# taz.de -- Integration: Behinderte werden normal | |
> Vom heutigen Donnerstag an lernen in Bremens fünften Klassen behinderte | |
> und nichtbehinderte Kinder zusammen. Der Stadtstaat ist Vorreiter beim | |
> gemeinsamen Lernen, aber nicht alle Eltern sind überzeugt. | |
Bild: Gemeinsam lernen: In Bremen wird die UN-Konvention zur inklusiven Bildung… | |
Wenn am heutigen Donnerstag die neuen fünften Klassen in Bremens Schulen | |
zusammenkommen, ist das für manche Lehrer eine ungewohnte Situation. Denn | |
als erstes Bundesland hat sich Bremen im vergangenen Jahr die so genannte | |
Inklusion, das Recht auf ein gemeinsames Lernen behinderter und | |
nichtbehinderter Kinder, in die Schulordnung geschrieben. Damit setzte der | |
Stadtstaat eine entsprechende UN-Konvention um. | |
Vom nun beginnenden Schuljahr an wird der inklusive Unterricht, den es in | |
Bremen bisher nur an den Grundschulen gab, auch an den weiterführenden | |
Schulen fortgesetzt. Zukünftig wird es in Bremen nur noch Gymnasien und | |
Oberschulen geben - eine Schule für alle, die nach neun Schuljahren auch | |
zum Abitur führt. An 28 dieser Oberschulen sind Inklusionsklassen | |
eingerichtet worden, beginnend in Klasse fünf. Nach dem neuen Schulgesetz | |
können Eltern von Lern-, sprach- und verhaltensbedingt behinderten Kindern | |
wählen, ob sie auf eine Regelschule - also die Oberschule - gehen wollen | |
oder auf eine der alten Sonderschulen, die in Bremen Förderzentren heißen. | |
Von 227 Eltern, die die Wahl hatten, entschieden sich 137 für die | |
Inklusion. Rund 60 Prozent wollen sich also auf das Experiment einlassen. | |
Damit entschieden sich aber auch 40 Prozent der Eltern dagegen, dass die in | |
Bremer Grundschulen bereits selbstverständliche Inklusion an den | |
weiterführenden Schulen weitergeht. | |
Der Streit unter den Eltern geht um die Frage, ob Inklusion in einer | |
Normal-Klasse eher eine Belastung ist oder ein Vorteil. Und um die Frage, | |
ob die Regelschule die spezielle Förderung für das jeweilige Kind leisten | |
kann. Insbesondere viele Lehrer an den Förderschulen bezweifeln das. | |
Das Konzept, sagt Gerd Menken, Schulleiter eines Bremer Schulzentrums, sehe | |
für seine Schule so aus: Die Inklusionsklasse sei kleiner, sie habe 17 | |
Plätze plus fünf Plätze für Inklusionsschüler. Außerdem stehe eine | |
Sonderschulpädagogin als zweite Lehrkraft mit 15 Wochenstunden zur | |
Verfügung. Wenigstens in den Hauptfächern werde es eine Doppelbesetzung | |
geben. Die Sonderpädagogin habe die Inklusionsschüler schon in der | |
Grundschule besucht und kennengelernt, erklärte der Schulleiter. | |
Inklusionsunterricht ist für lern-, sprach- und verhaltensbedingt | |
behinderte Kinder gedacht. Für körperlich oder geistig behinderte Schüler | |
hat Bremen seit Jahren das Modell einer Kooperation mit den Regelschulen | |
entwickelt: Die Kinder gehen in dasselbe Schulgebäude, einzelne Fächer wie | |
Sport finden auch gemeinsam statt, der Fachunterricht ist aber getrennt. | |
Während Bremen den Vorreiter spielt, ist Niedersachsen auf dem Weg zur | |
inklusiven Bildung sogar bundesweites Schlusslicht. Gerade mal 4,7 Prozent | |
der Kinder mit Behinderungen besuchten eine integrative Regelschule, | |
kritisiert der Sozialverband Deutschland in seinem jüngst vorgelegten | |
Bildungsbarometer. In Bremen liege die Quote bei 44,9 Prozent. | |
Dabei ist die Integration auch in Niedersachsen im Schulgesetz verankert. | |
Gründe für das Hinterherhinken sind laut Sozialverband Vorbehalte bei der | |
Finanzierung, zähe Bewilligungsverfahren und der Fakt, dass das | |
Lehrerkollegium einer Schule der Integration zustimmen muss. Und so zieht | |
sich die Eröffnung der ersten inklusiven Schule im Land seit Monaten dahin. | |
"Wir haben gedacht, dass wir politische Türen mit unserem Konzept | |
einrennen", sagt Ute Wrede vom Förderverein Eine Schule für alle aus | |
Hannover. | |
Der Verein hatte gehofft, im Schuljahr 2010/11 die Schule zu eröffnen, doch | |
die Behörden in Hannover waren skeptisch. Das Genehmigungsverfahren zog | |
sich in die Länge. Auch die Finanzierung der inklusiven Schule war | |
schwieriger als geplant. Wrede rechnet jedoch damit, dass spätestens 2012 | |
die inklusive Grundschule ihre Pforten öffnen wird. An weiterführende | |
inklusive Schulen ist in Niedersachsen noch gar nicht zu denken - bis auf | |
weiteres liegt Bremen da uneinholbar vorn. | |
4 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Uta Gensichen | |
Klaus Wolschner | |
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