# taz.de -- Todenhöfer über Afghanistankrieg: "Es ist ein Terrorzuchtprogramm" | |
> "Für nichts schäme ich mich mehr als für unsere Beteiligung am | |
> Afghanistankrieg", schreibt der Publizist Jürgen Todenhöfer. Er sieht | |
> Alternativen zur Kriegspolitik. | |
Bild: "Unsere Sicherheit wird durch den Afghanistankrieg gefährdet", sagt Tode… | |
19. März 1945, vier Uhr morgens. Frierend stehe ich vierjähriger Knirps vor | |
unserem kleinen Haus in der Burgallee in Hanau. Meine Geschwister sind | |
wegen Bombenalarms in den Keller gebracht worden. Ich bin ausgebüchst. | |
Atemlos sehe ich, wie "mein Hanau" in einem Feuersturm alliierter | |
Bombergeschwader untergeht. Mehr als 2000 Menschen sterben. Nie werde ich | |
die Bilder der lodernden Stadt, der wie Fackeln brennenden Menschen | |
vergessen. | |
In meinen 18 Jahren als Mitglied des Deutschen Bundestages war mein größter | |
Stolz, dass wir es immer schafften, unser Land aus Kriegen herauszuhalten. | |
Für nichts schäme ich mich mehr als für unsere Beteiligung am | |
Afghanistankrieg. Wie kommt es, dass die großen deutschen Parteien diesen | |
unsinnigen Krieg trotz der schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege seit | |
acht Jahren fast widerspruchslos hinnehmen? | |
## Wo ist der Protest gegen die Unehrlichkeit dieses Krieges? | |
Peter Strucks Satz, "unsere Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt", | |
stellt die Realität auf den Kopf. Unsere Sicherheit wird durch den | |
Afghanistankrieg gefährdet. Alle Politiker wissen das. Wer Aufständische | |
mit Bomben bekämpft, tötet immer auch Unschuldige. Mit jedem unschuldig | |
Getöteten wächst der Terror nicht nur in Afghanistan, sondern weltweit. In | |
Deutschland muss der Innenminister Terroristen jagen, die der deutsche | |
Verteidigungsminister durch das Töten afghanischer Zivilisten züchtet. Wir | |
betreiben in Afghanistan ein Terrorzuchtprogramm. | |
Unwahr ist auch die gebetsmühlenartig vorgetragene Behauptung der | |
Regierung: "Wenn wir den Terror in Afghanistan nicht bekämpfen, kommt der | |
Terror zu uns." Sie erweckt den Eindruck, die Bundeswehr kämpfe in | |
Afghanistan gegen die internationale Terrororganisation al-Qaida und | |
hindere diese an Anschlägen in Deutschland. Aber selbst das Oberkommando | |
der US-Streitkräfte hat zugegeben, dass al-Qaida seit langem nicht mehr von | |
Afghanistan aus operiert. Afghanistan war gestern. | |
Die großen Ausbildungslager von al-Qaida sind seit Jahren zerstört, ihre | |
Finanzströme ausgetrocknet. Bin Laden ist laut CIA weltweit "operativ | |
weitgehend ausgeschaltet". Expräsident Bush brüstete sich schon 2004 damit, | |
dass drei Viertel der Al-Qaida-Führung gefangen oder getötet seien. Bin | |
Laden ist für den globalen Terrorismus zwar noch immer Inspiration, aber | |
nicht mehr operativer Führer. | |
Die Taliban jedoch, gegen die die Bundeswehr am Hindukusch kämpft, sind | |
nationale Aufständische, die die westliche Besatzung vertreiben wollen. Für | |
deutsche Städte interessieren sie sich genauso wenig wie seinerzeit der | |
Vietcong für die Städte Amerikas. | |
Bewusst unwahr ist auch die ständige Behauptung der Bundesregierung, "der | |
zivile Wiederaufbau Afghanistans sei uns genauso wichtig wie der | |
militärische Aspekt". In Wahrheit gibt unser Land in Afghanistan viermal so | |
viel für militärische Zwecke aus wie für echte Entwicklungshilfe. Die USA | |
