# taz.de -- NS-RAUBKUNST: Kirchner macht's möglich | |
> Museen und Bibliotheken leuchten ihre Bestände nach Kunstwerken jüdischer | |
> Sammler aus, die in der Nazizeit um ihren Besitz gebracht und nicht | |
> entschädigt wurden | |
Bild: Wurde 2006 restituiert: Ernst-Ludwig Kirchners "Straßenszene" | |
Wenn von der ebenso spektakulären wie umstrittenen Rückgabe und | |
Auktionierung der "Berliner Straßenszene" von Ernst Ludwig Kirchner aus dem | |
Brücke-Museum für Berlin etwas geblieben ist, dann ist es eine neue | |
Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem Thema Restitution. | |
Statt mit Glacéhandschuhen, wie es lange Praxis war, will jetzt das Land | |
Berlin die Rückgabe von NS-verfolgungsbedingten Kunstverlusten an die Erben | |
jüdischer Sammler aus seinen Museen, Depots oder Bibliotheken konkret | |
anfassen. Zusätzlich zu den Mitteln von 1 Million Euro aus dem Etat des | |
Staatsministers für Kultur und Medien stellt der rot-rote Senat ab 2010 | |
jährlich 300.000 Euro für die Provenienzforschung und Suche nach | |
NS-Raubkunst zur Verfügung. | |
Als "nahe liegend" bezeichnet Staatssekretär André Schmitz etwas trocken | |
die Initiative. Er vermutet - sicher zu Recht - "auch nach Kirchner unklare | |
Besitzverhältnisse" von Kunstwerken in den kulturellen Leuchttürmen der | |
Stadt. Das Berliner Reichshauptamt war Zentrum und Verteilstation für die | |
vom NS-Regime ab 1933 im Deutschen Reich, später auch in den besetzten | |
Ländern, gestohlenen Kunstwerke aus jüdischem Besitz. Fraglos landeten | |
Teile von diesem direkt, über den Kunsthandel oder aus unrechtmäßigem | |
NS-Eigentum in Berliner Sammlungen. | |
Mit Sicherheit bedeutsamer als die pure Nachricht über die | |
300.000-Euro-Zulage ist, dass die Verantwortlichen in den Berliner Museen | |
und Bibliotheken sich inspiriert zeigen vom aufklärerischen und moralischen | |
Anspruch sowie den Mitteln für Personal und Material. Als wollte man den | |
ramponierten Ruf seit dem "Fall Kirchner" vergessen machen, stürzen sich | |
die Einrichtungen auf das Thema, das sie bislang eher liegen ließen, um | |
keine Verluste hinnehmen zu müssen. Die teils neuen Direktoren unterstützen | |
das Aufgabengebiet. Sieben neue Stellen zur Provenienzforschung wurden - | |
und werden bis 1. April - geschaffen und besetzt. Provenienzforschung | |
stellt kein Schattenreich mehr der Museen dar, wie der Leiter des | |
Frankfurter Städel, Max Hollein, die Vergangenheitsbewältigung einmal | |
nannte. Die Übernahme von Verantwortung, sich sowohl dem tausendfachen | |
Kunstraub der Nazis als auch der eigenen Rolle - oder gar Mitschuld an | |
geraubtem oder verkauftem jüdischem Besitz - während und nach dem Zweiten | |
Weltkrieg zu stellen, scheint bei den Berliner Museumshäusern angekommen. | |
"Das ist eine wichtige Sache, der wir uns jetzt noch ernsthafter widmen | |
können", sagt Claudia Lux, Direktorin der Berliner Zentral- und | |
Landesbibliothek. Mehr als 40.000 Bücher aus vermutlich jüdischem Besitz in | |
dem 3-Millionen-Bücher-Bestand ihrer Bibliotheksregale lässt sie auf die | |
Herkunft erforschen. Es gelte, dem "herrenlosen Gut" wieder ein Gesicht zu | |
geben. "Die Untersuchung der Bestände ist notwendig", obwohl vielfach die | |
Herkunft von Kunstobjekten "geklärt und restituiert wurde", meint auch | |
Franziska Nentwig, Direktorin der Stiftung Stadtmuseum. | |
Außer der Berliner Zentral- und Landesbibliothek und der Stiftung | |
Stadtmuseum, die 260 Bilder unter die Lupe nimmt, profitieren weitere | |
Einrichtungen von den Zuwendungen für Provenienzforschung. Die Werke des | |
Expressionismus stehen im Brücke-Museum erneut auf der Provenienzliste. Die | |
Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) sowie die Neue Nationalgalerie | |
untersuchen ihre "Galerie des 20. Jahrhunderts" mit Werken von Pablo | |
Picasso, Ernst Ludwig Kirchner, Max Beckmann, Otto Dix oder Paul Klee. 130 | |
Gemälde und Grafiken aus Berliner Landesbesitz und Bestände der Staatlichen | |
Museen, die zwischen 1947 bis 1951 erworben wurden, werden auf | |
Herkunfts-Leerstellen begutachtet. "Deren Provenienz soll systematisch | |
überprüft werden", sagt Birgit Jöbstl von der SPK. "Dies ist nicht durch | |
konkrete Rückgabeersuchen veranlasst", so Jöbstl. "Zu dem Werkkomplex hat | |
es aber in der Vergangenheit wiederholt Anfragen gegeben, und wir stellten | |
fest, dass die Provenienzen nicht vollständig bekannt sind." | |
Schließlich durchforstet die Berlinische Galerie ihre Archive und Bestände. | |
Spektakulär - wie Rückgaben meist inszeniert werden - ist die Arbeit nicht: | |
Eher ist sie detektivisch, in einem Büro im Nebentrakt des Museums, oft | |
