# taz.de -- Jeff Jarvis über neuen Journalismus: Liebt Eure Leser! | |
> Leserkommentare verbessern den Journalismus, sagt Jeff Jarvis. Man müsse | |
> nur die Guten fördern. Ein Gespräch mit dem renommierten | |
> Journalistik-Professor über bessere Medien, Google und Datenschutz. | |
Bild: "In Deutschland liebt man den Datenschutz, geht aber in die Gemischtsauna… | |
taz: Herr Jarvis, ist jede Meinungsäußerung im Netz wertvoll? | |
Jeff Jarvis: Das Problem mit Kommentaren ist, dass sie deine Community | |
sprengen können. | |
Wie das? | |
Wenn da welche sind, die einfach ihre Meinung an die Wand schmieren und | |
dann davonrennen, ohne auf Gegenargumente einzugehen, dann wird es | |
kritisch. Die netten Leute machen dann irgendwann nicht mehr mit. So | |
sieht's zurzeit aus mit Leserkommentaren. | |
Gibt es da denn überhaupt einen Ausweg? Oder ist das Web 2.0 gescheitert? | |
Doch doch! Es gibt einen Ausweg: Wir müssen endlich über die Guten | |
sprechen. Wir sollten die Guten stärken, anstatt mit dem Holzhammer auf die | |
Schlechten zu schlagen. | |
Wie kann das denn in der Praxis funktionieren? | |
Ich schreibe für den Guardian. Da gibt es sehr gute Ideen, um die Guten zu | |
stärken. Zum Beispiel gibt es einen Wettbewerb um den „besten | |
Leserkommentar“. Und: Lernt von Twitter! Wenn einer langweilig ist, ein | |
Spammer oder ein Arschloch – ignoriere ihn! Du kannst ihn blocken und musst | |
seine Kommentare nicht mehr lesen. Dieses Prinzip lässt sich auf andere | |
Kommentarspalten übertragen. Das erfordert natürlich Energie: Man muss viel | |
mehr schauen, wer die eigene Community ist und mit ihr gemeinsam daran | |
arbeiten, Journalismus zu verbessern. | |
Journalismus zu verbessern durch Leserkommentare? | |
Aber ja! Sollte die Öffentlichkeit nicht auch daran mitwirken, Journalismus | |
zu verbessern? Ich finde schon. Wenn etwas Falsches in einem Artikel steht, | |
dann können Anmerkungen von Dritten sehr hilfreich sein. Vor allem, wenn | |
man diese Information erhält, bevor der Artikel in Druck geht. Die | |
Öffentlichkeit kann mithelfen. Die Journalisten müssen nur offen sein. | |
Geht es online nicht mehr anders? | |
Da geht es nicht um „online“, es geht um ein neues Geschäftsmodell. Wir | |
können über das Netz zusammenarbeiten und Netzwerke knüpfen. Große | |
Netzwerke, Big Media! Gerade für kleinere Zeitungen bietet das großartige | |
Perspektiven. Sie können es sich nicht leisten, Lokalteile für überall | |
anzubieten. Ihr könnt nicht jeden Kiez in Berlin oder jedes Land im Ausland | |
abdecken – aber eure Blogger können das. Die hingegen profitieren von euch, | |
indem ihr ihnen die Möglichkeit verschafft, Geld zu verdienen. | |
Wir sollen jetzt auch noch Blogger bezahlen? | |
Das funktioniert. Die Blogger produzieren ja Inhalte, Artikel. Damit macht | |
eure Zeitung dann wieder mehr Profit. Gibt es hier in Berlin nicht viele | |
arbeitslose Journalisten? Denen könnt ihr neue Perspektiven geben! Man muss | |
die Leute natürlich ernst nehmen. Die bei der New York Times haben zuerst | |
die Blogger-Artikel zu stark redigiert. Man wollte, dass sie zum Stil der | |
New York Times passen. Das hat so nicht funktioniert. | |
Das Berufsbild des Journalisten würde sich dann ändern ... | |
