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# taz.de -- Debatte Junge Utopien (V): Boheme ohne Kühlschrank
> Sie arbeiten sich blöd und verdienen nichts? Sie finden erst gar keinen
> Job? Mehr Teilzeitarbeit und ein Grundeinkommen würden das Problem lösen.
Bild: Scheissverhältnisse? Ändern wir sie doch!
Als Alexander von Humboldt 1859 starb, war er zwar weltberühmt, aber auch
völlig verarmt und hoch verschuldet. Der Mann, der heute als letzter
Universalgelehrte und Vater der modernen Geografie und Klimaforschung gilt,
konnte sich seine Expeditionen und deren jahrzehntelange Evaluation
überhaupt nur leisten, weil er noch etwas anderes war: Erbe.
Was hat das mit uns zu tun und der Arbeitswelt, in der wir leben? Viel,
wenn ich mich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis umsehe. Ich kenne
Menschen, die Kranke und Alte pflegen; die renommierte Musik machen und
damit Clubs füllen; Menschen, die kluge Theaterstücke und Hörspiele
schreiben; die Adressen in Datenbanken eingeben; wieder andere, die einen
Schafbauernhof führen und Biokäse herstellen. So unterschiedlich ihre
Arbeit ist - was diese Menschen verbindet, ist, dass sie alle verdammt
wenig Geld verdienen.
Menschen, die trotz Arbeit kaum über die Runden kommen, weil ihr Einkommen
kaum zum Leben reicht, nennt man "Working Poor" oder "Prekariat".
Ursprünglich waren damit ungelernte Arbeiter, Putzhilfen oder die
Kassiererin im Supermarkt gemeint. Doch durch die wachsende Zahl
arbeitsloser Akademiker und Menschen, die trotz guter Ausbildung in
unsicheren Beschäftigungsverhältnissen oder ewigen Praktika herumdümpeln,
hat sich der Kreis ausgeweitet.
Einigen ist die Art ihrer Arbeit wichtiger als die Höhe der Entlohnung,
manche verklären ihren Lebensstil gar zur "digitalen Boheme". Andere
wiederum stellen gar keine allzu großen Ansprüche an ein erfülltes
Arbeitsleben und geben sich mit einem minimalen Gehalt zufrieden. Allen
gemein ist, dass sie sich auf einem niedrigen finanziellen Niveau irgendwie
eingerichtet haben. Ohne Altersvorsorge natürlich, und der Kühlschrank darf
bitte auch nicht kaputtgehen.
Auch ich gehöre zu dieser Gruppe. "Wenn ich nicht arbeite, arbeite ich an
etwas anderem", um es mit den Worten des Gesellschaftstheoretikers Niklas
Luhmann zu sagen. Ich bin immer beschäftigt, und das Geld reicht gerade
eben so. Jedenfalls fast.
Ich wünsche mir eine Arbeitswelt, in der Geld keine Rolle spielt, weil alle
genug zum Leben haben und sich keiner dafür verkaufen muss. Eine, in der es
genügend gute Arbeit gibt. Wie das funktionieren soll? Durch Teilzeitarbeit
oder ein bedingungsloses Grundeinkommen, zum Beispiel. Dazu müsste man sich
erst einmal vom Mythos der Vollbeschäftigung verabschieden. (Adieu!) Und
von dem Gedanken, dass nur derjenige etwas wert ist, der viel arbeitet und
viel verdient. (Tschüss!) Was ist das überhaupt für ein Wort: "verdienen"?
Verdient ein Investmentbanker mehr als eine Erzieherin in der Kita?
Finanziell: ja. Gesellschaftlich gesehen: eher nein.
Ich glaube, diese Gesellschaft wäre eine glücklichere, würde es mehr halbe
Stellen geben. Durch Halbtagsjobs hätten mehr Menschen Arbeit und würden
ihr eigenes Geld verdienen. Dadurch würde ihr Selbstwertgefühl steigen und
auch die Zufriedenheit. Mehr Menschen hätten dadurch außerdem mehr Zeit zur
Verfügung: Zeit für ehrenamtliches Engagement, für ihre Familien, für
Hobbys. Meinertwegen auch für Konsum. Aber klar: Manche hätten dadurch auch
weniger Geld.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es etwa Werner Götz, der Chef der
Drogeriekette dm, fordert, könnte dieses Problem lösen. Auch ich glaube,
wie er, an die Kreativität der Menschen. Ich glaube, dass niemand ernsthaft
nicht arbeiten möchte. Ich bin der Meinung, dass jeder etwas Sinnvolles mit
seinem Leben anfangen will. Und ich denke nicht, dass eine finanzielle
Grundsicherung Trägheit fördert. Im Gegenteil: Ich kann mir vorstellen,
dass sich durch ein Grundeinkommen die Arbeitsbedingungen in vielen Jobs
verbessern würden, ja sogar müssten. Weil niemand mehr auf unterbezahlte
Arbeit zu miesen Bedingungen angewiesen wäre.
Natürlich dürften diejenigen, die Lust auf eine 60-Stunden-Woche haben und
denen ein Gehalt von 6.000 Euro netto wichtig ist, auch weiterhin so viel
ackern. Doch sollten jene, die ebenso viel arbeiten, aber eher 6.000 Euro
im Jahr nach Hause bringen, nicht auf Sozialleistungen angewiesen sein.
Jeder Mann und jede Frau sollte seine Würde behalten können.
Dringend brauchen wie auch eine echte Gleichberechtigung von Frauen und
Männern im Berufsleben. Wir schreiben das Jahr 2010. Doch noch immer gibt
es verschiedene Mechanismen, die die sogenannte "Hausfrauenehe" belohnen
und eine gleichberechtigte Partnerschaft bestrafen.
Dass diese Regierung über ein "Betreuungsgeld" für Eltern diskutiert, die
ihr Kind nicht in eine Kita gehen lassen, ist deshalb absurd. So absurd wie
das Ehegattensplitting, bei dem jenes Ehepaar, bei dem Mann und Frau gleich
viel verdienen, steuerlich am schlechtesten dasteht. Oder eine
Familienversicherung bei der Krankenkasse, die nur für Paare infrage kommt,
bei denen einer der Partner praktisch nichts verdient.
Warum haben Kitas immer noch Öffnungszeiten, die von der
Nichterwerbstätigkeit eines Elternteils ausgehen? Warum gibt es keine
flächendeckende, günstige Kinderbetreuung für unter Dreijährige? Warum
verdienen deutsche Frauen noch immer deutlich weniger als Männer? Und warum
werden männliche Politiker, die wie Bolle damit angeben, wenn sie sechs
Wochen Elternzeit nehmen, nicht dafür ausgelacht, weil das lächerlich wenig
ist? Weil wir uns noch immer nicht vom Deutsche-Mutter-Mythos verabschiedet
haben. (Get lost!)
Alexander von Humboldt konnte sein Lebenswerk vollbringen, weil er ein Mann
war und über eine Grundsicherung verfügte - weil er durch sein Erbe eben
von Geburt an privilegiert war. In meiner idealen Arbeitswelt sind wir alle
privilegiert. Privilegiert, das zu arbeiten, was wir können und möchten.
Gleichberechtigt und zu humanen Bedingungen. Das ist meine Utopie von der
Arbeitswelt. Und sie könnte sogar funktionieren.
23 Apr 2010
## AUTOREN
Kirsten Reinhardt
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