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# taz.de -- Debatte Unser Israel (8): In Reichweite der Raketen
> In der Westbank profitieren Palästinenser vom israelischen
> Wirtschaftsboom. Viele sind zufrieden.
Wir leben vierzig Kilometer vom Gazastreifen entfernt, in einem Vorort der
Stadt Beer Sheva. Von unserer Dachterrasse sehen wir im Süden die
Negev-Wüste und die Wohnorte einiger Beduinenstämme, im Norden die ersten
Hügel der Wüste Judäa mit Palästinenserdörfern und einer jüdischen Siedlu…
(im Westjordanland, d. Red.). Wir wohnen in Sichtweite des
Sicherheitszaunes, zum nächsten Checkpoint ist es eine halbe Stunde Fußweg
durch die Wüste. Tausende Palästinenser passieren täglich die
Kontrollanlagen, um auf unserer Seite zu arbeiten. Die Palästinenser aus
diesen Dörfern (im Westjordanland) leben von Israel, gleichfalls die
Beduinen auf unserer Seite des Zaunes. Das ist unser Alltag, über den
deutsche Medien wie auf Verabredung nicht berichten.
Der israelische Wirtschaftsboom der vergangenen Dekade hat auch die
Lebensverhältnisse der Palästinenser hinter dem Zaun und der Beduinen auf
unserer Seite deutlich gehoben. Auch darüber haben deutsche Medien in den
vergangenen zehn Jahren so gut wie nie berichtet. Das Wirtschaftswachstum
im Westjordanland liegt bei 6 Prozent, eine Traumzahl für jede europäische
Wirtschaft. Nach Umfragen der Universität Nablus, die in keiner deutschen
Zeitung erwähnt wurden, findet sich derzeit keine palästinensische Mehrheit
für eine eigene Staatsgründung - viele scheinen mit dem Status quo
zufrieden. Die Palästinenser im Westjordanland leben heute besser als viele
andere Araber im Nahen Osten, ihr Lebensstandard ist höher als etwa in
Syrien oder im Irak.
Ganz anders ist die Lage in Gaza. Dort sind 2005 die israelischen Siedler
und Truppen abgezogen, nach jahrelangem Druck durch fortschrittliche
Menschen und Friedensfreunde. Bald darauf erwies sich dieser Abzug für die
palästinensische Bevölkerung als Desaster. Er führte keineswegs zum
friedlichen Aufbau eines eigenen Staates, sondern zu Orgien der Zerstörung,
zur Vertreibung zahlreicher Intellektueller und Mittelständler - kurzum
derer, die zu einer Staatsgründung unerlässlich sind - und blutigen
Säuberungen durch die militante, vom Iran bezahlte Organisation Hamas.
Die Charta dieser Organisation ist öffentlich zugänglich, unter anderem im
Internet, ihr Hauptanliegen ist die Vernichtung des Staates Israel und die
Vertreibung aller Juden ("Zionisten") und Christen ("Kreuzfahrer") aus der
Region. Frauen weist diese Charta die Rolle als Gebärerin und Amme
künftiger Hamas-Kämpfer zu. Da die Glaubenskämpfer im Gazastreifen sich
selbst als Männer der Tat verstehen, begannen sie alsbald mit dem
permanenten Beschuss des israelischen Staatsgebiets mit Mörsergranaten und
Raketen.
Warum ist immer Israel schuld?
Seither lebe ich im Einschussbereich iranischer Raketen, die jederzeit von
Gaza aus abgefeuert werden können. Auch heute, da ich dies schreibe, sind
wieder drei Geschosse eingeschlagen. Wie weit sie reichen, wissen wir seit
Januar 2009, als auch Beer Sheva und Vororte unter Beschuss gerieten - rund
eine viertel Million Menschen, Juden und Araber. Die Universität wurde
geschlossen, die Schulkinder mussten zu Hause bleiben. Das erste Todesopfer
war ein Araber, der auf einer israelischen Baustelle arbeitete - auch
dieses Detail blieb in deutschen Medien möglichst unerwähnt.
Damals ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass geschehen kann, was will:
Israels Schuld steht a priori fest. Das Bild von Israel, das die meisten
deutschen Medien zeichnen, ist voreingenommen, selektiv, verfälscht. Der
überwiegende Teil der israelischen Realität wird einfach ausgeblendet. Die
Erfolge des Landes, der wirtschaftliche Aufschwung, das Sozialsystem für
Juden und Araber gleichermaßen - nichts davon finden deutsche Medien
mitteilenswert.
Oft berichten sie ausgemachten Nonsens. Lügen vergessen sie zu korrigieren,
auch wenn sie aufgeflogen sind (wie kürzlich die gefälschten Fotos der
Nachrichtenagentur Reuters, auf denen die Messer in den Händen türkischer
Friedensfreunde einfach weggeschnitten wurden - kaum eine deutsche Zeitung
hielt es für nötig, darüber aufzuklären). Europas Wahrnehmung dessen, was
hier geschieht, liegt so weitab von der Wirklichkeit, dass schwere
politische Irrtümer nicht ausbleiben können. Auch kostenspielige: Viele
Milliarden hat die EU im Nahen Osten in den Sand gesetzt.
Ich bedaure die Leser, die auf diese einseitige, dürftige Berichterstattung
angewiesen sind. Wäre der Hafen von Gaza offen, wie Medien, Politiker und
gute Menschen Europas fordern, könnten die Waffenschiffe des Mullah-Regimes
ungehindert Raketen und anderes Kriegsmaterial anliefern. Wir wären dann -
wie jedes Kind auf der Landkarte sehen kann - unter Dauerbeschuss und
müssten diesen Teil Israels räumen. Ist es das, was die Friedensfreunde
wollen?
Wir Juden kennen keine Tabus
Die zentrale Frage dieser Debatte, ob Kritik an Israel "erlaubt" sei, ist
verfehlt. Für Juden gibt es traditionell kein Tabu des Denkens, folglich
auch kein Verbot, irgendetwas oder irgendwen in der Welt kritischer
Betrachtung zu unterziehen. Juden haben das kritische Denken eigentlich
erst kultiviert, zur Methode gemacht und damit immer wieder soziale
Verhältnisse, Wissenschaft und Kunst revolutioniert. Jüdische Kritik gilt
auch dem Staat Israel. Er wird vermutlich von Juden, besonders von
Israelis, kritischer gesehen als von irgendwem sonst.
Die Frage, um die es in dieser Debatte wirklich geht, ist die Frage nach
dem geistigen Niveau und den Motiven des Vorgebrachten. Müssen wir auf jede
Lüge eingehen, auf jeden verbalen Hassausbruch, jeden der leichtfertigen
oder böswilligen Vorschläge, die, würden wir sie befolgen, Israels Existenz
aufs Spiel setzten und demnächst auch die Europas? Muss die Ausladung eines
Norman Finkelstein zwangsläufig auf die geheimen Ränke einer "Israel-Lobby"
zurückgehen? Wäre sie nicht auch damit zu erklären, dass die Veranstalter
seine Stereotype zu dumm, zu marktschreierisch finden, um sie nochmals von
einem Podium herunter verkünden zu lassen? Wer das in Abrede stellt,
schließt eine Möglichkeit von vornherein aus: dass es auch in Deutschland
Menschen gibt, denen blinder Israel-Hass als Sicht auf die Welt einfach zu
dumm ist.
18 Jul 2010
## AUTOREN
Chaim Noll
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