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# taz.de -- Bürgeraufstände in Deutschland: Die neuen Revolutionäre
> Stuttgart 21, Hamburger Schulprotest, Anti-Atom-Widerstand. Eine neue
> bürgerliche Bewegung misstraut den Volksvertretern. Ist das der Anfang
> oder das Ende der Demokratie?
Bild: Anti-Atom-Kundgebung in Berlin: Der Widerstand gegen die Kernenergie wäc…
STUTTGART/HAMBURG/LÜCHOW taz | Wenn der Alleinherrscher Gaius Julius Cäsar
den Senat betrat, wurde es umgehend still. Diese Stille war tödlich. Für
die römische Republik. Und im März 44 vor Christus auch für Cäsar. "Die 23
Messerstiche gegen Cäsar sind auch Resultat der Zerstörung senatorischer
Öffentlichkeit. Wenn keiner mehr reden kann, gibt es nur noch
Verschwörung."
Oskar Negt sitzt in einem Sessel am Fenster seines Arbeitszimmers in
Hannover und ist bei einem seiner Lieblingsthemen: die Res publica amissa,
vor der Cäsars Antipode, der Republikaner Cicero, vergebens warnte, die
Vernachlässigung der Institutionen, an deren Ende der Verlust der Republik
steht. "Insofern", sagt er, "ist der Protest gegen den Abriss des Bahnhofs
in Stuttgart für mich auch ein Symbol für eine rebellierende
Öffentlichkeit, die unterschlagene Themen wieder öffentlich macht."
Negt, 76, ist Vertreter der kritischen Theorie. Und klassischer SPD-Linker.
Er promovierte bei Theodor W. Adorno, war einer der Anführer der
Protestbewegung von 1968, danach 32 Jahre Universitätsprofessor und hat in
diesen Tagen das Buch "Der politische Mensch" herausgebracht. Darin
beschreibt er die brüchig gewordene repräsentative Demokratie in der
Bundesrepublik und skizziert als einzigen Ausweg unverdrossen die
politische Bildung der Bürger. Falls Negt das Land dafür noch nicht zu
Füßen liegen sollte, so tut es zumindest in diesem Moment sein Hund Luis.
Demokratie, das ist für Negt eine echte Öffentlichkeit, nicht eine, "die
auf Talkrunden reduziert ist". Das gefällt ihm am bürgerlichen Protest
gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21: Sie seien nicht nur dagegen, dass der
alte Bahnhof abgerissen wird. Es gehe um die "Scheingesetze der
Globalisierung", das "Spannungsverhältnis zwischen Globalisierung und
Lokalisierung", die "Polarisierung zwischen Peripherie und Zentrum", das
"zunehmende Gefühl der eigenen Ohnmacht" und um die Art, wie "Politiker
Menschen behandeln".
Es sei ein wachsender Protest gegen die Verselbstständigung der
Institutionen und es sei die Herstellung einer sich erweiternden
Öffentlichkeit. Der lokale Ort bringe die Leute auf die Straße, doch im
Lauf des Protests erweitere sich die Urteilsfähigkeit auf Weltläufigkeit.
Dass es sich dabei um einen schichten- und milieuübergreifenden Protest
handelt, wie derzeit aufgeregt diskutiert wird? Für Negt ist es
selbstverständlich, dass "moderne Protestbewegungen keine klare Schichtung
mehr haben". Ein Protest derer, die als in der Gesellschaft angekommen
gelten, nicht der Deklassierten? Auch nichts Neues.
Und dass in Hamburg gar Großbürger gegen den (Stadt-)Staat revoltieren und
mit einem Volksentscheid die geplante Schulreform verhindern? "In Hamburg
geht es unter dem Deckmantel einer Bürgerinitiative um die Befestigung
eines privilegierten Schulzusammenhangs." Ist das eine moralische Deutung?
"Nein, das ist eine politische Deutung.
In Stuttgart wird die Urteilsfähigkeit im Bezug auf das Allgemeinwesen
erweitert, in Hamburg wird sie gegen alle Pisa-Studien, gegen alle
begründeten Einsprüche von Pädagogen verengt auf einen privilegierten
Zusammenhang." Dass die Entfremdung der Gesellschaft mit ihren Parteien und
Repräsentanten voranschreitet, ist im Moment Konsens.
