Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Junge Utopien VI: Uni der Unerhörten
> Die Universität der Zukunft muss den Ausgegrenzten gehören. Das deutsche
> Bildungssystem begünstigt immer noch die, die privilegiert sind.
Bild: Abiturprüfung: Für die "Uni von unten" ist sie überflüssig.
Die Universität als Institution ist in der Krise. Mit ein bisschen
Exzellenzinitiative und neuen Studienstrukturen, mit hier mehr Wettbewerb
und dort mehr Selektion ist es nicht getan, will man ihre Starre
überwinden. Wer die Uni retten will, muss sie neu erfinden.
Und wer heute über eine Universität von morgen nachdenken will, kann nicht
am gestern anknüpfen. Denn dieses Gestern ist die Geschichte einer
Ausgrenzung. Das deutsche Bildungssystem gehört zu den sozial selektivsten
der Welt. Bildungsbiografien, zumal akademische, lassen sich schon bei der
Geburt vorhersagen. Wer an den Hochschulen noch ankommt, sind die Kinder
der Kinder der Kinder der Universität. Sie waren schon immer und sind auch
heute noch eine Klasse für sich.
Aus dieser sozialen, sehr effektiven Struktur der Ausgrenzung entsteht nur
Weitergedachtes, aber nie Neues. Dabei ist nicht die Armut der Feind des
Wissens, sondern der Hausverstand. Wir brauchen eine neue Uni: eine Uni von
unten, die die Subversion zum Prinzip erhebt. Die Universität der Zukunft
muss den Unerhörten gehören.
Universität der Straße
Wieso fragt niemand danach, wo all die Kreativen der Straße ihre Ideen
realisieren? Und wieso wird aus diesen Ideen und Realitäten nicht mehr
gemacht als ein Gegenstand fürs Feuilleton? Die Ausgegrenzten und
Unterdrückten unserer Gesellschaft kennen den Beat des Bürgersteigs und
wissen, was es kostet, auf die Fresse zu kriegen. Sie erkämpfen sich Räume,
die ihnen permanent streitig gemacht werden, und stellen sich auf
vielfältige Weise unter Beweis. Sie sind diejenigen, die radikal fern
gehalten werden von allem, was nach Qualifikation riecht. Denn ein Diplom
gibt es bisher nur fürs Labern. Die Hochschule der Zukunft aber gehört den
Lumpensammlern. Jenen, die bislang nicht gefunden werden, weil niemand sie
sucht.
Diese Kreativabteilung braucht eine Zukunft. Und zwar nicht nur, weil diese
Menschen mit den Lebensumständen in ihrem Viertel - ob in Berlin-Neukölln,
in Castrop-Rauxel oder Hoyerswerda - unglücklich sind. Sondern auch, weil
sich eine Spannung entfalten könnte, wenn unser kanonisches Bildungshegemon
auf neue Realitäten prallt. An einer Uni der Zukunft wären all diejenigen
mit ihr zufrieden, die heute noch gar nicht zu ihr gefunden haben.
Ansätze dafür gibt es bereits - etwa mit der StreetUniverCity in Berlin, in
der sich Jugendliche aus sozialen Brennpunkten nach eigenem Lehrplan
weiterbilden können. Daran könnten sich etablierte Universitäten ein
Beispiel nehmen. In der [1][taz vom 12. April forderte Stephan A. Jansen],
der Gründer der privaten Zeppelin University, eine Universität des
Desasters. Er wies darauf hin, dass Kreativität dort entsteht, wo Dinge neu
zusammengedacht werden. Seine Analyse ist richtig: In einem Zeitalter
globaler Krisen ist die Krise selbst der Motor zu ihrer Lösung. Statt aber
nach institutionellen Modellen zu fragen, die der permanenten sozialen
Selektion etwas entgegensetzen, wartet unsere Bundesregierung mit einem
Stipendiensystem auf, das wieder die begünstigt, die ohnehin privilegiert
sind, das blind für die echten Helden ist und so tut, als sei Leistung in
Noten messbar.
Wer sich Gedanken macht über eine inklusive Gesellschaft und ein
nichthierarchisches Wissen, muss genau hier ansetzen. Meine Universität der
Zukunft muss deshalb ihre Recruitment-Manager in die Ghettos, in die
Karateklubs, Internetcafés und Fitnessstudios schicken. Sie schickt sie
aufs Ausländermeldeamt, um neue Studierende anzuwerben. Denn gerade die
Kids, die durch ihre Ausgrenzungserfahrung die permanente Irritation
gewöhnt sind, die der Hochschule von heute am fremdesten sind, sind die,
die sie wirklich hinterfragen können. Es sind jene, die wirklich neu denken
können, weil sie unpassende und genau deshalb oft richtige Fragen stellen.