mehr als zehnmal so viel. Afghanistan versinkt immer tiefer in Armut. Ein | |
Drittel der Afghanen hungert, drei Viertel haben kein sauberes Trinkwasser, | |
die Kinder- und Müttersterblichkeit ist eine der höchsten der Welt, und | |
zwei Drittel der Mädchen, denen angeblich die besondere Fürsorge unserer | |
Politiker gilt, gehen noch immer nicht zur Schule. Auf der offiziellen | |
"Entwicklungstabelle" der Vereinten Nationen ist das Land nach der | |
westlichen Invasion um sechs Plätze auf den vorletzten Platz von 182 | |
Nationen zurückgefallen. Und das nennen wir "Wiederaufbau"! | |
Einer der Gründe für dieses Ehrlichkeitsdefizit liegt darin, dass sich die | |
politische Führung Deutschlands nach 9/11 vor allem aus Bündnisgründen am | |
Afghanistankrieg beteiligt hatte. Außerdem ging man davon aus, der Krieg | |
werde bald vorbei sein. Jetzt hängen unsere politischen Eliten in einem | |
Krieg, den sie nie richtig wollten, und wissen nicht, wie sie wieder | |
rauskommen sollen. So werden immer neue Märchen erzählt, immer neue | |
Kriegsgründe erfunden. | |
## Wo ist der Protest gegen die Unmenschlichkeit dieses Krieges? | |
Die USA haben von Anfang an keinen Respekt vor der afghanischen Kultur | |
gezeigt. Bei Razzien werden bis heute fast täglich Frauengemächer | |
durchwühlt, Frauen abgetastet, Männer vor ihren Familien bloßgestellt. | |
Afghanen werden behandelt wie Indianer. | |
Dutzende Hochzeiten und Trauerfeiern wurden bombardiert. Im August 2008 | |
beispielsweise starben bei einer Trauerfeier in Asisabad 90 Zivilisten. Ich | |
habe die Tragödie von Asisabad persönlich nachrecherchiert. Der Tod der | |
Zivilisten wurde auch damals von der Nato tagelang vehement dementiert - | |
selbst dann noch, als Dorfälteste in ihrer Verzweiflung abgerissene Kinder- | |
und Frauenarme in der Moschee von Asisabad ablegten. Was wäre auf den | |
Straßen Deutschlands los, wenn bei uns derartige Massaker stattfänden? | |
Führende afghanische Politiker haben mir gegenüber erklärt, die Nato | |
bezeichne getötete Afghanen bis zum Beweis des Gegenteils fast immer als | |
"Taliban". Zwei Drittel der "getöteten Taliban" seien in Wirklichkeit | |
Zivilisten. Die Verschleierungstaktik der deutschen Regierung im Fall | |
Kundus sei keine Ausnahme, sondern die Regel. Insgesamt hätten die | |
westlichen Besatzungstruppen seit Kriegsbeginn erheblich mehr Zivilisten | |
getötet als die Taliban. Jeder Afghane wisse das. | |
Es ist gut, dass die Taliban der 90er-Jahre nicht mehr ihre totalitäre | |
Religionsdiktatur ausüben können. Sie hatten während ihrer fünfjährigen | |
Schreckensherrschaft Dutzende Menschen öffentlich in Fußballstadien | |
hinrichten lassen - eine Schande für die afghanische Kultur! Aber seit | |
Oktober 2001 wurden durch westliche Bomben nicht nur Dutzende, sondern | |
tausende unschuldige Afghanen "hingerichtet". Auch das ist eine Schande - | |
für unsere Zivilisation. | |
## Wo ist der Protest gegen die Torheit dieses Krieges? | |
Kriege in und gegen Afghanistan sind nicht zu gewinnen. Präsident Obama | |
weiß das. Er will Frieden, aber er hat weder die Kraft noch den Mut, ihn | |
innenpolitisch durchzusetzen. Wie alle kriegführenden Staatschefs fürchtet | |
er, bei einem frühen Truppenabzug als Verräter der Sicherheitsinteressen | |
seines Landes dargestellt zu werden. Also verschärft er den "Krieg gegen | |
al-Qaida", obwohl dieser in Afghanistan gar keine Rolle mehr spielt, um | |
