Truppen wahrscheinlich, aber kein Sieg der Taliban. | |
Eine Verhandlungslösung ist deshalb für alle am aussichtsreichsten. | |
Warum ist ein Sieg der Taliban unwahrscheinlich? | |
Die Taliban haben in den vergangenen Jahren einen Teil der Bevölkerung | |
mobilisieren können, weil sie mit der Ablehnung der internationalen Truppen | |
nationalistische Gefühle ansprechen. Ziehen die Truppen ab, entfällt das. | |
Die Taliban sind nur im Südwesten und Südosten stark. Woanders sind sie zu | |
schwach, um die Macht zu übernehmen. Nach einem Abzug der Ausländer würden | |
die Regierungstruppen weiter Hilfe erhalten und die Städte kontrollieren. | |
26 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
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