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# taz.de -- Zukunft des Journalismus: Immer schön locker bleiben
> Todd Gitlin ist Journalismus-Professor an der Columbia University, New
> York. Die Verlagskrise begann doch schon vor dem Internet, sagt er. Ein
> Besuch am Wannsee.
Bild: Wohin uns das Internet bringen wird, ist noch nicht so richtig klar. Angs…
BERLIN taz | Anders als ein Besuch in der Berliner US-Botschaft ist der
Zugang zur American Academy am Wannsee kinderleicht: ein Tor, daneben ein
Türchen, und noch bevor man klingeln kann, wird einem schon aufgetan von
einer Dame, die das Gelände verlässt.
Kein Pförtner, nirgends; erst mitten im Haupthaus fragt ein freundlicher
Herr, was oder wen man denn hier wohl wünsche an diesem heißen
Spätnachmittag im Frühsommer.
Der Gewünschte heißt Todd Gitlin und dirigiert den Gast wenig später in die
Bibliothek der Academy. Gitlin ist eine Ikone der amerikanischen Linken,
seit den Protesten in Berkeley 1968 war der 68-jährige Soziologe stets zur
Stelle, nicht zuletzt als Mitorganisator der ersten US-weiten Demonstration
gegen den Krieg in Vietnam. Aktuell ist er Professor für Soziologie und
Journalismus an der Columbia University in New York.
## Gitlin und die Selbstzweifel
Gitlin verbringt gerade ein paar Wochen in Berlin, um ein Buch über die
Zukunft der Medien und des Journalismus in Zeiten des Internets zu
schreiben. Beim taz-Kongress im April saß er auf einem Panel über die
Situation in den USA, doch wenn man ihn nun fragt, wie die Arbeit laufe,
verzieht er das Gesicht: Bis heute Mittag hätte er noch mit "ziemlich gut"
geantwortet, sagt Gitlin, doch jetzt seien da Selbstzweifel aufgetaucht,
auch weil er in den letzten Tagen nicht richtig zum Arbeiten gekommen ist.
Vorgestern war Bill Clinton da, um Helmut Kohl zu ehren, der ganz große
Bahnhof. "Da wären Sie nicht so leicht reingekommen wie heute, das war wie
am Flughafen und in jedem Raum noch drei Sicherheitsbeamte", sagt Gitlin,
serviert persönlich schwarzen Kaffee und lässt sich in einen Sessel
plumpsen.
Die neue Informationsordnung also ist sein Thema, bei der alle "always on"
und "always connected" sind, wie Gitlin sagt - und deshalb etablierte
Ordnungsmechanismen und Autoritäten ins Rutschen kommen. "Diffused
authority" nennt er das, diffundierende Autorität, "wir müssen uns neu
fragen, wem vertrauen wir, wem folgen wir, wen nehmen wir ernst". Was ihn
fasziniert, ist die völlig neue Machtbalance, die daraus resultiert - und
von der noch niemand weiß, wie sie aussieht.
Gitlin kommt gerade aus Kairo. Dort war er im März Distinguished Visiting
Professor an der American University - für immerhin eine runde Woche vom
23. bis zum 29. - und hält das Gerede von der "Facebook-Revolution" für
"arg übertrieben". Klar sei, dass sich dort "neue Kanäle zur
Informationsbündelung" aufgetan hätten - horizontal verbreitet und nicht
wie bei klassischen Massenmedien üblich in die Tiefe.
## Kaskaden-Effekt wichtiger als Facebook
Doch mehr als die Nutzung sozialer Netzwerke zur Nachrichtenübermittlung
interessiert ihn der Kaskaden-Effekt: "Mir erscheint vor allem diese
Geschichte eines Angestellten aus der Uni-Verwaltung symptomatisch: ein
Mann Mitte 40, alles andere als ein Politaktivist oder Technikfreak - doch
wurde er von Tag zu Tag engagierter, und bestimmter im Ziel, das Regime zum
Rücktritt zu zwingen."
Wobei Gitlin davor warnt, das alles schrecklich neu zu finden: "Die
Französische Revolution lief ganz ähnlich ab", nur gehe es heute wesentlich
schneller: "Dominique Strauss-Kahn konnte sich keine 36 Stunden halten",
sagt Gitlin. Und dann ist da noch die "Cute Cat Theory", nach der jedes
Medium, das wie YouTube in der Lage ist, Bilder von niedlichen Kätzchen zu
verbreiten, auch benutzt werden kann, um Regierungen zu stürzen.
Die Welt dreht sich also schneller, das Netz weiß immer mehr - und dieses
Wissen wird immer stärker von allen geteilt und parallel verarbeitet.
"Menschen mögen es, eingebunden zu sein und zu reagieren - selbst wenn es
nur der ,Gefällt mir'-Button bei Facebook ist." Gitlin spricht vom
"connecting the dots", dass es darum gehe, diese vielen Einzelpunkte zu
verbinden. Für den Journalismus, aber auch Administrationen und jeden
Einzelnen bedeutet das ein radikales Umdenken. Doch das scheint für ihn
aber nicht wie für manch andere per se bedrohlich, eher im Gegenteil. "Man
fühlt sich ,information rich', also gut informiert. Ist das ein Trick?
Natürlich! - aber man mag es trotzdem lieber so", sagt Gitlin und lehnt
sich zurück.