irgendwann später - möglichst nach einem Sieg über wen auch immer - | |
politisch ungeschoren wieder aus dem Krieg herauszukommen. Er unterscheidet | |
sich damit in nichts mehr von anderen Kriegspräsidenten. Alle wollten erst | |
den Gegner niederringen und dann Frieden. Selbst George W. Bush. | |
Die USA hatten die Zahl ihrer Soldaten in Afghanistan in den letzten 18 | |
Monaten schon einmal verdoppelt. Das Experiment ging schon damals daneben. | |
Selbst Präsident Karsai ist im persönlichen Gespräch entschieden gegen mehr | |
US-Truppen und mehr deutsche Kampfeinsätze. Doch was zählt schon die | |
Meinung eines afghanischen Präsidenten, den man einst selbst eingesetzt | |
hatte? Die afghanischen Stammesältesten hat man gleich gar nicht gefragt. | |
Die Anhänger von Truppenaufstockungen verweisen auf das "Modell Irak". Dort | |
habe 2007 ein "Surge" von 28.500 Soldaten zu einem drastischen Rückgang der | |
Gefallenenzahlen geführt. Wie die meisten Behauptungen zum Irakkrieg ist | |
auch diese nicht einmal die halbe Wahrheit. Die Verringerung der Zahl | |
gefallener GIs liegt dort vor allem daran, dass sich die US-Truppen | |
inzwischen tief in ihre Stützpunkte eingegraben haben und sich tagsüber | |
kaum noch auf die Straße trauen. Außerdem kämpft der irakische Widerstand | |
inzwischen mit angezogener Handbremse, weil die USA seit zwei Jahren | |
riesige Geldbeträge an die ausgebluteten Stämme zahlen und unübersehbar die | |
weiße Fahne der Abzugsbereitschaft gehisst haben. Dieses taktische Patt | |
kann jedoch jederzeit zerbrechen - wann immer der Widerstand es will. | |
Allein in Bagdad kommt es täglich auch heute noch zu durchschnittlich zehn | |
oft schweren militärischen Zwischenfällen. Ich war 2009 zweimal in diesem | |
zerbrochenen Land. Nie in meinem Leben habe ich deprimiertere Menschen | |
getroffen - egal ob Sunniten oder Schiiten. Es ist zynisch, das | |
zubetonierte Hochsicherheitsgefängnis Irak mit seinen Millionen Witwen und | |
Waisen, seinen verzweifelten, gefolterten und betrogenen Menschen als | |
Erfolgsmodell für Afghanistan anzupreisen. | |
Auch der internationale Terrorismus wird durch Obamas "Surge" nicht | |
abnehmen, sondern zunehmen. Terrorismus ist eine Ideologie. Man kann sie | |
nicht in Grund und Boden bomben. Man muss ihre Ursachen beseitigen. | |
Hauptursache des globalen Terrorismus ist die seit Beginn des westlichen | |
Kolonialismus nie endende, entwürdigende Ungerechtigkeit des Westens | |
gegenüber der muslimischen Welt. Dieser Motor des Terrorismus lässt sich | |
weder durch die Verschärfung des Afghanistankriegs noch durch eine | |
Ausweitung der Luftschläge auf den Jemen oder Somalia abstellen, sondern | |
nur durch einen gerechten Frieden in Afghanistan, im Irak und in Palästina. | |
Trotzdem gibt der Westen für seine kontraproduktive Antiterrorstrategie | |
Jahr für Jahr immer astronomischere Beträge aus. Er hat hierfür | |
fundamentale zivilisatorische Errungenschaften geopfert oder eingeschränkt | |
- das Recht auf freie Kommunikation, das Recht auf richterliche Anhörung, | |
das Folterverbot, das Verbot von Angriffskriegen - und ganz nebenbei seine | |
Glaubwürdigkeit. Aus dem Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen | |
zentrale Ideale unserer Zivilisation geworden. | |
Politiker sind dazu da, Probleme durch Politik zu lösen, nicht durch | |
Kriege. Genau das hatte die Welt von Obama erwartet - und sie erwartet es | |