tief im Archiv und mit viel Wissen aufgeladen um Kunst aus jüdischem | |
Besitz, deren Geschichte, Herkunft - und Verschwinden. | |
Ein Tisch mit Laptop, Kataloge, originale Rechnungen, Korrespondenzen und | |
Handschriften aus dem Nachlass des Kunsthändlers Ferdinand Möller (1882 bis | |
1956) bilden beispielsweise den Arbeitsplatz von Wolfgang Schöddert. Als | |
"Tiefenforschung" bezeichnet der Kunsthistoriker seinen Job in der | |
Berlinischen Galerie. Blatt für Blatt kämmt er den Nachlass aus dem | |
Möller-Archiv durch. Künstler, Kunstwerke, Besitzer, Verkäufe, das Datum, | |
die Preise, die korrekten oder verschlungenen Wege der 6.500 Bilder und | |
Grafiken, die insbesondere in den 30er-, 40er- und 50er-Jahren über den | |
Ladentisch gegangen oder in die Bücher des berühmten Berliner und späteren | |
Kölner Kunsthändlers eingeflossen sind, prüft und listet Schöddert auf. Ein | |
Beckmann, die Expressionisten Nolde, Kirchner, Heckel und Feininger oder | |
der Abstrakte Kandinsky sind darunter. Die Ergebnisse speichert er in | |
einschlägige Lost-Art-Datenbanken ein. | |
"Die Auseinandersetzung mit dem Kunsthandel jener Zeit" hält Schöddert für | |
den Königsweg in der Provenienzforschung. Rätsel über die Herkunft der | |
Bilder, die Familie, den verlustreichen Verkauf vor dem Exil oder dem Weg | |
in die Vernichtung können gelöst werden. Der mögliche Raub oder der | |
Verbleib sowie unterschiedliche Besitzer, die Eigentumsrechte und | |
unrechtmäßige Aneignung lassen sich hier dechiffrieren. | |
Das Geschäft Kunsthandel ist konkret. Es hinterlässt Spuren - | |
möglicherweise bis in andere Museen oder hinunter in die eigene | |
Gemäldegalerie. "Ich kann nicht sagen, ob etwas herauskommt wie bei | |
"Kirchners Straßenszene", sagt der Forscher. "Ich weiß nur, es ist nötig, | |
die Provenienzforschung zu machen." | |
Kirchner und immer wieder Kirchner. Auch Torsten Wöhlert, Sprecher der | |
Kulturverwaltung, meint, dass "ohne den Fall Kirchner" an die 300.000 Euro | |
Forschungsgelder und das neue Engagement der Museen und Bibliotheken "nicht | |
zu denken gewesen wäre". | |
Es ist gut, dass man nun so denkt - trotz oder auch wegen der Rückgabe der | |
"Straßenszene" im Jahr 2006. Zugleich provoziert das die Frage, warum man | |
sich beim Land Berlin und in den Berliner Kulturinstitutionen erst 12 Jahre | |
nach der "Washingtoner Erklärung" von 1998 und vier Jahre nach "Kirchner" | |
aufmacht, fragwürdige oder verdächtige Bestände auf ihre Herkunft und | |
Eigentümerschaft zu durchleuchten. Das Argument, es gebe "keine bedrohten | |
Bilder" mehr, das man aus dem Brücke-Museum hörte, mag im Einzelfall | |
stimmen. | |
Vielfach stimmt es aber nicht. 76 Kunstobjekte hat die Potsdamer Stiftung | |
Schlösser und Gärten in letzter Zeit zurückgegeben. 23 Restitutionen von 30 | |
Rückgabeersuchen waren es bei der SPK, die seit der Präsidentschaft Hermann | |
Parzingers 2008 die Provenienzforschung weit oben angesiedelt hat. Der Weg | |
des Welfenschatzes nach Berlin 1935 wurde gerade untersucht. International | |
warten 423 Kunstwerke an die Erben Heinrich von Lehndorfs auf | |
Restitutionsentscheidungen, ebenso Vermeers "Malkunst". Geklärt wurde im | |
Februar 2010 der Besitz von "Le Mur rose" von Henri Matisse, den dann das | |
Jüdische Museum Frankfurt aus Privatbesitz erwarb. | |
Schwer verständlich ist die Berliner Langsamkeit zudem, weil das Thema | |
Restitution seit dem Amtsantritt Bernd Neumanns als Staatsminister für | |
Kultur geradezu boomt und eine neue Generation von Museumsdirektoren in | |
Frankfurt, Hamburg, der SPK oder in Potsdam die Geschichte ihrer Häuser in | |
der NS-Zeit und danach sowie die Provenienz der Werke dokumentieren lassen. | |
Den "Druck" zur Aufklärung, der nun auf den Berliner Institutionen lastet, | |
findet Wolfgang Schöddert gar nicht schlecht. Der "Blick zurück" werde nun | |
"intensiver" auf das Thema Provenienz gelenkt. Und Claudia Lux sagt offen, | |
was früher nicht einmal gedacht werden durfte: "Unser Interesse ist die | |
Rückgabe." Kirchner machts möglich. | |
24 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Rolf Lautenschläger | |
## TAGS | |
NS-Raubkunst | |
Raubkunst | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Restitution von Kandinsky-Gemälde: Verfolgungsbedingt entzogen | |
Eine Kommission empfiehlt, Kandinskys Gemälde „Das Bunte Leben“ an die | |
Erben der ursprünglichen jüdischen Besitzer zurückzugeben. | |
Streit um legendären Welfenschatz: Zur Sache, Schätzchen | |
Die Auseinandersetzung um den Welfenschatz geht weiter. Nun tagt die | |
Limbach-Kommission. Auch die israelische Regierung mischt mit. |