# taz.de -- Eine moderne Geschichte der Psychiatrie: Fotografien wider Willen | |
> Susanne Regener hat eine Studie zu "Menschenbildern aus der Psychiatrie | |
> des 20. Jahrhunderts" veröffentlicht. Lange sagten die Ärzte, dass | |
> psychische Krankheiten sichtbar wären. | |
Bild: Eine psychische Krankheit ist den Betroffenen an ihrer Physiognomie abzul… | |
Ob man psychische Erkrankungen riechen kann? Im 18. Jahrhundert jedenfalls | |
war man sich noch sicher, dass die sogenannten Irren verdächtige Gerüche | |
ausströmen. Kurz nach 1800 werden die ärztlichen Instrumente aber | |
schließlich getauscht: Auf die Nase folgt das Auge, auf die psychiatrischen | |
Schnüffeleien also der klinische Blick des Arztes. Dieser hat nun über Wohl | |
und Wehe des Seelenlebens zu urteilen und soll eine folgenreiche Grenze | |
ziehen zwischen dem "Normalen" und dem "Anormalen". | |
Der staunenswerten Karriere und nicht zuletzt der bemerkenswerten Macht des | |
ärztlichen Blicks seit dem Beginn der Moderne widmet die Siegener | |
Medienwissenschaftlerin Susanne Regener ihre soeben erschienene und überaus | |
lesenswerte Studie zu "Menschenbildern aus der Psychiatrie des 20. | |
Jahrhunderts". | |
Regeners Buch ist von einem erkennbar kritischen Impuls getrieben. Und | |
zuletzt mündet es in einer unausgesprochenen Frage: Wieso finden wir heute | |
die Idee, Psychiatrie und Geruchssinn in Beziehung zu setzen, absurd, | |
gelangen beim Sehsinn aber keineswegs ebenso rasch zu einem ähnlichen | |
Urteil? Der mit dieser Studie unternommene Parcours durch eineinhalb | |
Jahrhunderte Medizingeschichte ist eine Medienarchäologie von Sichtbarkeit | |
und der Sichtbarmachung psychischer Erkrankungen - und was man hierfür | |
hielt. | |
Théodore Géricaults Porträts von "Wahnsinnigen" kommen ebenso zur Sprache | |
wie die bereits durch Georges Didi-Huberman gründlich erforschten | |
fotografischen Experimente Jean-Martin Charcots an der Pariser Salpêtrière; | |
die architektonischen Ordnungen von psychiatrischen Kliniken gehören | |
gleichermaßen hierher wie das aberwitzige Vertrauen in die | |
psychochirurgischen Praktiken der Lobotomie. | |
Der große Vorzug von Regeners Studie liegt in der hierbei entfalteten | |
mediologischen Methode: Entscheidende Argumente lassen sich überhaupt erst | |
anhand der sichtbaren Formen, anhand von Bildern also, gewinnen und | |
aufzeigen. Und geschlossen wird auf diese Weise - endlich! - jene | |
empfindliche Lücke, die Foucault in seinen essenziellen Pionierarbeiten zur | |
diskursiven Produktion des "infamen Menschen" hinterlassen hatte. | |
Wenn ein junger Mann von vielleicht sechzehn Jahren auf einem Gartenstuhl | |
Platz nimmt und versonnen in die Kamera lächelt, dann ist das Ergebnis kaum | |
mehr als ein beiläufiges, sichtlich etwas ungeschickt eingerichtetes, im | |
Ganzen eher nichtssagendes Porträt. Wenn indes links davon ein Bild zu | |
sehen ist, das denselben jungen Mann in Profilansicht zeigt und sich über | |
diesen beiden Ansichten zudem ein vergleichbares Doppelporträt findet, dann | |
handelt sich hierbei offensichtlich um mehr als ein beliebiges Fotoalbum. | |
In einer eindringlichen Fallstudie rekonstruiert Regener, wie in den ersten | |
Jahren des 20. Jahrhunderts in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt | |
Weilmünster bei Wetzlar die Fotokamera dazu genutzt wurde, den dort | |
behandelten Patienten ein Bildnis zu geben, das sie als Außenseiter in der | |
Gesellschaft des späten Kaiserreichs kenntlich machen soll. | |
Nur auf den ersten Blick ist der Aufwand, den der namenlose Fotograf in | |
