# taz.de -- Debatte Sarrazin: Rassismus aus der Mitte | |
> Sarrazins Rassismus repräsentiert nicht die Ränder der Gesellschaft, | |
> sondern die gutbürgerliche Gesellschaft in der Mitte. Muslimfeindlichkeit | |
> ist für sie normativ. | |
Bild: Man muss kein Nazi sein, um diese zu dulden oder ein rechtsextremes Weltb… | |
Jetzt ist häufig zu hören, es wäre falsch, weiterhin die Thesen von | |
Sarrazin zu kritisieren. Wir sollten uns vielmehr den Defiziten bei der | |
Integration der MigrantInnen zuwenden. Dabei wird oft betont, dass Sarrazin | |
zwar zum Teil einer pseudowissenschaftlichen Denkweise erliege und sich im | |
Ton vergreife, er aber auf reale Probleme aufmerksam mache. Deshalb sei es | |
auch falsch, Sarrazin jetzt zu "entsorgen", wie der Neuköllner | |
Bürgermeister Buschkowsky es nannte. Mit seiner Ausgrenzung entledige man | |
sich nach Buschkowsky nur der Notwendigkeit, die Realität der | |
fehlgeschlagenen Integration zur Kenntnis zu nehmen. | |
Sarrazin untersucht nichts | |
Aber womit hat Sarrazin "eigentlich" recht? Mit der Kritik an der | |
Selbstisolation vieler Migranten von der deutschen Mehrheitsgesellschaft, | |
an ihrer "Bildungsferne", an der mangelnden Praxis, die Migrantenkids schon | |
im Vorschulalter fit zu machen? All das wird bei Sarrazin nicht untersucht, | |
sondern im Ergebnis vorausgesetzt. Und es handelt sich um keine bestürzend | |
neuen Erkenntnisse, auf die erst jetzt durch den Pamphletisten Sarrazin | |
aufmerksam gemacht würde. Vielmehr sind die Probleme der Integration seit | |
Langem Gegenstand öffentlicher Debatten. | |
Die bis weit in die Reihen der SPD verbreitete Zustimmung zu dem, was | |
Sarrazin "eigentlich" sagen will, betrifft gerade nicht diese realen | |
Probleme, sondern die demagogische Substanz seines Arguments. Dabei ist es | |
weniger Sarrazins Befürchtung, die Deutschen würden mangels | |
Kinderproduktion demnächst aussterben, die das Publikum erschauern und | |
gebieterisch Abhilfe fordern lässt. Dieser Suada ist der Ursprung aus dem | |
Arsenal des traditionellen Rassismus auf die Stirn geschrieben, und es war | |
eine leichte Übung, eine Parallele zur entsprechenden Nazipropaganda zu | |
ziehen. Der Fortbestand des Deutschtums gehört nicht gerade zu den | |
vordringlichen Sorgen der heutigen Deutschen. | |
Viel gefährlicher, weil verführerischer, ist die kulturelle Argumentation, | |
mittels deren Sarrazin den Muslimen pauschal Lernfähigkeit ebenso abspricht | |
wie den Willen, sich als Staatsbürger in die demokratische Gesellschaft | |
Deutschlands beziehungsweise des Westens einzugliedern. Die Identifikation | |
aller Muslime mit radikalen islamistischen Gruppen wirkt hier in der | |
Nachfolge des 11. September als mächtiger Katalysator. Muslimfeindlichkeit | |
hat ihr materielles Fundament in den sehr weit verbreiteten | |
ausländerfeindlichen Haltungen. | |
Die Arroganz der Christen | |
In einer Studie von Elmar Brähler und Oliver Decker aus dem Jahr 2006 | |
stimmen 34,9 Prozent der Befragten der Ansicht zu, man solle Ausländer in | |
ihre Heimat zurückschicken, wenn die Arbeitsplätze knapp werden. 39,1 | |
Prozent teilen die Meinung, "dass Deutschland durch die vielen Ausländer in | |
gefährlichem Maße überfremdet ist". "Rechtsextremismus", sagt Brähler, "ist | |
hierfür eigentlich der falsche Begriff. Er verschleiert, dass derartige | |
Einstellungen längst in unserer Mitte zu Hause sind." Wenn Soziologen seit | |