Die Bewegungen gehen dabei in alle Richtungen: Gegen Atomkraft, gegen
Verlängerung der Grundschule, gegen städtischen Wohnraumverkauf, für und
gegen Rauchverbot, für und gegen Thilo Sarrazin. Wer die gemütliche
Links-rechts-Orientierung braucht, wird verzweifeln. Aber grundsätzlich
haben immer mehr Leute das Gefühl, Politik arbeite intensiver und
professioneller - aber nur daran, sie zu bescheißen.
Das ist bei den Gegnern von Stuttgart 21 so, das ist der Umbau des
Stuttgarter Haupt- und Sackbahnhofs in einen unterirdischen
Durchgangsbahnhof. Dazu kommt die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm und ein
Stadtentwicklungskonzept auf den Flächen, auf denen bisher Gleise liegen.
Kostenannahme derzeit: 4,5 plus 2,9 Milliarden Euro. Die Zahlen wechseln,
aber alle sind steigend. Das Projekt wurde von einer demokratisch
legitimierten Mehrheit aus CDU, FDP und SPD beschlossen.
Ende August hat man gegen den Protest der Bürger am Nordflügel mit den
Abrissarbeiten begonnen. Am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz versammeln sich
montags und freitags die Gegner von Stuttgart 21. Es sind laut Veranstalter
inzwischen auch schon mal 70.000.
An diesem Montag regnet es stark. Trotzdem harren die Leute aus und lassen
sich auch von unterirdischem Kabarett gegen den unterirdischen Bahnhof
nicht vertreiben. Wenn die Rede auf Baden-Württembergs Ministerpräsident
Stefan Mappus oder Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster kommt,
skandieren die Leute: "Lü-gen-pack. Lü-gen-pack". Sie machen sich Luft. Das
tut ihnen gut. Aber es hat auch etwas Beklemmendes. 60-Jährige, 70-Jährige,
Frauen und Männer, die man früher "bürgerlich" nannte oder kleinbürgerlich
oder angepasst. Und nun ist für sie die von ihnen mehrheitlich und
jahrzehntelang gewählte politische Klasse nur noch ein "Lü-gen-pack". Ist
das der Anfang oder das Ende der Demokratie? Bei dieser Frage verstummt
zunächst selbst Oskar Negt.
Für Walter Sittler ist die Rhetorik nur eine Reaktion auf das "Benehmen"
der Politiker. "Im Moment wird noch ein bisschen zurückbeleidigt", sagt er,
"weil man das für die seelische Gesundheit braucht." Sein Ding ist das
nicht. Sittler, 57, Schauspieler, lebt in Stuttgart und gilt inzwischen als
"Gesicht" dieses Protests. Bundesweit populär wurde er als Partner von
Mariele Millowitsch in der ZDF-Vorabendserie "Girlfriends". An den
Protestabenden ruft er schon traditionell zum "Schwabenstreich", eine
Minute kollektiven Lärmens, mit der die Gemeinschaft sich rituell
konstituiert. Später sitzt er im Hotel Graf Zeppelin, mit Blick auf die
Baustelle Bahnhof. Die Leute sind jetzt weg, die Bagger nicht.
"Entspannter" Protest ist sein Motto, gespeist von kalter Wut,
zielgerichtet, aber auch mit Lustfaktor. Vorbild für Sittler ist Leipzig
1989 mit seiner "unwiderstehlichen Gewaltfreiheit".
Es sind ja derzeit viele, aber nicht alle von den Stuttgartern begeistert.
Die andere Position vertritt etwa der Publizist Hajo Schumacher. Für ihn
ist das nicht neu politisiertes Bürgertum, sondern es sind
"Wellness-Protestler", die nach zwanzig Jahren Desinteresse nun "Woodstock
nachspielen" und dabei doch nur "undemokratische Dickköpfigkeit"
offenbaren. Für den FAZ-Leitartikler Georg Paul Hefty sind die Planer von
Stuttgart 21 "progressiv", die Gegner fortschrittsfeindliche Heuchler.
Für Sittler holen sich "die Stuttgarter ihr Land zurück". Und ihre
fahrlässig abgegebenen Bürgerrechte. Das sei eine Stärkung der Demokratie.
Vor allem: Es sei nicht nur eine Bewegung gegen, sondern auch für etwas.
Gegen ein Projekt, das im 20. Jahrhundert für das nächste entwickelt wurde,
das ihnen aber unter den veränderten Bedingungen des Projekts und des 21.
Jahrhunderts viel mehr Nachteile als Vorteile zu haben scheint. Gegen
Politiker, zu denen im Moment kein Vertrauensverhältnis mehr besteht. Für
eine andere Definition von Fortschritt und Lebensqualität: sozialer,
kultureller, weniger technologisch.