eigentlich immer noch. Niemand hindert den US-Präsidenten daran, eines | |
Tages doch noch das Richtige zu tun. Und es gibt sehr wohl Alternativen zu | |
seiner Kriegspolitik. | |
1) Präventive Verhandlungen statt präventiver Kriege. Statt auf Kriege | |
sollte der Westen auch im Afghanistankonflikt auf Verhandlungen im Stil der | |
KSZE setzen - jener "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in | |
Europa", die in den 70er- und 80er-Jahren mithalf, den Ost-West-Konflikt zu | |
überwinden. An dieser Langfrist-Konferenz Afghanistans mit seinen Nachbarn | |
müssten neben dem UN-Sicherheitsrat alle Akteure der Region teilnehmen - | |
Afghanistan, Pakistan, Indien, Iran und Russland. Die Länder am Hindukusch | |
können ihre Probleme nicht alleine lösen. | |
2)Verhandlungen der USA mit den afghanischen Taliban. Den demnächst 130.000 | |
bis 140.000 westlichen Soldaten aus 43 Ländern stehen gerade einmal 15.000 | |
afghanische Taliban gegenüber. Die Führung dieser kleinen Guerillatruppe | |
hat aus ihren schrecklichen Fehlern der Vergangenheit möglicherweise | |
manches gelernt. Sie setzt sich - anders als die viel brutaleren | |
pakistanischen Taliban - mittlerweile sogar für den Schulbesuch von Mädchen | |
ein und lässt diesen laut New York Times in einigen der von ihr | |
beherrschten Gebiete schon heute zu. Die USA werden mit den afghanischen | |
Taliban verhandeln müssen, so wie sie mit dem Vietcong verhandeln mussten. | |
Wer Frieden will, muss bereit sein, mit seinen Todfeinden zu verhandeln, | |
nicht nur mit seinen Freunden. | |
3) Schulen statt Bomben. Wenn die USA wenigstens ein paar Jahre lang auch | |
nur die Hälfte der 30 bis 40 Milliarden Dollar, die die 30.000 zusätzlichen | |
GIs kosten werden, für den Wiederaufbau Afghanistans und Pakistans zur | |
Verfügung stellen würden, könnten sie die Herzen deren Völker doch noch | |
gewinnen. Mit der einen Million Dollar, die ein einziger zusätzlicher GI | |
pro Jahr kostet, kann man am Hindukusch 20 Schulen bauen. Ein mit Dollars | |
beladener Esel kommt am Hindukusch weiter als jede Panzerarmee. | |
Den Abschluss des afghanischen Friedensprozesses, der zum Abzug aller | |
Nato-Truppen aus Afghanistan in spätestens drei Jahren führen muss, könnten | |
eine große Ratsversammlung (Loja Dschirga) oder freie Wahlen bilden. Zu | |
beiden müssten auch die afghanischen Taliban zugelassen werden. Ihre | |
Sprecher haben öffentlich erklärt, dass sie im Interesse der nationalen | |
Aussöhnung bereit seien, deren Ergebnisse zu akzeptieren. Das ist | |
bemerkenswert, da selbst Freunde der Taliban diesen bei Wahlen allenfalls | |
10 bis 20 Prozent zutrauen. Offenbar sehnen sich nach 30 Jahren Krieg | |
selbst manche Taliban nach Frieden. | |
In der Flammenhölle von Kundus ist vieles zerstört worden: Die kleine Welt | |
bettelarmer afghanischer Familien, die aus den steckengebliebenen | |
Tanklastwagen eigentlich nur einige Liter kostenloses Benzin abzapfen | |
wollten. Und Deutschlands weltweites Ansehen als kraftvolle Friedensmacht. | |
Sollte Deutschland gegenüber Afghanistan jemals eine zivilisatorische | |
Überlegenheit gehabt haben, so ist sie spätestens mit den brennenden | |
Menschen von Kundus und den unangemessenen Kommentaren der Bundesregierung | |
verloren gegangen. Deutschland ist kalt geworden, seit es wieder Krieg | |
führt. | |
25 Jan 2010 | |
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