# taz.de -- 67. Filmfestspiele in Venedig: Unfaire Gefühle | |
> Quentin Tarantino liegen sie zu Füßen in Venezia. Wird dagegen Vincent | |
> Gallos Film gezeigt, ist Hohngelächter zu hören. | |
Bild: Delfine Bafort: In ihren Körper versenkte sich Vincent Gallos Kameramann | |
Vincent Gallo macht sich rar. Zur Pressekonferenz von Jerzy Skolomowskis | |
Wettbewerbsbeitrag "Essential Killing" erscheint er nicht, obwohl er darin | |
die Hauptrolle spielt: einen Taliban, der in Afghanistan gefangen genommen | |
und nach Polen transportiert wird, bei einem Unfall entkommt und fortan | |
durch eine verschneiten Winterwald flieht. Dabei ist er zu gleichen Teilen | |
gehetztes Reh, Rambo und Messias. Letzteres macht die Hybris von "Essential | |
Killing" aus. | |
Die Pressekonferenz zu Gallos eigenem Wettbewerbsbeitrag "Promises Written | |
in the Water" wird abgesagt. Wo andere Regisseure im Festivalkatalog ein | |
Statement zu ihrem Film abgeben, steht bei ihm: "No comment". Zur Premiere | |
von "Promises Written in the Water" am Dienstagnachmittag ist er auf dem | |
roten Teppich erschienen - das behauptet zumindest, auf hartnäckige | |
Nachfrage hin, ein Angestellter des Pressebüros. Ein Foto davon habe ich | |
bis Redaktionsschluss nicht gesehen. | |
Hingabe und Hochmut | |
Die Zurückhaltung mag dem Umstand geschuldet sein, dass Vincent Gallo ahnt, | |
wie sehr ihm sein Ruf im Wege steht; zugleich nimmt er hin, diesen Ruf | |
durch seine Scheu vor der Öffentlichkeit noch zu bekräftigen. Gallo gilt | |
als Enfant terrible, Egomane, Narzisst, als rechts, ja als reaktionär. So | |
viel Exzentrik scheint so schwer verzeihbar, dass höhnisches Gelächter bei | |
der Pressevorführung von "Promises Written in the Water" schon mit dem | |
Vospann einsetzt. Die Credits erleben die meisten Zuschauer in der Sala | |
Darsena anscheinend als Drohungen. Man entnimmt ihnen, dass Gallo das | |
Drehbuch schrieb, Regie führte, produzierte, die Hauptrolle spielt und die | |
Musik komponierte. | |
Das Johlen und die Abwehr setzen sich fort, sobald sein Gesicht länger als | |
eine halbe Minute im Bild zu sehen ist - und das ist oft der Fall. Die | |
Celebrity-Kultur produziert recht heikle und vor allem sehr unfaire | |
Gefühlsökonomien. Quentin Tarantino liegt man zu Füßen. Jedes Mal, wenn er | |
hier am Lido in einem Kinosaal auftaucht, wird ihm zugejubelt. Jedes Mal, | |
wenn er die Straße vor dem Hotel Excelsior entlanggeht, bildet sich ein | |
Pulk von Fans um ihn. An Tarantinos Narzissmus stößt sich niemand. Er freut | |
sich an der bedingungslosen Bewunderung mit großer Selbstverständlichkeit. | |
Bei Gallo hingegen werden Eitelkeit und Egomanie als Anmaßung empfunden. | |
Vielleicht ist das eine unbewusste Verschiebung: Wenn man vor dem einen in | |
die Knie geht, muss man sich, damit der eigene Gefühlshaushalt nicht aus | |
den Fugen gerät, dem anderen überlegen fühlen. Anders lässt sich kaum | |
erklären, warum eine so unschuldige, an Andy Warhols Filmen geschulte, | |
kleine Independent-Produktion wie "Promises Written in the Water" so viel | |
Abwehr hervorruft. In souverän komponierten, immer wieder überraschenden | |
Schwarzweißbildern kontempliert Gallo Körper. Sein eigenes Gesicht, die | |
Schulterpartie, seine Oberarme, seine Hände - und den Körper einer | |
Frauenfigur (Delfine Bafort). In einer langen Einstellung sieht man aus der | |
Untersicht, wie diese Frauenfigur zu technoidem Sound tanzt. Sie ist vom | |
Kopf bis zum Bauchnabel im Bild, ihre Bewegungen sind zuckend, ihre Miene | |
in der Musik versunken. In einer anderen Einstellung schaut sich die Kamera | |
diesen Körper genau an - das rechte Auge im Close-up, die Zähne, den | |
Rachen, ein Ohr, eine Brust, die Schamlippen, den Po. Voyeuristisch ist | |
daran nichts, eher versenkt sich der Kameramann Masanobu Takayanagi in | |
seinen Gegenstand, so wie James Benning sich in seine "13 Lakes" versenkt. | |
Die Siedler bleiben zurück | |
Auch eine andere unabhängige US-amerikanische Produktion im Wettbewerb kann | |
sich sehen lassen: "Meeks Cutoff" ("Meeks Abkürzung") von Kelly Reichardt. | |
Der Film spielt in Oregon im Jahr 1845; drei Siedlerfamilien sind auf dem | |
Weg nach Westen. Ihr Scout, Meek, ist vom Weg abgekommen. Das Land ist zwar | |
weit, der Horizont fern, und nichts wächst hier so hoch, dass es den Blick | |
verstellt. Doch Orientierung oder auch nur eine Wasserstelle sind nicht in | |
Sicht. Je länger der Treck unterwegs ist, desto mehr nehmen das Misstrauen | |
und die stille Verzweiflung der Siedler zu. Als sie einem Indianer | |
begegnen, wissen sie nicht, ob sie in ihm einen Helfer oder einen Feind | |
finden. "Meeks Cutoff" lässt diese Frage offen. | |
Was der Film hingegen recht deutlich herauspräpariert, ist der Gegensatz, | |
der sich zwischen den festen Vorstellungen der Siedler, ihrer | |
Überheblichkeit und Religiosität auf der einen und ihrer Unfähigkeit, in | |
der neuen Umgebung zu bestehen, auf der anderen Seit auftut. | |
Am Ende geht der Indianer allein in die staubige Ödnis. Die Siedler bleiben | |
zurück. Das weiteste Land kann das engste Gefängnis sein. | |
8 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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