Ja, er wird vom Artikelproduzenten zum Community-Manager. Aber Journalismus | |
bleibt wichtig, und wir brauchen auch weiterhin Journalisten. Journalisten | |
werden zu Lehrern für Medienkompetenz. Medienkompetenz bedeutet nicht, | |
Medien zu konsumieren, sondern sie selbst zu produzieren. Die neue Rolle | |
des Journalisten ist: Erschaffen, managen, rekrutieren. | |
Und auch die Form von Journalismus ändert sich. Das Produkt wird zum | |
Prozess. Beispiel Wikipedia: Sie setzt sich schon aus Artikeln zusammen, | |
diese werden aber laufend geändert. Ein Wikipedia-Artikel ist eine | |
Momentaufnahme. Twitter hingegen ist ein Update-Fluss. Und man denke auch | |
Google Wave, im Prinzip ein wunderbares Real-Time-Kollaborations-Tool. | |
Google Wave? Das können wir nicht benutzen, wir riskieren dann einen | |
Image-Schaden. | |
Argh! Google ist nicht böse! Google war die einzige Kraft, die aufgestanden | |
ist für die Menschen in China. Google Wave ist Open Source, jeder kann es | |
sich auf seinem Server installieren. Niemand weiß mehr über das Netz als | |
Google, keiner ist da kompetenter. Wenn du sagst: „Google ist böse“, hörst | |
du dich an wie Axel Springer. | |
In Deutschland ist Google Street View auch ein großes Thema. | |
Ich sehe in dieser Diskussion eine Gefahr: Wenn wir Google verbieten, | |
öffentlich einsehbare Gebäude zu fotografieren, dann werden Journalisten | |
und Fotografen das auch irgendwann nicht mehr dürfen. | |
Wenn du das Private zum Normalfall erklärst, dann verlieren wir das | |
Besondere, das dem Netz innewohnt: Interaktion. Du kannst nur mit anderen | |
interagieren, wenn du öffentlich bist. Deswegen meine ich, dass gerade | |
Journalisten das Öffentliche verteidigen müssen. Privatisierung ist | |
Diebstahl! Wir brauchen eine Diskussion über Öffentlichkeit. Ich glaube, | |
dass sich eine Denkweise durchsetzen wird, die das „nicht teilen“ von | |
Information als egoistisch ansieht. | |
Die Zeit nach der Privatsphäre? Bringt es die Welt weiter, wenn wir alle | |
beim Sex gefilmt werden? | |
Das ist damit nicht gemeint. Privatsphäre hat viel mit persönlichen | |
Entscheidungen zu tun, mit Selbstbestimmung. Wir selbst sollten es sein, | |
die die Kontrolle über unsere persönlichen Daten haben. Und über unsere | |
unterschiedlichen Identitäten, mit denen wir im Netz auftreten. Das Problem | |
an der Debatte ist: Es geht immer nur um Privatsphäre, um Datenschutz. Wenn | |
wir aber Datenschutz als Normalfall haben, dann verlieren wir den Wert des | |
Öffentlichen. Ich möchte beides in Einklang bringen. | |
Wer sollte denn dafür sorgen? | |
Die Leute selbst. Alles eine Frage der Medienkompetenz. | |
Wäre dafür denn überhaupt eine kritische Masse vorhanden? | |
Ich komme aus Amerika, wir reden eine Menge über uns selbst. (lacht). | |
Bei uns ist das anders … | |
Ja, bei euch liebt man den Datenschutz, geht aber in die Gemischtsauna. Das | |
kann ich als Amerikaner nicht verstehen. Jedes Land ist anders. Das Schöne | |
ist aber: Es gibt ein neues Land, nämlich das Internet. Gestern, während | |
meines Vortrags, kommentierte einer: Meine Töchter leben mehr im Internet | |
als in Deutschland. | |
15 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
Julia Seeliger | |
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