# taz.de -- Aufklärung: Brüder ohne Hüter | |
> Nach den Missbrauchsfällen in Ahrensburg ermittelt das Kirchenamt in | |
> Kiel. Ein Zwischenbericht wird dieser Tage erwartet. Doch ob er der | |
> Wahrheitsfindung dient, wird von den Opfern bezweifelt. | |
Bild: 1997 kämpfte die Nordelbische Kirche für den Buß- und Bettag. Jetzt mu… | |
Der Tatort liegt in einer ruhigen Seitenstraße. Es ist ein Einfamilienhaus | |
wie die Häuser daneben auch, der Garten ist etwas verwildert, findet | |
Sebastian Kohn. "Das hatte ich früher besser im Griff", sagt er und | |
versucht ein Lachen. In diesem Haus hat er früher gewohnt, mit seiner | |
Mutter und seinen Brüdern. Und mit Pastor Dieter K., seinem Stiefvater, der | |
ihn und zwei seiner Brüder missbraucht hat. "Dieses Haus bedeutet mir | |
nichts mehr", sagt Sebastian Kohn, er fährt weiter. | |
Seit die Geschichte öffentlich ist, führt er fast täglich Besucher durch | |
den Ahrensburger Ortsteil Am Hagen, in dem sich alles abgespielt hat. Kohn | |
war damals Jugendlicher, die Einfamilienhäuser, sagt er, lagen hinter hohen | |
Buchenhecken, keiner sollte hineinsehen. "In diese kleine Welt passt doch | |
kein Skandal rein", sagt er. | |
Kirchenamt ermittelt | |
Derzeit ermittelt das Kirchenamt der Nordelbischen Kirche in Kiel, wie es | |
möglich war, dass Pastor K. jahrelang Mitglieder seiner Jugendgruppe und | |
drei seiner Stiefsöhne missbraucht hat, obwohl zumindest sein Kollege, | |
Pastor H., davon wusste. Wie es möglich war, dass die Vorgesetzte von | |
Pastor K., Pröpstin Heide Emse, zwar schließlich für seine Versetzung | |
sorgte, es jedoch nie zu einem Disziplinarverfahren kam und im Kirchenamt | |
auch keine Akten zu dem Vorfall angelegt wurden. | |
Ein Zwischenbericht zu den Ermittlungen soll Mittwoch oder Donnerstag | |
erscheinen, doch viel Hoffnung auf weitere Aufklärung macht der | |
Pressesprecher der Nordelbischen Kirche, Thomas Kärst, nicht. "Es wird | |
nicht viel anderes herauskommen als das, was schon bekannt ist", sagt er. | |
Bekannt ist, dass viele Bescheid wussten, aber nichts sagten, aus welchen | |
Gründen auch immer. K.s Kollege Pastor H., in Ahrensburg lange ein hoch | |
angesehener Mann, hat gegenüber der Zeit gesagt, dass Jugendliche vor einem | |
Weihnachtsgottesdienst Zettel verteilen wollten, auf denen sie die Vorwürfe | |
gegen Pastor K. aufschreiben wollten. Er habe ihnen abgeraten, um den | |
Leuten nicht "das Weihnachtsfest zu verhageln". Inzwischen läuft gegen | |
Pastor H. selbst ein kirchliches Disziplinarverfahren. Zwei Frauen, die | |
damals in seiner Jugendgruppe waren, haben ihn wegen sexuellen Missbrauchs | |
angezeigt. Pastor H. sei in Ahrensburg "wie ein Gott, gegen den lehnt man | |
sich nicht auf", sagt Sebastian Kohn. Er selbst hat nur selten die Kirche | |
besucht, er hatte seinen Pastor ja im Haus. Einmal, sagt er, sei er in | |
einem Weihnachtsgottesdienst gewesen, und sein Stiefvater habe gepredigt. | |
"Ich dachte: der lügt, lügt, lügt." | |
In Sebastian Kohns kleinem Auto liegen die Zigaretten griffbereit, während | |
er die Stationen seiner Kindheit abfährt. Der Kirchsaal am Hagen verströmt | |
backsteinerne Nüchternheit, hier hat sich die Jugendgruppe versammelt, die | |
sein Stiefvater leitete. Kohn war nur auf der Ausfahrt ins Elsass dabei, | |
damals habe ihn Dieter K. zum ersten Mal missbraucht. Es dauerte Jahre, bis | |
der Junge die Kraft findet, sich zu wehren. Lange beamte er sich aus seinem | |
Körper weg. Viel später, beim mündlichen Examen im Studium, kam das wieder, | |
er sah sich von außen, wusste nichts mehr. Obwohl er sonst gute Noten | |
hatte, fiel er zweimal durch die Prüfungen. "Dann kamen die Kinder, das war | |
dann gut", sagt er. | |
Sebastian Kohn ist jetzt 42, wenn man ihn fragt, was er macht, sagt er: | |
"Ich bin krankgeschrieben." Derzeit nimmt er Antidepressiva, "das volle | |