Sittler ist in Chicago geboren und damit auch US-Bürger. Abitur in Salem.
In den 80ern schrieb er mal einen Protestbrief gegen Atomkraft und
demonstrierte an einem schönen Tag mit einer neuen Liebe gegen
Pershing-Raketen. Und er wählte zweimal für die SPD
Bundespräsidentenkandidaten. Inzwischen kann er tagsüber in München proben,
abends steht er am Bahnhof. Seine Frau auch. Kann er doch mal nicht,
vertritt ihn sein Sohn. Woher kommt diese Verve?
Er beschreibt eine Entwicklung von ersten Zweifeln über das erste Pflanzen
eines Protestbäumchens bis zu dem Tag, an dem er sich sagte: "Irgendwann
gilt es." Irgendwann war jetzt. "Es ist ein Kampf, aber wenn man diese
Gemütlichkeit, dieses Schlappe ablegt, dann kann man richtig etwas
bewegen." Sittler kennt alle Argumente: Dafür und dagegen. Er ist sicher,
dass es Profiteure des neuen Bahnhofs jenseits der als Clique erachteten
Politik und Wirtschaftsunternehmen nicht gibt. Seine Erkenntnis: Er muss
die gewählten Politiker kontrollieren. Sein Ansatz: "Ich vertraue
Politikern, das muss man, aber man schaut an, was sie tun und sagt: das
geht. Und das geht nicht."
Während im Fall Stuttgart nicht jedem klar ist, woraus sich die Intensität
des Protests speist, ist die Quelle in Hamburg sichtbar. Eltern sorgen sich
um die Zukunft ihrer Kinder - das müsste grundsätzlich die stärkste
Motivation für Engagement sein. Ist es aber nicht in allen Bereichen der
Gesellschaft.
Nachdem im Juli ein Volksentscheid mit 276.000 Stimmen die geplante
Schulreform der schwarz-grünen Regierung verhindert hatte, war für viele
klar, dass es sich um einen Sieg gut Verdienender und gut Gebildeter
handele, gegen die Interessen weniger Verdienender und weniger Gebildeter.
Die Initiative "Wir wollen lernen" nennen Kritiker "Wir wollen unter uns
bleiben". Es ist ihr aber mit einer professionellen Kampagne gelungen, den
Wechsel von vier auf sechs Grundschuljahre für alle zu verhindern. Gegen
alle im Senat vertretenen Parteien.
Dr. Walter Scheuerl ist der Anführer der Hamburger Bürgerrevolte. Der
Rechtsanwalt hat seine Kanzlei an der Großen Bleiche. Er empfängt dort in
einem Besprechungsraum. Was treibt ihn an? Als Sohn einer Lehrerin und des
progressiven Erziehungswissenschaftlers Hans Scheuerl habe er "eine gewisse
Affinität" zum Thema.
Er engagierte sich mit Beginn der Schulzeit seiner beiden Kinder als
Elternvertreter. Seit Jahren ist Scheuerl, 49, Elternratsvorsitzender am
Gymnasium Hochrad, gelegen im Villengebiet von Othmarschen. "Die Schule ist
für Kinder und Jugendliche mit das Wichtigste im Leben", sagt er. "Mich da
auch als Vater zu engagieren, bringt mich den Kindern an dieser Stelle
thematisch nah." Dass er selbst "durch und durch Gymnasium" sei, wie der
Spiegel schrieb, hält er für "Spiegel-Stil". Er sei auf einem "normalen
naturwissenschaftlichen Gymnasium" in Hamburg gewesen. Das waren damals
neun Jahre. Durch G 8 sind es nur noch acht, mit Primarschule wären es nur
noch sechs wie in Berlin jetzt schon.
Der Vorwurf, dass hier Eltern zwar engagiert sind, aber nur im Vertreten
der familiären Interessen gegen die Interessen der Schwächeren, die für
einmal doch tatsächlich die Politik vertrat? Scheuerl lächelt. Die
Vermutung, es gehe den Bürgern darum, die eigenen Kinder von den Kindern
mit Migrationshintergrund fernzuhalten, sei "nun wirklich bodenloser
Unsinn". Seine Interpretation des Wahlergebnisses: Der Protest gegen
weniger Gymnasium wurde von allen Schichten getragen.
Scheuerl ist Medienanwalt und bestens vernetzt. Auch Sachkritiker geben zu,
er sei außergewöhnlich gut in dem, was er macht, das heißt erfolgreich für
die, die er vertritt. Er kann Opponenten sicher bis zur Weißglut reizen, so
cool ist er. Oder so cool kann er tun. Die grüne Bildungssenatorin Christa
Goetsch hat er am Nasenring durch die öffentliche Arena gezogen. Bisher. Da
ist mal einer, der sich nicht als hilfloses Objekt in den Klauen
abgehobener Politiker sieht.
