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# taz.de -- Debatte Junge Utopien: Die langsame Stadt
> Elektroautos sind chic, das Fahrrad ist die Norm, keiner fährt schneller
> als 30 km/h, und die Lebensmittel werden übers Internet geordert.
Bild: Freiburger Stadtteil Vauban: Auch in der Stadt müssen Kinder einen Platz…
Geht es um unsere Städte, wird fast ausschließlich über steigende Mieten
und die Verdrängung von Armen aus attraktiven Stadtvierteln diskutiert.
Gentrifizierung ist das allgegenwärtige Stichwort, das so inflationär
gebraucht wird, dass es den in der Tat bedrohlichen Vorgängen ihr Gewicht
nimmt.
Mir ist die Debatte um Gentrifizierung zu wenig. Wenn es um die Zukunft der
Stadt als Ganzes geht, müssen noch andere Fragen auf die Agenda gesetzt
werden: Wollen wir unser Obst und Gemüse selbst anbauen? Wie können wir den
Flächenverbrauch begrenzen? Wollen wir mehr Radwege, neue Straßen oder mehr
Tramlinien? Wie können wir in den Städten leben, damit die jungen Menschen
nach uns auch noch gern und gut dort aufwachsen? Die Zukunft der Stadt
braucht eine Vision.
Es ist kein Zufall, dass die Diskussion um Sozialmieten und die Wohnpreise
in Szenevierteln vor allem dort geführt wird, wo sich die Herausforderungen
ballen: in Berlin. Immerhin erinnern sich die Politiker an
stadtentwicklungspolitische Fragen. Die Grünen, die Linken, die
Sozialdemokraten, alle arbeiten derzeit an Pamphleten zu ihrer Vorstellung
einer sozialen Stadt. Selten indes ist Handfestes dabei. Die einen wollen
Mietdeckelungen und geförderten Wohnungsbau - wissen aber nicht, woher das
Geld kommen soll. Die anderen bauen ihre Programme auf der Annahme auf,
dass Wohnen in der Hauptstadt doch im Vergleich zu anderen Metropolen
günstig sei.
Alles schön und gut, alles im Einzelnen wichtig. Aber welches Klein-Klein,
welche Wortwahl! Ich habe von Bruttowarmmieten, Fassadendämmung,
Mietobergrenzen und Deckelungshöhen die Nase voll. Ich will zuerst eine
Utopie, für die Stadt als Ganzes.
Zuerst will ich in einer Stadt leben, die klare Grenzen hat.
Eigenheimzulage samt Jägerzaun im Vorort, Kilometerpauschale für den Kombi,
das schreckt ab. Die Stadt ist die Stadt, das Land darumherum Land. Wer in
der Stadt arbeitet, lebt auch dort - und hat sich den Grund unterm Haus
gemeinsam mit den übrigen Bewohnern gekauft. Die Schlafsiedlungen im
Dunstkreis von Metropolen entvölkern sich langsam. Die Menschen ziehen
zurück, denn Autofahren ist viel zu teuer geworden, und das Nahverkehrs-
und Radleitsystem in der Stadt so gut, dass es sich zentral gut und ruhig
wohnen lässt. Wo weniger Autos fahren, ist es leiser. Die Kinder spielen
ungestört in den innerstädtischen Vorgärten, denn die schmaleren Straßen
lassen mehr Platz für Grün. Auf dem Land freuen sich Tiere und Pflanzen
über die entkernten Siedlungen. Wo Fertighäuser und Kreisverkehre Flächen
versiegelten, entfaltet sich auf Feuchtwiesen eine ungeahnte Artenvielfalt.
Bauern können bis an die Stadtgrenzen hin Getreide, Obst und Gemüse anbauen
und es auf kurzem Weg in die Stadt bringen, um die Menschen dort zu
versorgen. Genauso schnell geht es für die Berliner und Berlinerinnen, am
Wochenende ins Grüne zu fahren. Naherholung wird wieder, was es heißt:
Erholung in der Nähe.
Zweitens: Der Verkehr in der Stadt orientiert sich an den Langsamen.
Fußgänger und Radfahrer bestimmen das Straßenbild; nur Busse haben
Vorfahrt. Auf allen Straßen ist mindestens genauso viel Platz für Radler
wie für Autofahrer. Grüne Welle gibt es nach der Fahrgeschwindigkeit von
Radfahrern; wer unbedingt Autofahren will, muss sich dem unterordnen. Tempo
30 ist längst Maximalgeschwindigkeit. Elektroautos gelten als schick, für
Personen des öffentlichen Lebens als Muss. Ohnehin besitzen nur noch die
wenigsten ein eigenes Auto. Das System aus öffentlichen Wagen, die mit dem
Nahverkehr kombiniert werden können, ist so unkompliziert und günstig, dass
sich die Anschaffung nicht lohnt. Lebensmittel werden übers Internet
bestellt und angeliefert oder auf dem lokalen Wochenmarkt besorgt. Viele
Parkplätze werden überflüssig. Sie werden zu Stadtgärten umgestaltet und
gemeinsam mit Wohnungen vermietet, wie früher Stellplätze. Nebeneffekt: Die
Menschen sind mehr draußen. Sie sprechen miteinander, sie lernen sich
kennen, sie leben gemeinsam.
"Ist ja schön!"
Drittens: Ich will in einer Stadt leben, in der ich mich überall sicher
fühle. In der Stadt der Zukunft gibt es keine No-go-Areas. Reiche leben mit
Ärmeren, Menschen aus Bayern mit welchen aus Belgien, Türkischstämmige mit
gebürtigen Schleswig-Holsteinern im Haus. Na und? An den Schulen treffen
sich die Kinder unterschiedlicher Herkunft, und sie lernen gemeinsam.
Wichtig ist, wer sie sind, nicht, wo sie herkommen. Das macht die Viertel
sicher: Wo alle anerkannt und unterschiedlich sein dürfen, können alle
sein.
Ich will auch in einer Stadt leben, in der jeder und jede das findet,
wonach ihm und ihr behagt. Ich muss nicht überall gleich gern sein. Wer
Trubel sucht, soll im Trubel eine bezahlbare Wohnung finden. Wer Ruhe
sucht, soll nicht zum Umzug aufs Land gezwungen werden, sondern stille,
ebenfalls bezahlbare Flecken finden. Und zwar ohne Stempel: Ich bin nicht
hip und Latte-macchiato-Trinkerin, weil ich gern in Prenzlauer Berg lebe.
Ich bin nicht spießig, weil ich in Hamburg-Eppendorf wohnen will, und ich
bin kein Snob, weil ich in München-Nymphenburg daheim bin. Jede Gegend ist
gleich viel wert; auf die Auskunft, wo ich wohne, will ich hören: "Ist ja
schön!"
Ich will in einer Stadt leben, in der jede und jeder Platz und
Lebensqualität überall findet. Uneingeschränkt und unabhängig davon, ob er
oder sie schwarz oder weiß, Brillen- oder Kontaktlinsenträger ist, ob er
bayerische oder türkische Wurzeln hat oder aus Wanne-Eickel stammt. Das
Leben ist vom Miteinander bestimmt, bei dem das Private nicht verloren
geht: Wir pflanzen in der Straßenmitte gemeinsam einen Baum, und danach
kann sich um seinen eigenen Garten kümmern, wer will. Die anderen setzen
sich auf die Bank unter dem Baum und planen die nächste Baumpflanzung.
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20 Apr 2010
## AUTOREN
Kristina Pezzei
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