# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Feudalismus im Feuilleton | |
> Arbeit für alle, darauf gründet unsere bürgerliche Gesellschaft. Ein | |
> bedingungsloses Grundeinkommen würde die Gesellschaft in Arbeitende und | |
> Alimentierte spalten | |
Der Turbo-Kapitalismus geht zu Ende. Vor uns liegt der Turbo-Feudalismus - | |
jedenfalls, wenn man die Vordenkerprosa ernst nimmt, die schwarz-gelb in | |
einigen Feuilletons blubbert. Nicht Sloterdijk: Dessen Provokation, die | |
Immer-noch-besser-Verdienenden sollten, statt zu jammern, ihren Beitrag zur | |
Bildungsrepublik und zum sozialen Frieden als Spende statt als Steuern | |
leisten, war ja kein "Vorschlag", sondern eine paradoxe, leider unscharf | |
formulierte Intervention zur Entschärfung der Klassenkampfgefahr. Nein, was | |
mich erschreckt - wenn denn das Feuilleton erschrecken kann -, ist die | |
Lawine, die der barocke Dampfdenker losgetreten hat. Etwas wird sichtbar. | |
Da nimmt der historisch hochgebildete Chefredakteur der Welt für die | |
Schleifung des Sozialstaats ausgerechnet die Aufklärer des 18. Jahrhunderts | |
in Anspruch und geißelt eine im europäischen Vergleich niedrige Steuer- und | |
Abgabenquote als freiheitsfeindlich. Da sieht der feinsinnigste | |
Literaturkritiker der Zeit, oh Rilke, im Almosen und im "mildtätigen | |
Herabbeugen oder hilfesuchenden Emporblicken" die Menschlichkeit aufblühen | |
und will "nicht länger von Gleichheit reden". Ein Professor für Sprache und | |
Medien garniert mit Phrasen wie "Eigentum ist der Stachel im Fleisch der | |
Loser" seine These, nicht die sozialen Unterschiede, sondern ihre | |
Wahrnehmung bedrohe den sozialen Frieden, und fordert, in einer freien | |
Gesellschaft müssten Unternehmen übernehmen, was einst die Kirche, dann der | |
Staat an sozialer Sicherung und Sinngebung leisteten. | |
Der "ausufernde", gar "räuberische", mit dem Rechtsstaat unvereinbare | |
Sozialstaat, der aus freien Menschen "Untertanen", ja "Sklaven" mache - so | |
und ähnlich nimmt die Staatshetze einer zunehmend hysterischen Kohorte | |
festangestellter oder beamteter Kulturträger die Attribute "freiheitlich" | |
und "bürgerlich" in Geiselhaft. | |
Die Begriffe müssten den Abstiegs-panischen Intellektuellen im Laptop | |
explodieren. Denn nicht durch "Empathie", "Barmherzigkeit", "Respekt" oder | |
Betriebspatronage wird die bürgerliche Gesellschaft zusammengehalten, | |
sondern durch den Universalismus von Arbeit und Bildung. An ihm müssen | |
alle, die als Bürger gelten sollen, Anteil haben. So schrieb es Adam Smith, | |
und vor ihm John Locke, und nach ihm John Stuart Mill; und nach dem der | |
Soziologe Durkheim und der Plutokrat Rathenau und der Jesuit Nell-Breuning. | |
Hegel nannte den staatsfreien Markt das "geistige Tierreich", Hannah Arendt | |
fürchtete, eine Gesellschaft, die ihren Bürgern keine gute, also "alle | |
menschlichen Vermögen und Tätigkeiten aktivierende" Arbeit gibt, stehe in | |
Gefahr, die Menschen wieder in eine "Tiergattung" zu verwandeln. Geistiges | |
Tafelsilber, das in Krisenzeiten immer als Erstes über die | |
bildungsbürgerliche Reling geht. | |
Der Sozialstaat, den sie windungsreich niedermachen, hat den asymmetrischen | |
Geburtsfehler der bürgerlichen Gesellschaft kompensiert. Deren Verfassungen | |
schützen das Recht auf Eigentum, kennen aber kein Recht auf Arbeit. Dieser | |
Sozialstaat hat keine Gleichheit hergestellt, aber immerhin die Befreiung | |