Sie sind es gewohnt, sich selbst und ihre Welt neu zu erfinden, sich reale
Räume und Denkräume zu erkämpfen, sie können Dress- und Denkcodes
durcheinanderbringen.
Diese Universität, eine exklusive Uni von unten, müsste sich permanent
selbst hinterfragen. Sie müsste zuallererst all die vermeintlichen
Bildungstitel, mit denen jeder Mensch gezwungen wird, sich auszuzeichnen,
konsequent ad absurdum führen. Ginge es nach mir, müsste diese "Uni von
unten" genauso radikal selektieren, wie wir es heute vom Großteil der
Schulen und Unis bereits kennen.
Numerus clausus gegen Streber
Sie hat einen harten Numerus clausus und ist entschieden geschlossen für
jene Mittelmaß- und StreberschülerInnen, die in ihren buntesten
Lebensjahren vor dem Abitur nichts Besseres zu tun hatten, als sich dem im
Gymnasium frisierten Druck der Notenkonkurrenz ergeben anzupassen. Wer eine
4,0 im Abi hatte, hätte beste Chancen. Eine 3,7 vielleicht noch so gerade.
Und ansonsten wäre sie bitte offen: für alle jene, die auch ohne Abi
wollen.
Dies wäre auch der Schlüssel zu einem neuen Begriff von Wissen und zu einer
neuen Erfahrung von Forschung. Denn die institutionelle Revolution der
Universität, wie sie heute ist, gibt auch eine Antwort auf die Frage:
Welches Wissen brauchen wir? Selbst gewinnorientierte Unternehmen haben
längst entdeckt, dass das Leitbild "Managing Diversity" nicht nur zu mehr
Vielfalt, sondern auch zu effektiveren Resultaten führt. Wir müssen
diverses, divergentes Wissen aber nicht managen, sondern kreieren. Und zwar
für eine Gesellschaft, die den Menschen ihre Potenziale zuspricht.
Fortschritt bedeutet immer, das Selbstverständliche infrage zu stellen. Und
tatsächlich ordnen die Hochschulen schon heute ihre Fragenkomplexe aktiv
neu: An die Stelle der versäulten Universität, in der die Biologie mit der
Sozialwissenschaft noch unvereinbar schien, sind Netzwerke und Cluster
getreten, die nicht mehr entlang von Disziplinen, sondern entlang von
Fragen arbeiten. Diese Fragen aber werden immer noch von den Gleichen
gestellt.
Eine Hochschule von morgen gibt diese Fragen aus der Hand. Sie bewahrt kein
Wissen mehr: Sie ist ein Labor.
***
Dieser Text ist für Sie kostenlos verfügbar. Dennoch wurde er nicht ohne
Kosten hergestellt! Wenn Ihnen der Text gefallen hat, würden wir uns
freuen, wenn Sie der taz dafür einen kleinen Betrag bezahlen. Das können
wenige Cent sein - wir überlassen es Ihnen.
Für unabhängigen Journalismus: taz-Konto 39316106 | BLZ: 10010010 |
Postbank Berlin - Verwendungszweck "taz.de".
24 Apr 2010
## LINKS
[1] /1/zukunft/schwerpunkt-uni/artikel/1/ein-lob-der-disziplinlosigkeit-1/
## AUTOREN
Martin Kaul
Martin Kaul
## TAGS
Diversity
## ARTIKEL ZUM THEMA
Forscherin über Diversity in Redaktionen: „Medienwandel schreckt schnell ab�…
Wie werden Journalistenschulen und Redaktionen diverser? Monitoring wäre
ein erster Schritt, sagt die Wissenschaftlerin Julia Lück.
Debatte Junge Utopien (V): Boheme ohne Kühlschrank
Sie arbeiten sich blöd und verdienen nichts? Sie finden erst gar keinen
Job? Mehr Teilzeitarbeit und ein Grundeinkommen würden das Problem lösen.
Debatte Junge Utopien: Die langsame Stadt
Elektroautos sind chic, das Fahrrad ist die Norm, keiner fährt schneller
als 30 km/h, und die Lebensmittel werden übers Internet geordert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.