| # taz.de -- Film: 67. Filmfestspiele in Venedig: Irgendwo zwischen Film und Fik… | |
| > Sofia Coppolas Wettbewerbsbeitrag "Somewhere" ist eine Satire auf das | |
| > Showbusiness, sie selbst nimmt die Telegatti-Awards aufs Korn. Auch der | |
| > Film "Guest" fragt, wie man die Wirklichkeit erfassen kann | |
| Bild: Kulisse oder Realität? Hochwasser in Venedig. | |
| VENEDIG taz | Manchmal gehen die Wirklichkeit am Lido und das Geschehen auf | |
| der Leinwand eine seltsam symbiotische Beziehung ein. An dem Tag, an dem | |
| ich José Luis Gueríns Essayfilm "Guest" in der Sala Volpi sehe, regnet es | |
| so sehr, dass der Lungomare, die Straße vor dem Festivalgelände, überflutet | |
| ist. Im Untergeschoss des Casinòs staut sich das Wasser, und weil das Dach | |
| des Gebäudes nicht dicht ist, bekommt man auch im dritten Stock nasse Füße. | |
| Auch einige Akteure in "Guest" warnen vor der Sintflut. Der Film mündet in | |
| Bilder von einem Hochwassertag in Venedig. Die letzte Einstellung zeigt | |
| eine Glasscheibe, an der Regentropfen herabrinnen. Der französische | |
| Filmkritiker Michel Ciment hat einen kurzen Auftritt in "Guest", in der | |
| Sala Volpi nimmt er fünf Sitze links von mir Platz. Überhaupt setzt Gueríns | |
| Film, ein Beitrag zur Orizzonti-Sektion, mit der Mostra des Jahres 2007 | |
| ein; der spanische Regisseur stellte damals "En la ciudad de Silvia" ("In | |
| Silvias Stadt") im Wettbewerb vor, in den folgenden zwölf Monaten nahm er | |
| jede Einladung zu Filmfestivals und Tagungen an, reiste nach New York, | |
| Macau, São Paulo, Hongkong oder Havanna und filmte dort mit einer kleinen, | |
| leichten Digitalkamera, ohne festzulegen, was genau er filmen wollte. Die | |
| Kamera kommt also dem berühmten "camera stylo" recht nahe, der Idee eines | |
| registrierenden Mediums, das so wenig Aufhebens macht wie ein Stift. | |
| "Guest" mischt Schwarzweißbilder von Festivalsituationen mit Straßenszenen | |
| aus den bereisten Städten. Am Anfang etwa machen sich die Schauspielerinnen | |
| aus "En la ciudad de Silvia" im Hotel Excelsior für die Premiere zurecht. | |
| Im Bad von Guerins Zimmer hinterlassen sie eine Unordnung aus Unterwäsche, | |
| Puderdosen, Lippenstiften und Mascara. Im Kontrast dazu stehen die | |
| Begegnungen auf den Straßen der lateinamerikanischen Städte. Dort trifft | |
| der Regisseur auf fliegende Händler, Trinker, Straßenfotografen und -maler | |
| und ebenjene Prediger, die die Sintflut nahe wähnen. Wenn sich Guerin dabei | |
| vom Zufall leiten lässt, so heißt das nicht, dass "Guest" keine Struktur | |
| hätte. Im Gegenteil, der Film arbeitet mit wiederkehrenden, fein verwobenen | |
| Motiven und wirft die Frage auf, wie man Menschen und wie man Wirklichkeit | |
| abbilden, wie man sie festhalten, wie man ihr Wesen in der Darstellung | |
| erfassen kann. | |
| In einer Szene kommt der New Yorker Avantgarde-Filmer Jonas Mekas zu Wort. | |
| Beim Filmen, sagt er, folge er seiner Intuition, er denke nicht nach. Und | |
| er gibt Guerin ein Rätsel mit auf den Weg: "Nichts ist eine Frage der | |
| Entscheidung, und alles ist eine Frage der Entscheidung." Den Raum, der | |
| sich beim Filmen zwischen Entscheidung und Zufall, Plan und | |
| Sich-treiben-Lassen auftut, lotet "Guest" auf eine sehr schöne, offene | |
| Weise aus. | |
| Zu einem weiteren Überblendung von Wirklichkeit und Leinwandgeschehen kommt | |