den 90er Jahren von Rassismus sprechen, der aus der Mitte kommt, stützen | |
sie sich auf solche Umfragen. Denn die Befragten, die solche oder ähnliche | |
Ansichten äußern, gehören zum Großteil zu den Wählern der etablierten | |
Parteien. | |
Sarrazins kulturalistische Argumentation findet in einem Milieu Zustimmung, | |
das des Rechtsextremismus unverdächtig ist. Untersucht man beispielsweise | |
die Gründe, aus denen ein so honoriger Historiker wie Hans-Ulrich Wehler | |
die EU-Mitgliedschaft der Türkei ablehnt, so wird man auch dort auf eine | |
kulturalistisch unterfütterte These treffen. Danach ist die historische | |
Prägung der Türkei durch den Islam unverrückbar und unvereinbar mit den | |
westlichen demokratischen Werten. Dass die EU-Mitgliedschaft der Türkei | |
durch die gegenwärtige deutsche Regierung abgelehnt wird, verdankt sich | |
ebenfalls dieser exklusiven christlich-abendländische Grundierung. | |
Wie schon zu Zeiten, als der Asylartikel des deutschen Grundgesetzes von | |
der Kohl-Regierung und der SPD-Opposition gemeinsam beseitigt wurde, kam | |
die ausländerfeindliche Angstpropaganda nicht von den Rändern der | |
Gesellschaft her, sondern aus dem Kreis der Regierung und der politischen | |
Eliten. Damals titelte der vorgeblich aufklärerische Spiegel mit "Das Boot | |
ist voll". Es war diese massive politische und mediale Indoktrination "von | |
oben", die den "Extremismus aus der Mitte" verkörperte. Die Attentate und | |
Ausschreitungen von Mölln bis Rostock-Lichtenhagen können ohne diese | |
klimatischen Vorbereitungen nicht verstanden werden. | |
Merkels Kritik ist limitiert | |
Aber beweist die fast einheitliche Ablehnung Sarrazins durch die Regierung | |
und die Führung der politischen Parteien nicht, dass sich die Haltung zu | |
den MigrantInnen im Vergleich zu den 90er Jahren völlig geändert hat? | |
Untersucht man die Gründe, mit denen etwa die Bundeskanzlerin die | |
Sarrazinschen Thesen ablehnt, so findet man eine Kritik von Sarrazins | |
pauschalen, das Kollektiv treffenden Urteilen. Sie drohen nach Merkel das | |
Verhältnis zwischen MigrantInnen und der Mehrheitsbevölkerung zu vergiften. | |
Aber vergeblich wird man bei der Kanzlerin danach suchen, dass sie | |
Sarrazins Hochmut und Arroganz an seiner eurozentrischen Fixierung | |
festmacht. Denn es ist gerade die Ideologie der exklusiven westlichen | |
"Wertegemeinschaft", die das ungleiche Paar Merkel und Sarrazin verbindet. | |
Rassismus erschöpft sich eben nicht in der Überzeugung, einer angeblich | |
höherwertigeren "Rasse" anzugehören. Er findet sich keineswegs nur im | |
politisch rechtsradikalen Milieu, sondern in der Mitte der Gesellschaft, in | |
zahlreichen Praktiken des Alltags- und Berufslebens. Rassismus konstruiert, | |
wie Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte schreibt, | |
"vermeintlich homogene Gruppen, deren individuellen Mitgliedern pauschal | |
bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden". Diese Gruppen setzen ein | |
"Wir" gegen "die Anderen" mit dem alleinigen Ziel der Ausgrenzung. | |
Sarrazins Pamphlet bietet Gelegenheit, den abgerissenen Diskussionsfaden zu | |
diesem Problemkreis wiederaufzunehmen. | |
8 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Christian Semler | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
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