| # taz.de -- Gerichtszeichnerin Christine Böer: "Wollte ihm doch gerecht werden" | |
| > Seit Jahrzehnten zeichnet die Hamburgerin Christine Böer Menschen vor | |
| > Gericht. Ein Gespräch über das bedrohte Genre Gerichtszeichnung und den | |
| > Prozess als Gladiatorenkampf. | |
| Bild: Der "Baulöwe" inmitten seiner Anwälte: beim Prozess gegen Jürgen Schne… | |
| taz: Frau Böer, wie sind Sie zur Gerichtszeichnung gekommen? | |
| Christine Böer: Ganz ungeplant. Eine Boulevardzeitung hat mich dorthin | |
| geschickt. Ich hatte damals das Glück, die St. Pauli-Mafia mit ihren | |
| wechselnden Bärten zu charakterisieren. | |
| Hat es Sie sofort gepackt? | |
| Ich bin ein Mensch, der sehr gerne dramatische Geschichten hört und das | |
| Leben ohnehin als leicht explosiv erlebt: diese unsichtbaren Drähte, die | |
| unter dem Boden laufen. Ich bin wie ein staunendes Kind. | |
| Unter den Nazis ist die Physiognomik in Verruf geraten. Aber der Laie fragt | |
| sich dennoch: Wie viel kann man am Gesicht eines Angeklagten ablesen? | |
| Nicht viel. Ich würde höchstens so weit gehen, dass man Menschen ihre Macht | |
| oder Ohnmacht ansehen kann. Ihr ganzes Gehabe, ihre Erscheinung, das | |
| Stolzieren oder Schleichen geben Auskunft. | |
| Warum sind Gerichtszeichnungen so selten geworden? | |
| Es ist eine reine Frage des Geldes. Ein Gerichtszeichner, selbst ein | |
| schlechter, bekommt immer mehr als ein Fotograf. Es wird also vor oder nach | |
| der Verhandlung fotografiert. Deswegen ist die Berichterstattung so farblos | |
| - und auch so manipulativ: Ein Foto auf dem Gerichtsflur kann ich stellen. | |
| Warum empfinden die Gerichte die Zeichnung als harmloser? | |
| Ich wirke nicht bedrohlich, ich habe keinen großen Fotoapparat. Und da | |
| fängt es dann schon an, dass viele sagen: "Mein Onkel malt auch. Aber in | |
| Öl." Das macht man sich als Gerichtszeichner zunutze. Man geht in die | |
| Tapete über. | |
| Aber dem Porträtierten kommen Sie ja sehr nahe. | |
| Das durch die menschliche Empfindung geprägt Bild ist immer subjektiv. Aber | |
| es hat ganz andere Möglichkeiten als das Foto: Es nimmt sich Zeit. Wenn der | |
| Zeichner gut ist, beobachtet er Mimik und Gestik über eine längere Zeit. Er | |
| kann - und das ist ganz wichtig - weglassen. Und hervorheben, was ihm | |
| wichtig erscheint. Er kann mehrere Aspekte einer Person auf ein Bild | |
| setzen. Das alles kann das Foto nicht. Ich setze noch Zitate zu meinen | |
| Zeichnungen: Damit werden sie zu einem Psychogramm aus Worten und Strichen. | |
| Sie haben gesagt, dass eine misslungene Zeichnung Sie eine Nacht lang | |
| wachhalten kann. Wann ist für Sie ein Porträt gescheitert? | |
| Wenn ich einer Person nicht gerecht geworden bin, dann kann das dazu | |
| führen, dass ich einen neuen Anlauf nehme. Ich lasse es, wenn es ein | |
| Wischi-Waschi-Typ ist, dessen Delikt einem bekanntes Strickmuster folgt. | |
| Dann ist derjenige aber auch wenig unterscheidbar. Aber wenn mich ein Figur | |
| so sehr beschäftigt, wie der Graffiti-Sprayer "OZ", der sich sozusagen als | |
| Metapher für das ganze Delikt eignet, weil er in seiner ganzen Erscheinung | |
| die Flüchtigkeit darstellt, dann setze ich alles daran, das wiederzugeben. | |
| Vermutlich sind es nur die Selbstbewussten unter den Angeklagten, die sich | |
| Ihre Bilder hinterher noch angucken. | |
| Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal habe ich das Bedürfnis, dem | |
| Angeklagten sein Bildnis zu zeigen. Ich denke, das ist fair. Wie bei dem | |
| Halbstarken, der gemordet hat, den ich ohne Gesicht, embryonal in sich | |
| verkrochen dargestellt habe. | |
| Wie hat er darauf reagiert? | |
| Nicht spektakulär. Er ist zusammengezuckt und hat leise etwas gemurmelt: | |
| "Das bin ich wohl." | |
| Als Zeichnerin interpretieren Sie - teilen die Gezeichneten stets Ihre | |
| Interpretation? | |
| Die Zeichnung beinhaltet Empathie - der kann man sich nicht verschließen - | |
| und Anteilnahme. Sie diffamiert nicht. Eine gute Gerichtszeichnung liefert | |
| den Angeklagten nicht reißerisch an den Pranger aus - das ist, was die | |
| Bild-Zeitung macht. Ich habe mich immer geweigert, für sie zu arbeiten. Und | |
| ich bin Gott sei Dank in einer Position, dass ich nicht kriechen muss. | |
| Sind die Prozesse, zu denen die Redaktionen Sie schicken, auch diejenigen, | |
| die Sie sich selbst aussuchen würden? Also die prominenten Fälle: | |
| Reemtsma-Entführung, der Erpresser Dagobert… | |
| Beim Reemtsma-Prozess war für mich der Aufhänger: Ein Mensch hilft sich | |