Hält Scheuerl die Politik für so auf den Hund gekommen, dass die Bürger
selbst ranmüssen? "Das ist zu pauschal", sagt er. "Aber bei den handelnden
Personen in Hamburg hat man den Eindruck, dass der Anteil derer, die frei
von jeder fachlichen Kompetenz auf diesen Posten sitzen, leider sehr groß
ist." Ein echter Scheuerl-Satz.
Er würde seine Landesregierung nicht wie die Stuttgarter ein "Lü-gen-pack"
nennen. Das passte auch nicht zu seinen Manschettenknöpfen, auf denen Berge
und ein Leuchtturm von seiner Liebe zum Wandern und Segeln künden. Aber
auch sein Respekt ist begrenzt. Er beklagt Parteienproporz, Opportunismus
und Machterhalt aus Dienstwageninteresse, speziell bei den Grünen. Antrieb
für sein Handeln war aber der Eindruck, von der CDU betrogen worden zu
sein. Aus Sicht von Scheuerl hatte die CDU den im Wahlkampf versprochenen
Erhalt der Gymnasiumsverhältnisse zugunsten von "schön vielen
Senatorenposten" in einer Koalition mit den Grünen aufgegeben.
Unlängst hat Scheuerl die Gründung einer eigenen Partei in Aussicht
gestellt beziehungsweise war so verstanden worden, obwohl er das "nie
gesagt" hat. Es ist die Reaktion darauf, dass aus seiner Sicht die
Senatorin Goetsch die abgewählte Reform weiterbetreibt.
Sein Gedanke: Wenn das die CDU weitere Wähler kostet, könnte es bei der
nächsten Wahl zu Rot-Grün-Rot kommen. Und dann müsste man, also er, mit dem
Schlimmsten rechnen: der Gesamtschule. Deshalb jagt er dieser "Kaste von
Berufspolitikern" prophylaktisch schon ein bisschen Angst ein. Die
Initiative diskutiere, "ob man darauf so reagieren muss, dass man auf der
politischen Ebene eine sachorientierte Fraktion entgegenstellt". Das ist
wieder so ein echter Scheuerl-Satz.
Kerstin Rudek hat auch ein Schulproblem in der Familie. Sie sitzt am Steuer
ihres Kleinbusses und erzählt von furchtbaren Stundenplänen und endlosen
Schultagen. Um sieben aus dem Haus, um halb acht abends zurück. Rudek ist
geschieden, hat sechs Kinder, drei leben noch zu Hause, das heißt:
zeitaufwendige Chauffeurfunktion. Gerade fährt sie nach Lüchow in das Büro
der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. 900 Mitglieder.
Legendär. Sie ist die Vorsitzende. Gerade bereitet sie sich auf den
heißesten Castor-Transport seit Langem vor.
Der Kampf gegen Atomkraft und ein Endlager für hochradioaktiven Atommüll
läuft seit über 30 Jahren. Im Zwischenlager Gorleben stehen inzwischen 91
Container Atommüll. Ob der Salzstock von Gorleben als Endlager geeignet
ist, hat die Bundesrepublik viele Jahre "erkunden" lassen. Im Jahr 2000
wurde das Projekt offiziell gestoppt. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU)
hatte aber bereits im März angekündigt, die Erkundung in Gorleben
fortzusetzen. "Ergebnissoffen", wie er sagte.
Aber vor Ort zählen sie eins und eins zusammen. Durch die von der
Bundesregierung beschlossene Laufzeitverlängerung vergrößert sich der Müll
um 4.400 auf 21.600 Tonnen bis 2040. Gorleben hat bisher schon 1,5
Milliarden Euro verschlungen. Anderswo finge alles von vorn an. Außerdem:
Wo wäre denn ein geeigneter Ort? Alternativerkundungen gab es nie, auch
weil sich andere Landesregierungen immer dagegen verwahrt haben.