Weilmünster getrieben hat, sonderbar: Gartenstühle werden mitten auf einen | |
Kiesweg gestellt, und an die Stelle des professionellen Ateliers wird hier | |
kurzerhand der Anstaltspark zur improvisierten Kulisse einer Bildproduktion | |
genutzt. Ganz nach Maßgabe der kriminalistischen Fotografie sollen die | |
Patienten vermessen werden. | |
Und wie nebenbei wird gerade das, was beim bürgerlichen Atelierporträt im | |
Carte-de-visite-Format von vornherein vermieden oder aber später als | |
störend retuschiert wird, hier, in der psychiatrischen Anstalt, mit dem | |
Fotoapparat besonders gründlich erforscht: Jede Falte, jeder | |
Gesichtsausdruck, jede Körperhaltung lässt sich, wenn man denn nur will, | |
als äußeres Anzeichen einer aus der Ordnung geratenen Psyche | |
interpretieren. | |
Regener sammelt in ihrem Buch überaus drastische fotografische Beispiele, | |
in denen die Brutalität offen zutage tritt, mit denen die Patienten in ein | |
solches kriminalistisches Dispositiv der visuellen Erkundung des Körpers | |
gezwungen wurden. | |
Bereits in ihrem 1999 veröffentlichten Buch "Fotografische Vermessung", | |
eine inzwischen zum Klassiker der jüngeren kulturwissenschaftlichen | |
Diskurs- und Mediengeschichte aufgestiegene Studie zur medialen | |
Konstruktion des Kriminellen, hatte Regener von "Fotografien wider Willen" | |
gesprochen. Heute, mehr als ein Jahrzehnt darauf, erweist sich dieser | |
Begriff als gleichermaßen trennscharf, um das in mehr als einem Sinn | |
verwandte Phänomen der medialen Konstruktion des "Wahnsinns" zu | |
untersuchen. | |
Gewalt, dies ist die bittere Pointe von Regeners Untersuchung, tritt nicht | |
allein im Gewand roher Brutalität in das Leben der Patientinnen und | |
Patienten. Es sind vor allem Akte einer schleichenden Bemächtigung, die in | |
vielfältiger Weise in der Psychiatrie Raum greifen. Mit der zunehmenden | |
Professionalisierung einer Beobachtung von psychisch Erkrankten geht eine | |
Verfeinerung der visuellen Aufzeichnungstechniken einher. Gesucht wird im | |
individuellen Gesicht nicht der Ausdruck des je persönlichen Befindens, | |
sondern vielmehr das Charakteristische einer angenommenen Krankheit, der | |
Hysterie etwa. | |
Einmal im fotografischen Bild eingefangen und in einen Typenkatalog | |
eingeordnet, wird der ärztliche Blick zukünftig umso sicherer seine Urteile | |
fällen können. Die den Erkrankten "gestohlenen Ablichtungen" sind, wie die | |
Autorin präzise beschreibt, Instrumente der "optischen Internierung". | |
Regeners Blick auf die Bildmediengeschichte erweist: Auf äußerliche Weise | |
sind es Anstaltsmauern, die den Unterschied zwischen Insassen von | |
Gefängnissen und Kliniken unkenntlich machen. Subtiler hingegen wirken die | |
medialen Dispositive, die sich bei der klassifizierenden | |
Außenseiterproduktion von Kriminellen und Psychiatriepatienten auf | |
beklemmende Weise gleichen. | |
Dass sich der Verlag jedoch nicht in der Lage sieht, eine Studie, die | |
äußerst sensibel mit dem untersuchten Bildmaterial umgeht, auch bei der | |
Einrichtung und dem Druck des Buches angemessen auszustatten, ist | |
ärgerlich. Gerade da zahlreiche Bildquellen erstmals publiziert werden, | |
wäre es wünschenswert, dass man nicht darauf angewiesen ist, auf mitunter | |
nicht mehr als briefmarkengroßen Reproduktionen allenfalls zu erraten, | |
worauf sich die Worte der eindringlichen Analyse richten. | |
18 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
St. Siegel | |
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