# taz.de -- Tour gegen Rechtsextremismus: Wolfgang im Naziland | |
> Bundestagsvize Wolfgang Thierse besucht rechtsextreme Hochburgen in | |
> Mecklenburg-Vorpommern. Er will den Gegnern der Neonazis Mut machen. Ein | |
> Ortstermin. | |
Spätestens am Ortseingang weiß Wolfgang Thierse, dass das hier jetzt | |
hässlich wird. Ganz hässlich. "Dorfgemeinschaft Jamel, frei, sozial, | |
national" steht auf einem Stein. Daneben weist ein Schild den Weg zu | |
Hitlers Geburtsort: "Braunau a. Inn 855 Kilometer". | |
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) rollt in seiner silbernen | |
S-Klasse die holprige Dorfstraße entlang. Er ist hier um eine Familie zu | |
besuchen, die sich gegen die örtlichen Neonazis stellt. Seit Jahren treibt | |
eine braune Clique in Jamel bei Wismar ihr Unwesen. Nach Bedrohungen und | |
Bränden zogen Anwohner weg, weitere Neonazis siedelten sich an. | |
Horst und Birgit Lohmeyer wollen nicht hinnehmen, dass der 40-Seelen-Ort | |
immer mehr zum "rechtsextremen Musterdorf" umgeformt wird, wie es Birgit | |
Lohmeyer formuliert. Seit sechs Jahren lebt das Paar aus St. Pauli in | |
Jamel, am Waldrand haben sie ein altes Forsthaus bezogen. Ob sie denn gar | |
keine Angst haben, will Wolfgang Thierse bei Kaffee und Gebäck in der Stube | |
der Lohmeyers wissen. "Wir sind angstfreie Naturen", sagt Birgit Lohmeyer. | |
Und das muss man in Jamel wohl auch sein. | |
Für Wolfgang Thierse ist das Dorf eine von vier Stationen auf seiner "Tour | |
für Demokratie" durch Mecklenburg-Vorpommern, die er als Schirmherr der | |
Amadeu-Antonio-Stiftung an diesem Montag unternommen hat. Am Morgen hatte | |
er schon die Bürgermeisterin von Lübtheen im Landkreis Ludwigslust | |
getroffen, wo sich mehrere NPD-Kader niedergelassen haben. Am Abend fährt | |
er weiter zum FC Hansa Rostock. Dort haben vor kurzem Fans den Chef der | |
NPD-Landtagsfraktion, Udo Pastörs, nicht ins Stadion gelassen. Jetzt | |
schließt sich der Verein der Initiative "Kein Ort für Neonazis" an. | |
Thierse will auf seiner Tour den Neonazigegnern vor Ort zuhören. Und | |
zusprechen. Die Zivilgesellschaft stärken, heißt das im Politsprech. Im | |
nächsten Jahr ist Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern, und die offene | |
Frage ist: Wird die rechtsextreme NPD nach Sachsen auch hier zum zweiten | |
Mal hintereinander in ein Parlament einziehen? Je höher das Wahlergebnis | |
ausfällt, desto mehr Geld fließt auch in die Kassen der klammen NPD. Geld, | |
mit dem die Partei ihre braunen Strukturen weiter ausbauen könnte. | |
Im kleinen Weiler Jamel, kurz vor der Ostsee, kann von einer | |
funktionierenden Gesellschaft schon lange nicht mehr die Rede sein. Thierse | |
hat auf diesem Teil seiner eintägigen Demokratie-Tour Personenschutz | |
bekommen, vor dem Ort stößt eine schwarze Limousine zur Entourage. | |
Der Mann, der Jamel seit Jahren zu beherrschen versucht, heißt Sven Krüger. | |
Im Dorf betreibt der mehrfach verurteilte NPD-Kader ein Abrissunternehmen | |
mit dem Slogan: "Wir sind die Jungs für's Grobe". Auf dem Logo der Firma | |
wird etwas zerschlagen, das aussieht wie ein Davidstern. Seit Sommer 2009 | |
sitzt Krüger für die NPD im Kreistag von Nordwestmecklenburg. Im Frühjahr | |
haben die Rechtsextremen im nahegelegenen Grevesmühlen ein "Bürgerbüro" | |
eröffnet. | |
In Jamel feierte Krüger vor kurzem seine Hochzeit zu der mehrere Hundert | |
Gäste kamen. Sieben von zehn Häusern im Dorf gehörten den Rechten, erzählen | |
die Lohmeyers Bundestagsvize Thierse bei dessen Besuch. Damit wollen sie | |
sich nicht abfinden. Ein Mal im Jahr veranstalten sie im Garten ihres | |
Forsthauses ein Konzert für Demokratie und Toleranz. "Jamel rockt den | |
Förster" heißt es. Doch im August griffen dabei Rechte einen der Gäste an | |
und brachen ihm die Nase. | |
Es sei "ein starkes Symbol, dass Sie hier sind", sagt Horst Lohmeyer zu | |
Thierse. Der muss nach einer knappen halben Stunde schon wieder aufbrechen. | |
Ganz wohl ist Thierse offenbar nicht. "Da kommt ein Promi, besucht Sie, und | |
dann ist er wieder weg", sagt er zu den Lohmeyers. "Aber Sie sind danach | |
noch da." | |
Zum Schluss dreht Thierse noch eine Runde im Auto durchs Dorf. Eine Gruppe | |
von Neonazis hat sich neben der Straße aufgebaut. Thierse guckt zum Fenster | |
hinaus. Die Nazis fotografieren. Dann ist der Besuch aus Berlin fort. | |
21 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Wolf Schmidt | |
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Jamel | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Grevesmühlen | |
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