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# taz.de -- Gutachter über Sicherungsverwahrte: "Langsam auf die Freiheit vorb…
> Sicherungsverwahrte sollten in therapeutische Einrichtungen kommen,
> fordert Gutachter Werner Platz. Ein Konzept gibt es, was fehlt, sind Geld
> und politischer Wille.
Bild: "Bei Sicherungsverwahrten wäre eine Sozialtherapie angezeigt."
taz: Herr Platz, Sie sind seit 25 Jahren psychiatrischer Sachverständiger
in Strafprozessen. Wie viele sind aufgrund Ihrer Empfehlung zu
Sicherungsverwahrung verurteilt worden?
Werner Platz: Ich würde sagen, es waren zehn Angeklagte - von mehreren
hundert Gutachteraufträgen mit dieser Fragestellung.
Können Sie sich noch an den letzten Fall erinnern?
Das war vor zwei Jahren. Es handelt sich um einen Mann Mitte 20. Er hatte
in Berlin schweren sexuellen Missbrauch von Kinder betrieben. Die letzte
Tat hatte er aus der Haft heraus begangen.
Wie kam es dazu?
Er hatte Freigang, verschleppte ein zehnjähriges Mädchen in einen Keller
und vergewaltigte es brutal. Stets war es Zufall, wer sein Opfer wurde. Er
sah ein Mädchen, in seinem Kopf machte es klick, und er folgte ihm.
Aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) sollen bundesweit 122 Sicherungsverwahrte freikommen, 9 in Berlin.
Die Bevölkerung reagiert panisch. Sind diese Menschen wirklich so
gefährlich, wie Medien suggerieren?
Pauschal lässt sich das nicht beantworten. Ich kenne die meisten
Betroffenen nicht. Was man aber sagen kann: Die Leute, die jetzt rauskommen
sollen, haben zum Teil 20, 30 Jahre hinter Gittern gesessen, ohne dass dort
in sozialtherapeutischer Hinsicht etwas mit ihnen passiert wäre. Sie haben
schwere Hospitalismusschäden, weil sie einfach nur verwahrt wurden. Das
verunsichert die Bevölkerung zu Recht. Dass die Presse die Dinge anspricht,
ist ihre Aufgabe.
Was meinen Sie mit Hospitalismusschäden?
Wenn man wegen einer körperlichen Erkrankung ins Krankenhaus kommt, sinkt
der IQ nach vier Wochen. Man fängt an, sich zu vernachlässigen, indem man
sich zum Bespiel nicht mehr rasiert oder richtig anzieht. Das muss man sich
mal über 10, 20 Jahre hinweg vorstellen. Diese Menschen haben sich
praktisch aufgegeben. Sie sind antriebsarm, kennen sich in den praktischen
Dingen des täglichen Leben nicht mehr aus. Sie sind nicht
interaktionsfähig, geschweige denn, dass sie in der Lage sind, ihr Handeln
zu reflektieren. Wie solche Menschen auf die Entlassung reagieren, wenn sie
plötzlich allein auf sich gestellt sind, ist schwer kalkulierbar.
Ist das ein Plädoyer, diese Leute nicht rauszulassen?
Nein. Aber man muss versuchen das nachzuholen, was man vorher versäumt hat.
Wie könnte das aussehen?
Diese Menschen müssen kontrolliert geschützt in sozialtherapeutischen
Einrichtungen untergebracht werden. Sozialtherapeuten könnten sie dort
unter ärztlicher Anleitung Stück für Stück auf die Freiheit vorbereiten.
Das fängt bei begleiteten Ausgängen an, dann lässt man sie stundenweise
allein gehen. So geht es Stück für Stück weiter. Man muss Erfahrungen
sammeln, welche Zeiträume das braucht. Es gibt noch keine systematischen
Untersuchungen.
Will das nicht die Bundesregierung? Sie will eine neue Form von
Unterbringung für psychisch gestörte Gewalttäter, um die Freilassung der
Sicherungsverwahrten zu umgehen.
Das Problem ist, dass in der politischen Diskussion mit völlig falschen
Begriffen operiert wird.
Was meinen Sie?
Die in Rede stehende Gruppe der Sicherungsverwahrten wird als "psychisch
gestörte Täter" bezeichnet. Die Menschen, um die es geht, sind aber nicht
psychisch gestört. Wären sie es, hätte man sie wegen Schuldunfähigkeit oder
verminderter Schuldfähigkeit nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch in ein
psychiatrisches Krankenhaus des Maßregelvollzugs einweisen müssen. Sie sind
aber nach Paragraf 66 in Sicherungsverwahrung untergebracht worden.
Psychisch gestört und psychisch krank ist das Gleiche?
