# taz.de -- Schlagloch Wachstums-Enquete: Leben nach dem Wachstum | |
> Die postfossilen Gesellschaft ist nur mit Wissen und Wollen vieler Bürger | |
> zu realisieren. Diese Politiklücke zu schließen, wäre der Mehrwert einer | |
> Enquetekommission "Wachstum". | |
Bild: Verliert sich das Thema Lebensqualität im Strudel der Wachstums-Debatte? | |
Die Eule der Minerva hat einen langen Dienstweg, schon deshalb ist sie | |
nicht nachtragend. Mit Befriedigung nimmt sie zur Kenntnis, dass nur 42 | |
Jahre nachdem Bobby Kennedy die Untauglichkeit des BSP für die | |
Wohlstandsmessung und nur 38 Jahre nachdem Dennis Meadows die Grenzen des | |
Wachstums erkannte, das Kerndogma des Kapitalismus auch in den Chefetagen | |
ins Wanken gerät. | |
Angela Merkel, die kürzlich noch das Wachstumsmantra betete - "Ohne | |
Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne | |
Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die | |
Schwachen" – fordert "uns" auf, über eine "neue Form des Wachstums | |
nachzudenken". Und damit dies gründlich geschehe, bereiten SPD und Grüne | |
eine Wachstums-Enquete des Bundestags vor. | |
Enquetekommissionen, mit Parlamentariern und Experten bestückt, sollen | |
fraktionsübergreifend Lösungen für langfristige Probleme suchen, die der | |
Zustimmung großer Bürgermehrheiten bedürfen. Eine Wachstums-Enquete – da | |
liegt die "Systemfrage" in der Luft und deshalb auch die | |
Vermeidungsverlockung. Ihr Erfolg wird deshalb davon abhängen, wie der | |
Untersuchungsauftrag formuliert wird. Denn mit ihm werden Fragen | |
ausgeklammert und Ergebnisse vorprogrammiert. Ist der Auftrag zu | |
kleinteilig oder zaghaft, bleibt das Resultat politisch irrelevant; ist er | |
zu abstrakt, kommt ein Taschenbuch dabei heraus, und das ist auch keine | |
Lösung. | |
Beide Gefahren schimmern bereits durch die ersten Positionspapiere. Die | |
Grünen – notorisch schwankend zwischen Markt und Staat und noch | |
traumatisiert vom Fiasko mit der Benzinsteuer – wollen den "strukturellen | |
Wachstumszwang, wenn ökonomisch möglich, abbauen". | |
Die Formel hinkt dem faktischen Nullwachstum in diesem Jahrzehnt hinterher, | |
ebenso wie den deprimierenden Erkenntnissen über Grenzen der "Entkoppelung" | |
von Ressourcenverbrauch und Wachstum und, vor allem, dem Wissen über die | |
begrenzte Tragfähigkeit der Erde, der wir jedes Jahr 25 Prozent mehr | |
Material entnehmen, als eine nachhaltige Bewirtschaftung erforderte. | |
Die Sozialdemokraten fordern einen "ganzheitlichen Fortschrittsbegriff" und | |
drohen dabei in die Tiefen der Gründlichkeit abzutauchen: zunächst müssten | |
die Indikatoren für Umwelt, Gesundheit, Bildung, Zugang zu Arbeit | |
erarbeitet und messbar gemacht werden, sodann "in einem ganzheitlichen | |
Fortschrittsindikator zusammengeführt" und schließlich dem | |
Bruttoinlandsprodukt gegenübergestellt werden. Das klingt nach gewohnt | |
vorauseilender Kompromissbereitschaft, nach Zahlenschiebereien in vielen, | |
vielen Kommissionen und nicht nach der "Arbeit der Zuspitzung", wie Peter | |
Glotz das einst nannte. | |
Die große Chance einer Enquetekommission liegt in einem illusionslosen | |
Blick auf die Realitäten und im Mut zur Vision einer "wachstumsbefriedeten" | |
