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# taz.de -- Kirchner-Ausstellung: So schön wie Noldes Gnome
> Die Hamburger Kunsthalle versucht eine vergleichende Kirchner-Schau - und
> scheitert grandios. Denn echte Werkentwicklung lässt sich an den
> präsentierten Objekten nicht festmachen. Die geografische Hängung
> verstellt zudem den Blick auf Kirchners eigentliches Anliegen: die
> Wahrnehmung neu zu sortieren.
Bild: Auf dem stetigen Weg zur Abstraktion: Kirchners "Eingang zum großen Gart…
Expressionisten funktionieren immer. Deshalb ist eine
Ernst-Ludwig-Kirchner-Ausstellung aus Museumssicht eine sichere Bank: Da
kommen die Leute garantiert. Deshalb hat das Frankfurter Städel dieses Jahr
eine Ausstellung über Kirchner geboten, auch das Salzburger Museum der
Moderne - und jetzt also Hamburg. Fakt ist zwar, dass die Kunsthalle
etliche Kirchners besitzt - zwar nicht mehr so viele wir vor 1937, als die
Nazis die Sammlung als "entartet" zerschlugen, aber doch eine größere Zahl.
Ein guter Fundus also für eine Ausstellung zu einem Künstler, der als
Wegbereiter des Expressionismus, aber auch als wahnhaft misstrauisch galt;
der nervenkrank und lange morphiumabhängig war und 1938 Suizid beging.
Die Hamburger Kunsthalle hat - auch der Finanznot geschuldet - eine
Kombination aus eigenen Werken und Leihgaben aus nicht allzu weiter Ferne
erstellt und eine Art Retrospektive versucht. "Stadtleben in Dresden und
Berlin", "Strandleben auf Fehmarn" und "Bergleben in Davos" sind, den
Lebensphasen gemäß, die Abteilungen der Schau überschrieben, die mit
Gemälden, Zeichnungen, Aquarellen, Holzschnitten und Lithographien bestückt
ist und auch motivisch alle Kirchner-Klischees bedient: Architektur, Akte
und Berge sind versammelt. Wer das sattsam Bekannte sucht, wird zufrieden
sein.
Ursprüngliches Ziel sei es gewesen, ausschließlich die großformatigen
Zeichnungen zu zeigen, sagt Kurator Ulrich Luckhardt. Denn die seien so
dicht komponiert, dass sie nicht als bloße Skizzen oder Vorzeichnungen
gelten können, sondern als neues, eigenes Genre. 33 Blätter gibt es, 31
stammen sicher von Kirchner, 12 zeigt jetzt die Hamburger Kunsthalle.
Das aber wäre für eine Ausstellung zu wenig gewesen, und so hat man die
Zeichnung zum Programm gemacht. Die bietet Kirchner tatsächlich in
verschiedensten Varianten. Einerseits sind da die sorgsam komponierten
Aktbilder in fließenden Formen, auf deren Rückseite sich aber überraschend
anderes findet: Jahre später hat Kirchner hier abermals Akte gezeichnet -
spontan hingeworfen, während Freundinnen badeten. Schließlich waren Badende
Lieblingsthema der Expressionisten, die darin die unverfälschte Vereinigung
von Mensch und Natur sahen. Die späteren Figuren haben bereits jenen für
Kirchner so typischen nervös-eckigen Duktus, der Menschen in schlanke
Prismen zerlegt.
Nicht sehr glücklich ist die Idee, die Vorzeichnungen zu zeigen, die
Kirchner angefertigt hat - für das Bild "Erna am Meer" etwa. Eine Figuren-
und eine Landschaftsskizze haben die Kuratoren hier sorgsam neben das
Ölbild gehängt. Die Skizzen sind keine stilistische Revolution, der
Unterschied zum fertigen Gemälde ist minimal, und so fragt man sich, wozu
man sie kennen muss. Auch für die Vorzeichnung zum "Selbstbildnis mit
Modell" mit Kirchner im berühmten blau-orangen Bademantel gilt dasselbe wie
für die meisten Skizzen: Die Vorzeichnung ist unbefangener und
bodenständiger, das Bild distanzierter, perfekter - zur Kunst geronnenes
Leben. Markante Weiterentwicklungen von der Skizze zum fertigen Bild finden
sich bei keinem der Exponate - den Fokus auf den Bildervergleich zu legen,
funktioniert in dieser Ausstellung darum nicht sonderlich gut.
