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# taz.de -- Von Schirachs "Schuld": Beide waren sofort tot
> Die Plots in "Schuld", dem neuen Kurzgeschichtenband des
> Strafverteidigers Ferdinand von Schirach, könnten auch aus einem "Tatort"
> stammen. Aber der Ton ist härter.
Bild: Skizziert seine Figuren nur – genau deshalb ist seine Prosa etwas Beson…
Nina ist 17, trinkt und lebt auf der Straße. Ein Mann lädt sie in seine
Wohnung ein. Nur wenn mein Freund mitkommt, sagt Nina. Sie ist keine
Prostituierte. In der Wohnung lässt der Mann seine Hosen herunter und
onaniert. Die Situation eskaliert sekundenschnell, dann ist der Mann tot,
ertränkt in seiner Badewanne. Nina und ihr Freund nehmen das Geld, das sie
finden, und verschwinden. Sie zählen zu den Verdächtigen, aber der Fall
wird nicht aufgeklärt. Nina und ihr Freund kriegen die Kurve. Sie bekommen
zwei Kinder, haben Jobs und wohnen in einem Reihenhaus.
19 Jahre später liegt ein Brief der Polizei auf ihrem Küchentisch. Sie
sollen Speichelproben abgeben. Die DNA-Untersuchungsmethoden sind
inzwischen präziser geworden. Zwei Wochen später werden sie festgenommen.
Sie sind die Hauptverdächtigen, werden aber wegen ihres soliden
Lebenswandels aus der U-Haft entlassen. Das Ende der Geschichte liest sich
so: "Es ließ sich nie aufklären, woher die Pistole stammte. Er schoss ihr
ins Herz und sich in Schläfe. Beide waren sofort tot. Sie lagen am Wannsee,
geschützt in einer Sandkuhle. Sie hatten es nicht in der Wohnung machen
wollen. Erst vor zwei Monaten hatten sie die Wände gestrichen."
Die Erzählung heißt "DNA", ist kaum länger als diese Kritik und typisch für
die Prosa des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach. Verknappt,
verdichtet, in kurzen Hauptsätzen erzählt, eine Sprache wie kalter Marmor.
Typisch ist auch die Abwesenheit handhabbarer Schuldzuweisung. Es gibt in
diesen Geschichten über Frauen, die sich jahrelang von ihrem Mann foltern
lassen, über Ehemänner, die halb zufällig einen Geschäftspartner
erschlagen, keine ordnende Moral, keine besänftigende Deutung, die das
Ungeheuerliche wenigstens erklärbar machen. Das Leben der Figuren ist meist
ganz normal. Die Wohnung ist gerade abbezahlt, die Bonuszahlungen fließen
üppig, die Täter bezahlen ordnungsgemäß ihre Steuern. Dann stürzen die
Figuren durch ein Versehen und doch unausweichlich ins Unglück. Ein Mann
wird fälschlich wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt und alles, was er
war, Job, Ehe, Selbstbewusstsein, löst sich in nichts auf. Ein glückliches
Oberschichtsehepaar verliert sich in demütigenden sexuellen Eskapaden, ohne
zu wissen, warum. "Es war einfach da gewesen, es gab keine Erklärung."
Manche Plots könnten auch aus einem "Tatort" stammen. Aber der Ton bei von
Schirach ist anders, härter, genauer. Kein Kommissar bringt hier die
bürgerliche Welt wieder in Ordnung oder wenigstens Licht ins Dunkel. In den
besten Storys bleibt manchmal sogar ein Rätsel, ob es überhaupt ein
Verbrechen gab.
Von Schirach hat vor einem Jahr "Verbrechen" veröffentlicht, elf Episoden.
"Lauter unglaubliche Geschichten, doch sie sind wahr", steht auf dem
Klappentext. Denn Schirach hat diese Geschichten als Anwalt erlebt und als
Material verwendet (wir nehmen an, unter strenger Einhaltung der
anwaltlichen Schweigepflicht). "Verbrechen" wurde 150.000-mal verkauft und
war ein unvorhersehbarer Erfolg. Die umfassende Begeisterung, die diese
Texte von Bild bis FAZ auslösen, hat etwas mit dem Versprechen des
Authentischen zu tun. Wäre der Autor kein Anwalt, der Wahres berichtet,
sondern ein Jungschriftsteller, würde er als begabter Epigone von Raymond
Carver gelten. Doch diese Storys erzählen offenbar etwas über uns, die
Mittelschicht mit Rentenansprüchen und sechs Wochen Urlaub im Jahr, die das
Unvorhersehbare, das Böse, das Unheil, so gut es geht, aus ihrem Alltag
ausgeschlossen hat. Davon erzählt von Schirach - und trifft damit unsere
zwiespältige Angstsehnsucht nach elementaren Erfahrungen, gegen die keine
Hausratsversicherung schützt. Manche Literaturkritiker bemängeln, dass der
Autor die Figuren bloß skizziert, ohne sie mit einem ordentlichen
Gefühlshaushalt auszustatten. So ist es. Genau deshalb ist diese Prosa
etwas Besonderes. Sie kommt ohne den allgegenwärtigen psychologischen
Realismus aus, der so viele Filme und Romane formatiert. Die Kürze, schrieb
Anton Tschechow, ist die Schwester des Talents.
Von Schirach hat die Episoden für "Verbrechen" nebenher nach der Arbeit
geschrieben. Sein Debüt hatte eine traumwandlerische Stilsicherheit, manche
Geschichte las man zwei-, dreimal. In "Schuld" tut man das nicht. Die Texte
sind etwas düsterer, aber sehr ähnlich gebaut wie in "Verbrechen". Sie
haben diesen kalten Von-Schirach-Sound. Sie sind erwartbar. Es wäre wohl
klug gewesen, nicht hastig das Rezept von "Verbrechen" einfach zu
wiederholen. Aber von Schirach ist nun ein Star, der viel interviewt wird
und eine TV-Talkshow zu aktuellen Gerichtsverfahren moderieren will. Es ist
ein bisschen unheimlich, wie reibungslos und automatisch sich Leute in
Marken verwandeln.
Vor allem aber ist "Schuld" schlicht nicht so originell wie "Verbrechen",
sprachlich nicht so elegant. Am Ende einer Geschichte über einen
malträtierten Jungen in einem Internat beschreibt von Schirach, wie er
Jahre später die gleiche Allee entlangfuhr, auf der der Junge einst von
seinen Eltern ins Internat gebracht worden war. Dort kollidiert sein Wagen
fast mit einem "schwarzen, riesigen Hund." Man weiß nicht, was dieser Hund
in dieser Geschichte verloren hat. Aber offenbar musste noch ein Symbol
her. Um die Einsamkeit einer Frau zu beschreiben, legt von Schirach sie
nachts schlaflos auf eine Liege. "Es gab Milliarden von Sonnensystemen in
dieser Milchstraße und Milliarden solcher Milchstraßen. Dazwischen war es
kalt und leer. Sie hatte die Kontrolle verloren."
Das sind nur Kleinigkeiten. Aber gerade bei dieser hämmernden, aufs
Wesentliche eingedampften Sprache stört jedes Wort, das nicht passt.
Ferdinand von Schirach: "Schuld". Piper, München 2010, 208 Seiten, 17,95
Euro
4 Aug 2010
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Ferdinand von Schirach
Krimi
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