## Schirrmachers "Payback"
Über ihm im Bücherregal prangt ein Exemplar von Frank Schirrmachers
"Payback". Doch von einer "kognitiven Krise", die der FAZ-Salonpessimist
beschwört und der daher den freien Willen wie den Humanismus gegen eine
maschinengesteurte Informationsüberlast verteidigen will, vermag Gitlin
nichts zu erkennen. "Da draußen existiert ein Riesenhunger: Die Menschen
wollen sich involviert fühlen, erliegen aber weiter einer gemeinsamen
Illusion." Denn auch die neuesten Computerspiele täten eben nur so, als ob
sie den User "mitspielen" ließen: "Alles, was man in einem Computerspiel
macht, ist im Skript festgelegt. Natürlich betrügt eine kritische Masse
dabei und fühlt sich dem System daher überlegen. Aber sie begreifen nicht,
dass auch diese Möglichkeit - der Betrug - im Skript längst vorgesehen
ist."
Und selbst diese "mutual mystification", diese Art Täuschung auf
Gegenseitigkeit, sei nichts Neues, sagt Gitlin. Schon immer hätten die
Menschen gern Zauberkünstlern zugesehen. "Nicht, weil sie an Magie
glaubten, sie wussten, das ist ein Trick. Aber sie wollten den Trick
aufgeführt sehen, miterleben - daran hat sich bis heute nichts geändert."
Das Unwohlsein über diese Entwicklung beschleiche daher vor allem Menschen
und Organisationen, die sich nur schwer an die neuen Netzgegebenheiten
anpassen könnten. Zeitungsverlage zum Beispiel, die Gitlin zumindest mit
Blick auf die Situation in den USA unumwunden "dinosaur organisations"
nennt. Und für die er trotzdem eine Art "frohe Botschaft" in petto hat:
"Ich habe keine Zweifel, dass es auch künftig Zeitungen geben wird - sogar
in den USA", widerspricht er genüsslich US-Prophezeiungen, die die letzte
gedruckte Zeitung 2030 in der Mongolei verorten. "Wir reden allerdings über
deutlich niedrigere Auflagen - Zeitungen werden wieder ein Elite-Phänomen:
Shopping for news will be like shopping for socks - some like it cheap,
some want high profile brands." Nur dass im Netz mit Blick auf News den
Menschen vorgegaukelt werde, da gäbe es Socken umsonst.
## Der Niedergang des US-Zeitungsmarkts begann früher
Die tiefe Krise, der Beinahezerfall im US-Zeitungsmarkt hat dabei nach
Gitlins Sicht gar nicht so viel mit dem Internet zu tun - der Niedergang
begann viel früher. "Viele Zeitungen in den USA kränkelten schon seit den
1980er Jahren, aber schafften es immer noch, nach außen ziemlich gesund
auszusehen", sagt Gitlin: "Sie kauften sich gegenseitig auf, die
landesweiten Zeitungsketten entstanden, und vor allem die Aktienkurse
stiegen und stiegen." Doch die Investoren hinter den Konzernen wollten
ernten, "Gewinn- und Renditemaximierung war alles - und genau ab diesem
Punkt ging es schief."
Doch haben das Netz und die Gratiskultur nicht dafür gesorgt, dass es heute
in den USA rund ein Drittel weniger JournalistInnen gibt als vor rund 20
Jahren - und viele von denen, die noch Arbeit haben, das mit enormen
Abstrichen beim Gehalt bezahlen? "Klar", sagt Gitlin. Nur - "der
Mediensektor, insbesondere Zeitungen, waren schon immer im Fluss". Und weil
derzeit niemand genau wisse, wohin die Reise gehe, "sehen wir eben einen
guten Schuss Existenzangst bei den traditionelleren Medienunternehmen". Der
Medienriese Time Warner reagierte panisch, als er 2001 AOL übernahm, sagt
Gitlin, "und wir alle wissen, was dabei herauskam - Time Warner hatte aufs
falsche Pferd gesetzt, AOL ist längst nicht mehr vorn im digitalen Geschäft
- es wurde eine der teuersten Scheidungen der Wirtschaftsgeschichte." Sie
ist gerade einmal knapp zwei Jahre her.
"Die Grundstimmung ist Panik", sagt Gitlin noch mal mit Extrabetonung -
dabei wisse man ja nicht mal, "ob in fünf Jahren nicht selbst Facebook
schon wieder Geschichte ist."
## Sicherheit gibt es nicht
Was bleibt, sei, es immer wieder zu versuchen: "Es gibt keine
allgemeingültige Antwort darauf, was heute im Netz nachhaltig ist - und vor
allem bleibt." Die meisten großen Medienkonzerne hätten aber immer noch
genügend Geld, um zu experimentieren - "aber viele tun es nicht", so
Gitlin. Doch wer Sicherheit zur Bedingung mache, bevor investiert werde,
sei "schlicht verrückt: Wer bitte hätte denn 1928 gewagt, die Zukunft und
weitere Entwicklung des Radios mit Garantie vorauszusagen?", fragt Gitlin
und guckt triumphierend.
In diesem Fall werde ihm im Vergleich zu den vielen medialen
Bedenkenträgern ja sogar der eigentlich verhasste Rupert Murdoch wieder
ansatzweise sympathisch, gibt der große alte Mann der Linken zu - und
schüttelt sich ein bisschen. Denn Murdoch "ist auf seine Weise
revolutionär", sagt Gitlin und lobt das "Draufgänger- und Freibeutertum"
des mittlerweile 81-jährigen Medienzaren, der es bei seiner Londoner Times
gerade mit einer Paywall versucht.
Doch bevor man nun erörtern kann, ob dieses Lob des Freibeuters nicht ganz
neue Sichtweisen auf Old-School-Themen wie Internetpiraterie wirft, ist die
Zeit um. Gitlin ist schon wieder verabredet, und was die eigene
Verunsicherung angeht, da hoffe er, "dass die spätestens weg ist, wenn es
Abendessen gibt".
18 Jun 2011
## AUTOREN
Steffen Grimberg
## TAGS
Zeitung
taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“
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