(Wolfgang Sachs) Gesellschaft. Die Fragen, die sie stellen muss, lauten: | |
"Wie können die Politikziele Vollbeschäftigung, intakte Umwelt, | |
Generationengerechtigkeit, Bildungsexpansion, Innovationsforschung, soziale | |
Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, öffentliche Daseinsvorsorge, | |
Vermögensbildung breiter Bevölkerungsschichten ohne Wachstum erreicht | |
werden?" | |
Detaillierter, und nur zum Beispiel: "Wie kann die Vernachlässigung des von | |
jedermann nutzbaren öffentlichen Raums rückgängig gemacht werden? Wie | |
könnte eine neue Esskultur aussehen, die auf einer nachhaltigen | |
Landwirtschaft beruht?" Und vor allem: "Welche konkreten politischen | |
Rahmenbedingungen sind hierfür nötig?" | |
Solche Fragen – die Umkehrung des Merkelschen Mantras – sind radikaler als | |
die von SPD und Grünen; sie kommen aus der Denkfabrik des | |
liberalkonservativen Meinhard Miegel. Wer so fragt, macht nicht länger das | |
Wachstum zur unabhängigen Variablen, sondern geht, umgekehrt, von | |
unverzichtbaren Zielgrößen aus und fragt nach den wirtschafts- und | |
sozialpolitischen Maßnahmen und Pfaden, die zur Erreichung dieser Ziele | |
taugen. In der Frage der Instrumente, nicht der Ziele ergebnisoffen, | |
stellte eine solche Enquete zwar nicht die "Systemfrage" (womit sie | |
politisch erledigt wäre). | |
Aber, indem sie die Bewahrung grundgesetzlich gestützter sozialer | |
Bürgerrechte zum Ausgangspunkt machte, beförderte sie die Diskussion über | |
Systemschranken – selbst die eines "grünen Kapitalismus". Sie muss sich der | |
Frage stellen, ob soziale Bürgerrechte wie Wasser, Gesundheit, Bildung, | |
Wohnraum, soziale Dienste, Kultur bei schrumpfendem Wachstum durch | |
Marktmechanismen oder individuelle Einkommen zu sichern sind; ob sozialer | |
Zusammenhalt nicht nur noch durch eine radikale Umverteilung von Arbeit, | |
sprich Verkürzung der Arbeitszeit, herstellbar ist, und damit durch eine | |
Umverteilung von Einkommen. Sind unsere Vorstellungen von Zivilisation | |
überhaupt noch zu retten, wenn wir nicht den öffentlichen Reichtum | |
gegenüber dem individuellen Konsum stärken? | |
Der Übergang zur postfossilen Gesellschaft ist nur mit Wissen und Wollen | |
vieler Bürger zu schaffen. Der größte anzunehmende Gewinn einer | |
Enquetekommission bestünde deshalb darin, unsere lähmende Politiklücke zu | |
schließen: zwischen den tausenden von NGOs, Kommunalaktivisten, Ökobauern | |
etc., die sich im Kleinen längst auf den Weg in die solare Welt gemacht | |
haben, und den politischen Institutionen, die allein die Bereitschaften | |
bündeln, den gesamtgesellschaftlichen Wandel organisieren können. | |
Wenn sie die richtigen Fragen stellt, wäre solche Enquete auch für die | |
Aktivisten von Attac, die kritischen Wissenschaftler, die politisch | |
Resignierten eine große Herausforderung: sich nüchtern auf die Details der | |
Transformation, auf eine Fortentwicklung der sozialen Demokratie und auf | |
den Staat einzulassen. Wenn die Medien die Arbeit dieser Kommission klug | |
begleiten, dann könnte sie zum organisierenden Zentrum eines "nationalen | |
Ratschlags" werden, zur demokratischen Denkwerkstatt des Großen Wandels. | |
12 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
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