Richtig. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation sind psychische
Störung und psychische Krankheit gleichbedeutend. Man spricht aber von
Störung, um die Menschen nicht zu diskriminieren.
Wollen Sie damit sagen, dass Menschen nicht gestört sind, die wegen
schwerster Sexualstraftaten Sicherungsverwahrung bekommen haben?
Nein. Aber diese Menschen leiden in der Regel an Verhaltens- oder
Persönlichkeitsstörungen. Deshalb wäre bei ihnen eine Sozialtherapie
angezeigt.
Klingt ganz schön verwirrend.
Eigentlich ist es einfach. In der Aufregung über das EGMR-Urteil wird
übersehen, dass es schon lange Konzepte für eine Unterbringung in einer
sozialtherapeutischen Anstalt gibt. Sie sind nur in Vergessenheit geraten.
Bitte klären Sie uns auf.
Der Nestor der forensischen Psychiatrie in der alten Bundesrepublik,
Wilfried Rasch …
…der das Forensische Institut der FU Berlin bis 1993 leitete …
… hat maßgeblich dafür gesorgt, dass die Sozialtherapie im Paragraf 65
Strafgesetzbuch verankert wurde. Der Paragraf hat aber nie Gesetzeskraft
erlangt. Das Vorhaben ist stecken geblieben. Statt einer externen
sozialtherapeutischen Einrichtung gibt es Sozialtherapie nur innerhalb der
Haftanstalten. Die Plätze sind sehr begrenzt. Für den großen Wurf fehlten
das Geld und der politische Wille.
Sie haben bei Rasch habilitiert. Für welche Schule stand er?
Er stand für eine menschliche Schule der forensischen Psychiatrie. Er war
der Vertreter eines sozialtherapeutischen Ansatzes, der darauf abzielt,
dass Straftäter soziale Verhaltensnormen lernen und wieder in die
Gesellschaft integriert werden müssen.
Wie könnten die Länder konkret das Problem lösen, das sich aus dem
EGMR-Urteil ergibt?
Das Problem ließe sich ganz schnell und pragmatisch lösen. Man könnte die
sozialtherapeutischen Einrichtungen räumlich an den bestehenden
Maßregelvollzug angliedern, in dem man zum Bespiel eine halbe Station dafür
abtrennt oder ein Haus auf dem Klinikgelände des Maßregelvollzugs
freimacht. Auch therapeutisch müsste man das Ganze mit einer eigenen
ärztlichen Leitung und dem entsprechendem Behandlungs- und Hilfsangebot
trennen. Der Rahmen für die Betroffenen wäre überschaubar. Sie hätten
konstante Betreuer. Die Gesellschaft wäre vor ihnen geschützt, sie aber
auch umgekehrt vor Anfeindungen einer aufgebrachten Nachbarschaft. Auch von
der Presse könnten sie nicht mehr behelligt werden, weil sie auf dem
Klinikgelände Patientenschutzrechte genießen.
Wäre das auch eine Lösung für Straftäter, die aufgrund des Urteils schon
frei sind?
Selbstverständlich. Einige der Leute sind von den Haftanstalten von einem
Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt worden. Das kommt dem Aussetzen
hilfloser Personen gleich. Seither werden sie rund um die Uhr von der
Polizei überwacht. So ein Personalaufwand ist für die Polizei, bei den
vielen, die noch rauskommen, auf Dauer gar nicht leistbar.
Ihr Modell wäre für die Betroffenen ein neuerlicher Freiheitsentzug, zudem
gesetzeswidrig. Laut EGMR-Urteil haben sie Anspruch freizukommen.
Die Betoffenen müssten zustimmen. Ich schätze, sie täten es. Sie hätten
doch eine Perspektive rauszukommen. Und sie wissen, dass sie bei einer
Ad-hoc-Entlassung nicht zur Ruhe kommen würden. Einige kenne ich von meiner
Gutachtertätigkeit. Einer hat ganz klar gesagt, ich bin nicht psychisch
krank, ich will keine Psychiatrie, aber Sozialhilfe würde ich machen.
Könnte die Sicherungsverwahrung durch Schaffung von sozialtherapeutische
Einrichtungen obsolet werden?
Denkbar wäre es, dass statt Sicherungsverwahrung der Paragraf 65 kommt.
Dass setzt aber die gesellschaftliche Einsicht voraus, dass den Menschen im
Sinne der Resozialisierung eher geholfen wird. Und dass damit auch die
Sicherheit der Allgemeinheit eher gewährleistet ist als durch die
Sicherungsverwahrung. Denn eines weiß man ja längst: Sexualstraftäter, die
behandelt worden sind, haben eine deutlich geringere Rückfallrate als
diejenigen, die nicht behandelt worden sind.
15 Oct 2010
## AUTOREN
Plutonia Plarre
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