Aufschlussreich ist allerdings die kleine, vier Exponate fassende
Selbstporträt-Serie. Sie zeigt den Weg Kirchners vom selbstbewusst den
Betrachter fixierenden Mann (1914) zum zerfaserten, zerfallenden Gesicht
auf der Radierung von 1916. Damals weilte Kirchner nervenkrank im
Sanatorium, sein Rekrutendienst in Halle ein Jahr zuvor hatte ihn
zerrüttet. Seither fürchtete er permanent, als Frontsoldat einberufen zu
werden - diese Angst ließ Kirchner auch nach Kriegsende nicht mehr los.
Diese Porträt-Reihung bleibt das einzige ergiebige Vergleichsbeispiel der
Schau, die zudem auch in der Motivik kleinteiliger Geografie verhaftet
bleibt: In der "Dresden"-Abteilung erscheinen Dresdner Straßen, in der
"Fehmarn"-Ecke Strände. Eine solche Hängung lenkt von dem ab, was Kirchner
am wichtigsten fand: Seine Bilder, sagte der einmal, seien "keine
Abbildungen bestimmter Dinge oder Wesen, sondern selbstständige Organismen
aus Linien, Flächen und Farben. Meine Bilder sind Gleichnisse, nicht
Abbildungen." Die Hamburger Ausstellung, die positivistisch Berge zu Bergen
und Strände zu Ständen hängt, konterkariert das, was das Selbstverständnis
aller "Brücke"-Künstler ausmachte: Die Motive dienten lediglich als Anlass
für eine Neusortierung von Wahrnehmung. Die Studien über Farben und
Flächen, die Experimente mit der Perspektive passten in eine Zeit, in der
Industrialisierung, Aufrüstung, Krieg und Rezession einander ablösten.
Die Kapitalisierung begann, die Welt und ihre Werte zerfielen und so auch
die Bilder der Expressionisten: Auf Kirchners "Gut Staberhof auf Fehmarn"
stimmt keine Perspektive, das Haus scheint nach hinten, die Nebengebäude
scheinen zu den Seiten wegzukippen. Häuser, Plätze und Bäume werden
flächig, changieren zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, als wüssten sie
selbst nicht, ob sie real sind oder Kulisse.
All dies - den grundlegenden Zweifel an der Welt und ihrer Erscheinungen
sowie die Zerlegung in Einzelteile - kann man sehr deutlich bei Kirchner
sehen. Die Konzentration auf lokal verortbare Motive verstellt jedoch dafür
den Blick. Denselben Fauxpas hatte die Kunsthalle bei der Schau "Hamburger
Ansichten" begangen, als sie Fotos der abgebildeten Orte neben die Gemälde
hängte.
Bei Kirchner ist dieser fast schon provinzielle Zugriff besonders
bedauerlich, weil so auch der Blick für Bezüge verstellt wird: Jener zu
Franz Marc zum Beispiel, der weniger durch die in Davos entstandene gelbe
Kuh aufscheint als in den "Blauen Artisten", die ähnlich prismenartig
zersplittern wie Marcs Landschaften. Und die Bauern auf dem Gemälde
"Bergheuer" erinnern in ihrer fast karikaturhaft-bodenständigen, dabei
bizarr bunten Art stark an Noldesche Gnomen.
Und schließlich findet man auch Edward Munch: Fast exakt gleichen die
Haltung und die Farben, auch das neon durchscheinende Gesicht des Mannes im
"Wohnzimmer", Munchs eifersüchtigen Männern, die ähnlich verloren aus dem
Bild heraus starren.
7 Oct 2010
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Expressionismus
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Ausstellung zu Ernst Ludwig Kirchner: Der Künstler als Marke
In Berlin ist der Ernst-Ludwig-Kirchner-Bestand der Neuen Nationalgalerie
zu sehen. Die Ausstellung lenkt den Blick auf seine „Hieroglyphen“.
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