der arbeitenden Unterschichten von Unsicherheit, Sorge um Gesundheit und | |
Alter zum einklagbaren Recht erklärt. Möglich wurde das nicht durch | |
Umverteilung, sondern durch stetiges Wachstum - und diese Voraussetzung ist | |
unter den Bedingungen der Globalisierung nicht mehr gegeben: Die | |
Finanzmärkte unterhöhlten die Steuersouveränität, das Wachstum schrumpft, | |
die Konkurrenz der neuen Kapitalstandorte und die steigende Produktivität | |
lassen die Nachfrage nach Arbeit sinken und schwächen die | |
Verhandlungsposition der Arbeitenden chronisch. Und alle ahnen, dass "die | |
wirklich bitteren Zeiten erst noch bevorstehen", wie der Soziologe Gerhard | |
Schulze schreibt. | |
Deshalb brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag - zur erneuerten | |
Herstellung der Arbeitsgesellschaft unter Bedingungen schrumpfenden | |
Wachstums. Demokratie, so sagte es F. D. Roosevelt nach Krise und Krieg, | |
"kann nicht sein, wenn ein Teil des Volkes, ob nun ein Drittel oder ein | |
Zehntel, schlecht ernährt, schlecht gekleidet, schlecht behaust und | |
unsicher leben muss. (…) Bedürftige Menschen sind nicht frei." Die | |
Linderung chronischer Arbeitlsosigkeit durch ein bedingungsloses | |
Grundeinkommen, wie es manche Linke und, gar nicht erstaunlicherweise, | |
einige Liberale fordern, stellt die Spaltung der Gesellschaft in Arbeitende | |
und Alimentierte kostengünstig auf Dauer, und das führt über kurz oder lang | |
zu Populismus und dann zur Radikalisierung - von unten wie von oben. | |
Deshalb forderte Roosevelt noch vor der Sozialversicherung das "Recht auf | |
nützliche und bezahlte Arbeit" zu einem Lohn, "von dem eine Familie leben | |
kann". | |
Diese Forderung steht immer noch auf der "bürgerlichen" Agenda. Denn erst | |
wenn alle, die können, zu anständigen Löhnen gute Arbeit finden und so für | |
sich selbst sorgen und an der Finanzierung der allgemeinen Aufgaben | |
beteiligt sind, kommt die Bürgergesellschaft überhaupt in Sicht. Kaum eine | |
politische Partei aber fordert heute noch ernsthaft "Vollbeschäftigung" - | |
ja, das Wort ist aus der öffentlichen Sprache fast verschwunden. | |
Kurz vor der Wahl hat die SPD in einer taktischen Volte Vollbeschäftigung | |
für 2020 angepeilt - auf dem Parteitag nach der Niederlage spielte das | |
anspruchsvolle Ziel keine Rolle mehr. Der Steinmeier-Plan setzte auf neue | |
Arbeitsplätze in Energiewirtschaft und Gesundheit. Die Sache hat mehrere | |
Haken: Die neuen Arbeitsfelder würden zum Teil alte ablösen; das | |
Arbeitsvolumen wird dank der steigenden Produktivität weiter sinken; und | |
"Wachstumbeschleunigung" ist fraglich und klimaschädlich. Deshalb ist | |
Vollbeschäftigung nur durch eine erhebliche allgemeine Verkürzung der | |
Regelarbeitszeit zu erreichen (mit höchst begrenztem Lohnausgleich). | |
Das wäre ein Ziel, unter dem sich die linken Parteien zu einer | |
wirkungsstarken und populären Opposition vereinen könnten. Die Forderung | |
liegt auf der bürgerlichen Fortschrittslinie. Gegen eine Rückkehr zu ihr | |
spricht nicht, dass die Kämpfe für Arbeitszeitverkürzung in den letzten | |
Jahrzehnten verloren gingen. Aufklärung, sagte ein Aufklärer des 18. | |
Jahrhunderts, besteht auch darin, zu Unrecht vom Sockel gestoßene Ideen | |
wieder draufzustellen. | |
17 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
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