| # taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Staatsbürger ohne Uniform | |
| > Anstatt der Wehrpflicht ein soziales Jahr für alle: Warum hat diese Idee | |
| > keine Lobby? Für viele junge Menschen wäre ein solcher Sozialdienst eine | |
| > Wohltat. | |
| Bild: Pflichtjahr als Lösung des Fachkräftemangels in der Pflege? Stellt lieb… | |
| Sept cents millions de chinois / Et moi, et moi, et moi" - "700 Millionen | |
| Chinesen und ich und ich und ich". Blecke stand auf dem Kantinentisch und | |
| versuchte, auf Französisch zu singen. Dabei überschlug sich seine Stimme, | |
| aber er spielte hinreißend Waschbrett. Blecke kam von der Welt, Peters, der | |
| Gitarrist, war Mechaniker aus Krefeld. Volker, der mit den Löffeln | |
| klapperte, kam aus Bohmte. | |
| Wir waren Panzergrenadiere im Europa-Manöver, La Courtine im Massif Central | |
| l966. Die Kasernen stammten aus der Zeit Napoleons III., das Gewölbe | |
| verstärkte den Klang unserer Skiffle-Band. Gelegentlich konnte die | |
| klassenübergreifende Zwangsgemeinschaft ja ganz lustig sein. Aber nach | |
| einem Jahr Wehrdienst hatten alle die Nase voll vom Rumhängen oder ein | |
| schlechtes Gewissen, weil sie nicht verweigert hatten. | |
| Inzwischen sind wir eine welthistorische Epoche weiter. Die Zahl der | |
| Chinesen hat sich verdoppelt, aber die rote Gefahr ist verblichen. Heute | |
| bedrohen uns Dinge, von denen man damals nicht einmal den Namen kannte. Und | |
| einundzwanzig Jahre nach Ende des Kalten Krieges denkt ein | |
| Verteidigungsminister laut über die Abschaffung der Wehrpflicht nach. Nicht | |
| wegen der "Wehrgerechtigkeit", der Waffentechnologie oder des veränderten | |
| Auftrags der Armee (Handelsfreiheit!) - darüber redete und stolperte nur | |
| Köhler. Sondern einzig und allein wegen der Finanznot. Und deshalb mit | |
| Aussicht auf Erfolg. | |
| Die Rekrutenarmee ist aber immer noch eine heilige Kuh, weswegen die | |
| Spezialisten der SPD sich zum Oxymoron einer "freiwilligen Wehrpflicht" | |
| versteigen. Volker Kauder sieht die einzige Institution bedroht, die | |
| anspruchsgetriebene Bürger verpflichte, "dem Staat etwas zurückzugeben". | |
| Ministerin Schröder fürchtet um den Zivildienst, "ohne den unsere | |
| Gesellschaft weniger menschlich" wäre. Offenbar kann auch sie sich einen | |
| Sozialdienst nur als "Ersatz" vorstellen. FDP, Grüne und Linke sind für | |
| Abschaffung pur, aus gemischten Motiven. Allein der saarländische SPD-Chef | |
| Heiko Maas plädiert für ein obligatorisches soziales Jahr. | |
| Ich frage mich seit zwei Jahrzehnten, warum diese Idee keine Lobby hat. | |
| Politiker und Feuilletons rufen nach Zusammenhalt und | |
| zivilgesellschaftlichen Werten, weil Gesundheit, Kinderaufzucht, | |
| Altenpflege, kommunale Einrichtungen in den Strukturen des fossilen | |
| Kapitalismus nicht mehr vom Staat sichergestellt werden können. Was ist | |
| also so peinigend an dem Gedanken, junge Männer und Frauen müssten nach der | |
| Schule ein Jahr lang Gemeinwesenarbeit leisten? | |
| Eine Wohltat für Jugendliche | |
| Ich glaube, für viele Jugendliche, die ohne feste Idee und unberaten in die | |
| erstbeste Lehre gehen, sich für einen Bindestrich-Studiengang einschreiben, | |
| in der Warteschleife bei McDonalds jobben oder sich von australischen | |
| Farmern ausbeuten lassen, bevor sie, wenns gut geht, ins vierzigjährige | |
| Hamsterrad tauchen, wäre ein solcher Sozialdienst eine Wohltat. Je nach | |