Rudek ist Jahrgang 1968 und seit dem Tag X im Widerstand. Das war der Tag
des ersten Atommülltransports, der 8. Oktober 1984. Seit dreieinhalb Jahren
ist sie Vorsitzende der BI. Sie sagt, sie mache in dem "ehrenwerten
Ehrenamt" Stellvertretungspolitik für die Mitglieder nach dem Prinzip
"gehorchend befehlen". Das wünsche sie sich auch von der Politik. "Ich kann
heute sagen: Ich verlasse mich nicht drauf, was eine Regierung beschließt
und wie eine Regierung sich verhält, weil die kann auch sehr viel falsch
machen. Ich sehe, das läuft in eine völlig falsche Richtung und ich setze
mich dafür ein, dass das korrigiert wird." Etwa so argumentieren auch
Walter Sittler in Stuttgart und Walter Scheuerl in Hamburg.
Es seien auch Bewegungen denkbar, die "voll demokratisch sind, aber der
Mehrheit schaden". In der Atomfrage gibt es für sie indes keinen Zweifel,
dass "die Menschen nicht gehört werden, sondern dass Politik eine Lobby
bedient". Die Politik sei weit weg von Ängsten und Bedürfnissen der
Gesellschaft, dafür nah dran an der Wirtschaft, getrieben vom Willen zum
Machterhalt.
Für sie gibt es eine simple Frage, um das Maß an Demokratie zu messen: "Wem
tut die Politik mit ihren Entscheidungen einen Gefallen?"
Nicht alle Menschen im Wendland sind gegen Atomkraft und ein Endlager
Gorleben. Manche sehen einen Vorteil oder gar eine nationale Verpflichtung.
Aber der Protest umfasst alle Bereiche der Gesellschaft. Auch die FDP. Er
ist gewachsen, hat Strukturen entwickelt. Die Angst vor Atommüll, der
Widerstand gegen die Politik, haben das Wendland und dessen Bewohner
verändert. Aus einem CDU-dominierten Zonenrandgebiet wurde eine lebendige
"Modellregion", in der die Wendländer und die Zugezogenen sich daran
machten, gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln. "Für ein besseres
Leben." Sagt Kerstin Rudek.
Der Protest ist in der dritten Generation, die Jungen sind mit
Castor-Transporten und Polizeikontrollen an der Bushaltestelle
aufgewachsen. Sie werden, sagt Rudek, "sich sicher mal in einem größeren
Rahmen in die Politik einmischen als das vielleicht in anderen Regionen der
Fall ist, weil sie sensibilisiert sind". Wenn das so kommt, hätte der
Castor im Negt'schen Sinne politische Menschen geformt.
Manche mögen ja denken, wenn sich nach dem Wendland nun auch immer mehr
Leute in Hamburg oder Stuttgart enttäuscht von der CDU abwenden, so sei das
eine rundum positive und begrüßenswerte Entwicklung. Andere sehen in den
Unions-Enttäuschten die künftigen Wähler einer neuen rechtspopulistischen
Partei. Und Oskar Negt? Sieht eine Welt des Übergangs. Eine Republik wie zu
Ciceros Zeiten. Ausgehöhlt, nicht mehr gelebt. Es handele sich um eine
kulturelle Erosion und eine politische Sinnkrise, in der die Zweifel
zunehmen, ob unsere Form der Demokratie in der Lage ist, die Krisen des 21.
Jahrhunderts zu lösen.
Aber: "Wenn sie das nicht kann, werden diese auch von der CDU enttäuschten
Menschen nach Auswegen suchen, die alle nicht demokratisch sein werden, die
autoritär sein werden, die die entpolitisierten Kräfteverhältnisse
stabilisieren." Das bringt ihn zu seinem Ceterum censeo, dass Demokratie
eine Staatsform sei, die täglich gelernt werden müsse. Einerseits macht ihm
Stuttgart Hoffnung, die Res publica amissa zu verhindern. Andererseits: Im
Zeitalter des Perikles sei der wirklich erstrebenswerte Mensch das Zoon
politikon gewesen, also der politische Mensch. Nach heutigen Umfragen sei
es Günther Jauch. Daran sehe man die "gewaltige Depotenzierung kritischer
Öffentlichkeit".
Negt zitiert aus seinem Buch das Politikverständnis des Aristoteles und
dessen berühmten Satz: "Nur Götter und Tiere können außerhalb der Polis
leben." Also außerhalb des Staates, der Politik und der Gemeinschaft.
Da kommt Luis um die Ecke.
"Luis, mach Platz", ruft Negt, "Luis, mach Platz."
Irgendwann sagt er: "Der hört nicht."
Irgendwann geht Luis doch noch in Position.
"Na ja", sagt Negt freundlich, "das ist Sitz und nicht Platz."
Es ist besser als nichts.
24 Sep 2010
## AUTOREN
Peter Unfried
## TAGS
Schwerpunkt Stuttgart 21
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