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# taz.de -- Die Festivalsaison beginnt: Mit dem Regen leben lernen
> Verfilzte Haare, verschlammte Schuhe, verlorene Kleidungsstücke: Die
> Festivalsaison beginnt. Wie kann man sich auf einen Sommer voller Lärm
> und nasser Schlafsäcke freuen?
Bild: Während des Beastie-Boys-Auftritts an der orangenen Bühne in Roskilde (…
Im dänischen Roskilde kann man am Zustand der anwesenden musikbegeisterten
WikingerInnen ablesen, wie lange die Sause schon geht. Am ersten Tag duften
die vielen männlichen und weiblichen Hünen noch nach Rosenseife, ihre Haare
fallen blond und lockig auf die breiten Schultern, die fast farblosen
Stoppeln am Kinn und den Beinen sind kaum zu sehen.
Am zweiten und dritten Tag ändert sich die Erscheinung. Ihre Haare
verfilzen, die Schuhe verschlammen oder verschwinden ganz, scharfer
Alkoholschweiß weht in immer dichteren Brisen über das Gelände, der
naturgegebene Körperflaum wuchert aus allen Follikeln.
Und am letzten Tag, wenn schwankende Nordfrauen sich nicht mal mehr einen
Busch zum Dahinterhocken suchen, sondern, je nach Wetterlage, entweder den
gelb-grünlich ausgedörrten oder den braunen, regenbierpissefeuchten
Festivalplatz direkt da düngen, wo sie eben aufgewacht sind, könnte man so
viele Special-interest-Internetseiten mit selbst fotografierten Bildern
füllen, dass man für ein paar Jahrzehnte finanziell ausgesorgt hätte.
Aber man ist ja nicht zum Meckern auf dem Festival. Man hat schließlich
auch einiges bekommen für den Gestank: The Clash, Style Council und The
Ramones in den Achtzigerjahren; Dead Moon, P. J. Harvey und Les Rita
Mitsouko in den Neunzigern; Blur, The Streets und De La Soul neulich erst.
Dazu die ganzen anderen grandiosen Bands, die gerade auf Tour sind und die
man normalerweise nicht angucken würde. Weil man, erstens, in einem Nest
wohnt, in dem die Melvins nun mal einfach nicht spielen, zweitens an dem
Abend keine Zeit und kein Geld und drittens weder Lust auf verrauchte Clubs
noch auf Stadionrockatmosphäre hat.
Also darum tut man sich das an. Jedes Jahr ab Ende Mai stehen plötzlich
Tausende von zivilisationsgewöhnten Musikfans auf wildes Camping auf Äckern
und Parkplätzen, schlafen mit drei Promille auf hauchdünnen Isomatten ein
und verlieren Kontaktlinsen in überschwemmten Gemeinschaftsduschen. An
diesem Wochenende gehts los. Mit dem Donaubeben in Ulm zum Beispiel, dem
Immergut-Festival in der mecklenburgischen Provinz oder der Metal-Party
Burn it down! in Nussloch bei Heidelberg. Und so, das zeigt ein Blick auf
den Festivalkalender dieses Jahres, geht das den ganzen Sommer. Wie kommts?
Festivals boomen, im Gegensatz zum gemeinen Konzert einer mittelbekannten
Band, zu dem gerade in Großstädten oft schlichtweg niemand mehr geht.
Roskilde in Dänemark, das norddeutsche Hurricane Festival oder Rock am Ring
am Nürburgring verzeichnen - nach Einbrüchen Ende der Achtziger- und Anfang
der Neunzigerjahre - stetig steigende Besucherzahlen. Und auch die
kleineren, neueren und modernistischeren Konzerte wie das Hamburger
Dockville Festival und das erst zum fünften Mal stattfindende Berlin
Festival, das nun auf dem Flughafen Tempelhof gelandet ist, können nicht
klagen.
Irgendwie hat sich die Bestagern zugerechnete olle Rockmusik, zumindest in
Open-Air-Verkleidung, wieder in der undurchschaubaren, immer schneller ihre
Regeln ändernden Jugendlichkeit angesiedelt. Zusammen mit der Etablierung
aller Arten elektronischer und nichtrockiger Musik natürlich: Seit DJs
Riesenhallen füllen, können sie, zusammen mit den immer noch wohlgelittenen
"The"-Bands, auch Headliner vor Rock- und Popbands sein.
Dazu kommt die fehlende Distanz zum traditionell mauen Geschmack in der
Rockcrowd: In Frauen- und Modezeitungen gibt es seit ein paar Jahren in
jedem Sommer Rockfestivalmodetipps, in denen meistens schlapp
herunterhängende bedruckte T-Shirts, irgendeine Art von Ledergebimsel,
kaputte Jeans, flache Schuhe/Gummistiefel und Sonnenbrillen eine Rolle
spielen.
Es sind die Kinder von Rocklegenden, etwa Pixie Geldof oder Kelly Osbourne,
die sich dazu gern im zippeligen Rockchick-Outfit fotografieren lassen. Und
auch die Bands selber, sogar die bekannten, freuen sich tatsächlich, bei
Festivals dabei zu sein, weil sie möglicherweise selbst Konzerte sehen
können, zu denen sie es sonst nicht schaffen würden.
Eigentlich passt das Prinzip Festival doch hervorragend in die Zehnerjahre
dieses Jahrtausends: Es ist effektiv und sparsam, die Bands sind
komprimiert zu sehen, statt dafür das ganze Jahr über unterschiedliche
Termine an verschiedenen Orten zu machen. Der Retro-Charme der Umgebung und
der Lederarmbänder ist irgendwie in, und das gemeinsame
Den-Schlafsack-Vollpupen und Im-Bierschlamm-Liegen, das Unerträgliche der
Toiletten- und allgemeinen Hygienesituation ist vielleicht ein wichtiges
Pendant zu einer Welt voller virtueller Erlebnisse: Immerhin riecht, fühlt,
hört und schmeckt man hier tatsächlich, was Menschen so alles ausströmen.
Wenn man sie lässt. Außerdem muss man in einer klimagewandelten Zukunft
ohnehin mit dem Regen leben lernen.
Wenn man dabei, wie in diesem Jahr, auch noch bei The Strokes, Deichkind,
Bonaparte oder Them Crooked Vultures mitgrölen kann - umso besser.
28 May 2010
## AUTOREN
Jenni Zylka
Jenni Zylka
## TAGS
Mecklenburg-Vorpommern
Bob Geldof
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