| Begabung und Präferenz könnten sie Hauptschülern beim Schreiben- oder | |
| Schwimmenlernen helfen, die digitale Alphabetisierung alternder Mitbürger | |
| betreiben, als Urlaubshilfe bei Milchbauern im Allgäu leben, kommunale | |
| Gärten anlegen, in Kitas kochen oder spielen, die Öffnungszeiten von | |
| Bädern, Bibliotheken und Museen ausweiten, Einkaufsfahrten für | |
| unmotorisierte Landbewohner machen, im Inland oder gar anderswo in Europa. | |
| Gut, da wären auch weniger attraktive, aber notwendige Tätigkeiten zu | |
| vergeben wie Rollstuhlschieben oder Windelnwechseln - aber bei all dem | |
| könnten sie praktische Fähigkeiten erwerben, Selbstbewusstsein entwickeln, | |
| ihren Lebensplan überdenken oder finden. Sie könnten Jahr für Jahr den | |
| öffentlichen Reichtum dieser Gesellschaft mehren und darüber ein | |
| Bewusstsein und ein Gefühl dafür entwickeln, was es heißt, Bürger zu sein. | |
| Das Wirtschaftswachstum, das uns erlaubte, Tätigkeiten, die vordem der | |
| Familie, der Nachbarschaft, der Gemeinde oblagen, zu professionalisieren | |
| und zu monetarisieren, wird kaum wiederkehren. Der Qualität dieser | |
| "Dienstleistungen" bekam das ohnehin nicht immer, weshalb Konservative sie | |
| schon immer der Familie, der Gruppe, der Gemeinde zurückgeben wollten. In | |
| den Strukturen des Besitzindividualismus aber würde das heute die | |
| Ungleichheit vertiefen; ein Sozialdienst wäre eine wirksamere, sozialere | |
| Wende. Die Vorstellung, dass 800.000 Jugendliche in einem solchen | |
| Pflichtjahr ein "Wir sind Deutschland"-Gefühl entwickeln könnten, das sie | |
| zu aktiveren und unbequemeren Staatsbürgern ohne Uniform machte - | |
| vielleicht ist die Furcht davor ein stärkerer Hinderungsgrund als der | |
| Mangel an Neugier, Betätigungslust und unverbrauchten Solidaritätsgefühlen. | |
| Finanziert durch Bürgersteuer | |
| Sinn machte so etwas freilich nur, wenn es attraktiv und qualifizierend | |
| organisiert wird - ob nun als "letztes Schuljahr" oder von kreativen | |
| Kommunalverwaltungen, die am ehesten wissen (sollten), wo die sozialen | |
| Schuhe drücken. Bleibt die Kostenfrage. Nehmen wir an, die jungen Menschen | |
| erhielten 1.000 Euro pro Monat für Arbeit und Unterkunft, und auf jeweils | |
| zehn von ihnen käme ein qualifizierter Betreuer (ob nun Handwerker, | |
| Sozialarbeiter oder Ingenieur), dann ergibt mein Taschenrechner jährliche | |
| Ausgaben von rund 15 Milliarden. Das entspräche einem Prozent der | |
| Barvermögen, die im letzten Jahrzehnt entstanden sind, und 0,3 Prozent der | |
| Vermögen insgesamt. Das wäre nicht unbillig für eine Bürgersteuer im 21. | |
| Jahrhundert; der zivilisatorische Gegenwert könnte enorm sein. | |
| Ach ja, Blecke starb an Krebs und Volker ist Anwalt geworden, die anderen | |
| sind mir verloren gegangen. Doch für die Wehrpflicht wird noch immer | |
| geworben. Aber ich könnte mir vorstellen, dass eine Gruppe junger Menschen, | |
| die verwüstete Panzerschussbahnen im Zentralmassiv aufgeforstet oder mit | |
| behinderten Kindern in Dortmund eine Tagesstätte renoviert hat, sich nicht | |
| so aus den Augen verliert wie die Skiffleband aus Munsterlager. Sie hätten | |
| schließlich etwas Neues in die Welt gesetzt. Und manche sogar etwas, bei | |
| dem sie bleiben können. | |
| 16 Jun 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
| ## TAGS | |
| Freiwilligendienst | |
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