| es, als Sofia Coppolas Wettbewerbsbeitrag "Somewhere" gezeigt wird, eine | |
| mild-satirische Reflexion über das Showbusiness und die Filmindustrie in | |
| Los Angeles. "Somewhere" unternimmt einen vergnüglichen Abstecher nach | |
| Mailand, wo der Hauptfigur, dem Schauspieler Johnny Marco (Stephen Dorff), | |
| ein Preis bei den Telegatti-Awards verliehen wird. Coppola blickt auf die | |
| italienischen Fernsehgepflogenheiten mit der schon in "Lost in Translation" | |
| an Japan erprobten Mischung aus Staunen und Denunziationslust; die | |
| Silikonbrüste und Botoxvisagen der TV-Moderatorinnen führt sie genauso vor | |
| wie das Napoleon-Bonaparte-Gehabe des Produzenten. Im echten Leben werden | |
| die Telegatti-Awards von Mediaset produziert, einem Unternehmen, das zu | |
| Berlusconis Medien-Gruppe gehört; Mediaset/Medusa hat auch Geld in | |
| "Somewhere" hineingesteckt und bringt den Film in Italien heraus. Das alles | |
| hindert Coppola nicht daran, die Telegatti-Awards aufs Korn zu nehmen. Als | |
| sie bei der Pressekonferenz nach der italienischen Unterhaltungs- und | |
| TV-Kultur gefragt wird, antwortet sie freilich etwas ausweichend: "Wir | |
| haben das in den USA, Sie haben das hier in Italien?" | |
| Johnny Marco, der Protagonist von "Somewhere", gleitet ziellos durch seine | |
| Tage. Mit seinem schwarzen Ferrari ist er auf den Highways von Los Angeles | |
| unterwegs, er besucht Partys, nimmt Promotion-Termine wahr, an die seine | |
| Agentin ihn erinnert wie Eltern ein Kind an den Turnunterricht. Zweimal | |
| bestellt er sich Tänzerinnen auf sein Zimmer im Chateau-Marmont-Hotel, die | |
| dann in "Candy Stripers"-Schwesternkitteln oder im knappen Tennis-Dress für | |
| ihn performen. Beim ersten Mal schläft er während der Performance ein. | |
| Johnny hat eine elf Jahre alte Tochter, Cleo (Elle Fanning); eines Tages | |
| ruft die Mutter an und sagt, sie brauche Zeit für sich. Als Cleo bei Johnny | |
| einzieht, beginnt der, an seinem komfortablen, aber leeren Lebensstil zu | |
| zweifeln. | |
| Der Kameramann Harris Savides findet dafür beeindruckend lakonische Bilder. | |
| Gleich die erste Einstellung, die Totale einer Rennbahn, auf der außer | |
| Johnnys Ferrari kein Auto unterwegs ist, arbeitet raffiniert mit dem, was | |
| onscreen und was offscreen vor sich geht; sie erinnert dabei an die | |
| nihilistischen Autofilme des New-Hollywood-Kinos. Je länger man "Somewhere" | |
| folgt, umso drängender stellt sich die Frage, was es mit dem Ennui der | |
| Hauptfigur, mit diesem oberflächlichen, leeren Leben eigentlich auf sich | |
| hat. In Coppolas Filmen gewinnt man bisweilen den Eindruck, dass | |
| Melancholie und Narzissmus die einzige Psychodisposition ist, die | |
| Konsumkapitalismus und Unterhaltungskultur zulassen. Die Regisseurin | |
| scheint das zu betrauern, schwelgt aber genau auch darin. "Somewhere" | |
| leidet selbst an dem Ennui, der die Hauptfigur befallen hat. So ist man | |
| ganz froh, wenn diese Wundertüten-Mostra weitergeht und neues | |
| Spektakel-Kino bietet. Zum Beispiel Tsui Harks Wettbewerbsbeitrag | |
| "Detective Dee and the Mystery of the Phantom Flame". Darin können sogar | |
| die Hirschkühe Kung-Fu, und das ist etwas, was man garantiert nur auf der | |
| Leinwand, nicht auf dem Lungomare zu sehen bekommt. | |
| 1 Jan 1970 | |
| ## AUTOREN | |
| Cristina Nord | |
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