| selbst. Jemand, der sich über die demütigendsten Bedingungen der | |
| Gefangenschaft hinweg geholfen hat, indem er geschrieben hat. Und Dagobert | |
| ist für mich das herrliche Beispiel eines Menschen, der sich Geld auf | |
| unredliche Weise verschafft hat, aber sich durch das Geld nicht verändern | |
| lässt. Er hat während der Verhandlung ja betont: "Herr Richter, dat war für | |
| mich ohne schöpferische Herausforderung. Dat hat mich jenervt, dieses viele | |
| Geld. Aber haben wollt ichs doch." Aber Sie vergessen die politischen | |
| Prozesse. | |
| Als es um die Großen der DDR ging. | |
| Ich bin ein Ost-West-Geschöpf. Ich habe 20 Jahre auf dem Boden der DDR | |
| gelebt, bin dann hier rüber gemacht und habe dadurch ein ganz anderes | |
| Verständnis auch für die Ost-Seite. Und es war mir ein Bedürfnis, dass | |
| nicht nur die DDR-Polit-Mafia, sondern als Gegengewicht auch der | |
| CDU-Spendenausschuss gezeigt wird. Mir war aber auch der Prozess gegen den | |
| Baulöwen Jürgen Schneider wichtig, das absurde Theater mit den Bankern. | |
| "Mein Name ist Hase", hieß es, nichts gesehen, nichts gehört. Aber | |
| Schneider hat sie vorgeführt, wie sie sich nach nichts erkundigt haben, als | |
| sie ihm enorme Kredite gaben. | |
| Wie nahe gehen Ihnen die Prozesse, die nicht das Heitere von Dagobert | |
| haben? Zum Beispiel in dem Prozess gegen jene Hamburgerin, die ihre Tochter | |
| Jessica verhungern ließ? | |
| Ich beobachte mit Schmerzen, dass sich nichts ändert. Die Berichterstattung | |
| war derartig vordergründig und auf Tränendrüsen aus in einem Fall, der doch | |
| an ganz tiefe Missverhältnisse in unserer Gesellschaft rührt. Es ist ein | |
| Fall, der Auskunft gibt über Chancenungleichheit und Unerwünscht-Sein im | |
| dritten und vierten Glied. Ich wollte Mutter, Großmutter und Kind zeichnen, | |
| um diesen Domino-Effekt zu zeigen. Ich frage mich oft, wie ich Ursachen | |
| sichtbar machen kann. Beim Alt-Nazi Engel habe ich ein Foto von ihm als | |
| jungen Mann in sein altes, verknorrtes Ewig-Gestriges Gesicht montiert. | |
| Letztendlich gibt es zu dem Jessica-Prozess von Ihnen nur ein Bild, auf dem | |
| die Mutter zu sehen ist. | |
| Ich habe angefangen mit dem Kind, ich bin in die Pathologie ins Klinikum | |
| Eppendorf gegangen und habe mir das Foto zeigen lassen. Ich habe das Kind | |
| aquarelliert, aber als ich fertig war, dachte ich: Das kannst du niemandem | |
| zeigen. Es ist zu indiskret. Ich kann es nicht veröffentlichen. | |
| Sie gehen jetzt nur noch zu den Prozessen, die Sie selbst interessieren. | |
| Welche sind das? | |
| Das kann ich im Voraus nicht sagen. Ich werde auf jeden Fall zum Prozess | |
| gegen die See-Piraten gehen, weil ich sehen will, wie die gucken: Machen | |
| sie einen mutigen Eindruck, was treibt sie um? | |
| Zeichnen Sie auch die Opfer? | |
| In dem Fall interessieren sie mich nicht so. Aber mich interessieren die | |
| Zuschauer. Ich zeichne oft ins Publikum - das ist genau das, was ich nicht | |
| soll. Es interessiert mich brennend: Was kommt an? Wie nehmen die Partei? | |
| Gehen Sie auf den weinerlichen Ton ein, den die meisten Medien in ihrer | |
| Gerichtsberichterstattung haben? | |
| Oder fordern die Höchststrafe. | |
| Es ist wie im alten Rom: Das Publikum ist zu irrationalen Wendungen in der | |
| Lage. Wenn der Gladiator Substanz gezeigt hat, hält es vielleicht den | |
| Daumen hoch. Im Prozess gegen Pastor Geyer, der seine Frau getötet hat, gab | |
| es eine blinde Lynchstimmung. Aber ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, | |
| wenn sich alle so gerecht vorkommen. Ich habe den Pastor um Erlaubnis | |
| gefragt, ob ich ihn in der Pause aus der Nähe zeichnen könnte, weil ich ihn | |
| aus der Ferne nie gut sehen konnte. Ich wollte ihm doch gerecht werden, ich | |
| wollte nicht in dieses allgemeine Mord-Pastor-Geschrei einstimmen. | |
| Stört es die Zuschauer, wenn Sie sie zeichnen? | |
| Nein, im Gegenteil. Die sind neugierig und wollen hinterher sehen, was ich | |
| mache. Ich bin kooperativ, wenn sie sagen: "Die Nase hätte ich ein bisschen | |
| größer gemacht." Dann sage ich: "Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam | |
| machen." Ich sehe mich fest - es ist mir wertvoll, wenn jemand völlig | |
| unvorbereitet darauf guckt. | |
| 6 Jun 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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| Zeichner | |
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