Programm", sonst ginge es nicht. Von den fünf Kohn-Brüdern sind die anderen | |
beiden, die auch Opfer des Stiefvater wurden, gestorben, die zwei anderen | |
gingen nach Hamburg und Berlin. Sebastian ist der einzige, der noch in | |
Ahrensburg lebt, er sagt, es sei wegen der Kinder. | |
Immerhin ist er jetzt auf die andere Seite gezogen, nach Ahrensburg City, | |
in die Nähe von Schloss und Schlosskirche, weit weg von der Siedlung Am | |
Hagen, die jenseits der Bahnlinie liegt und immer schon eine Welt für sich | |
war. In Ahrensburg gab es ein Gymnasium und Jugendhäuser, und in der Kirche | |
herrschte Aufbruchsstimmung. Am Hagen gab es den Sportverein und den | |
Kirchsaal, und dort herrschten die Pastoren K. und H. | |
An ein Entkommen war nicht zu denken, sagt Kohn. Seine Familie sei ein | |
"Sozialfall" gewesen, dreieinhalb Jahre habe die Mutter allein gelebt. "Und | |
dann kam so ein Pastor, der Geld hatte, in unseren Augen, und wo es an | |
nichts gemangelt hat." Bei dem Pastor, der inzwischen 72 ist, war | |
vergangene Woche das Jugendamt, es hat seine 28-jährige Frau und den | |
sechsjährigen Sohn herausgeholt, das immerhin. Sebastian Kohn hilft das | |
nicht viel. Er ist wütend, nicht so sehr auf seinen ehemaligen Peiniger, | |
"der ist krank", sondern auf die Kirche. Warum, fragt er, hat die damalige | |
Pröpstin nicht mehr unternommen? Wie konnte es sein, dass die | |
Missbrauchsgeschichte in der Kirchenbürokratie versackte? Und wie kann | |
dieselbe Kirchenbehörde jetzt für sich in Anspruch nehmen, die Vorfälle | |
aufklären zu wollen? | |
Die derzeitige Pröpstin des Kirchenbezirks, Margit Baumgarten, sei bei den | |
sechs Treffen der von der Kirche eingerichteten Missbrauchs-Gruppe genau | |
ein Mal erscheinen, sagt Kohn. Dabei habe Bischof Ulrich sie noch gelobt | |
wegen ihres Engagements. Zwei Mitglieder des Opfervereins "Missbrauch in | |
Ahrensburg" hätten in den vergangenen Wochen versucht, sich umzubringen, | |
sagt Kohn. Zur Verzweiflung habe sie nicht der Missbrauch getrieben, | |
sondern die Art, wie die Kirche damit umgehe. | |
Gemeinde zerstritten | |
Die Kirchengemeinde Ahrensburg ist nach den Vorfällen tief zerstritten. Der | |
derzeitige Vorsitzende des Kirchenvorstands, Schlosskirchen-Pastor Helgo | |
Matthias Haak, hat den Pastoren K. und H. nach Bekanntwerden der Vorwürfe | |
alle pastoralen Tätigkeiten in Ahrensburg untersagt. Pastor H. hält seitdem | |
seinen in der Gemeinde geschätzten Gesprächskreis in seinen Privaträumen | |
ab, und Haak wurde selbst zum Ziel von Angriffen: Wie es sein könne, dass | |
er, der seit 1992 in Ahrensburg an der Schlosskirche ist, von den | |
Missbrauchs-Gerüchten in der Nachbargemeinde Am Hagen nichts mitbekommen | |
habe? | |
"Als ich kam, waren die Gemeinden noch getrennt, da drang nichts durch", | |
sagt Haak dazu. Zu den Vorfällen durfte er sich bis gestern Nachmittag | |
nicht äußern, das Kirchenamt hatte ihm ein Redeverbot erteilt, bis die | |
Ermittlungen beendet sind. | |
"Herr Haak hat das Pech, dass er der Kirchenvorstands-Vorsitzende ist", | |
sagt Pastorin Anja Botta, die Nachfolgerin von Pastor H. im Kirchsaal | |
Hagen, zu den Angriffen. Dabei seien sich alle Pastoren einig gewesen, | |
gegen die beiden Amtsbrüder vorzugehen, und auch im Kirchenvorstand habe es | |
eine "große Mehrheit" gegeben. | |
Botta diagnostiziert in der Gemeinde "Wut, Enttäuschung und | |
Abwehrreaktionen". "Die Leute haben den beiden über Jahrzehnte vertraut", | |
sagt sie. Sie hätten bei ihnen geheiratet, hätten ihre Kinder konfirmieren | |
lassen. Pastor K., so hört man, soll ein begabter Begräbnisredner gewesen | |
sein. Als 2006 die Frau von Pastor Haak starb, hielt er die Ansprache. | |
Inzwischen hat Haak den Kontakt abgebrochen. Leicht ist das nicht: die | |
beiden sind Nachbarn. | |
27 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Daniel Wiese | |
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