# taz.de -- Entlassung von Sicherungsverwahrten: Aber nicht in meinem Wahlkreis | |
> Der Sicherungsverwahrte Hans-Peter W. wird nach 29 Jahren aus der Haft | |
> entlassen. Die Medien hetzen ihn quer durchs Land. In einer | |
> therapeutischen Einrichtung ist er noch immer nicht. | |
Bild: Gitter auf und was kommt dann? | |
HAMBURG taz | Ganz sonderbare Dinge seien da geschehen, sagt Guntram | |
Knecht, der Leiter der forensischen Abteilung der Hamburger Psychiatrie in | |
Ochsenzoll. Die sonderbaren Dinge, die man auch eine Reihe von Lügen nennen | |
könnte, haben sich nach der Entlassung des früheren Sicherungsverwahrten | |
Hans-Peter W. zugetragen. | |
Sie haben dazu geführt, dass W., dem ein Gutachter vor der Entlassung eine | |
negative Prognose ausgestellt hat, noch immer keinen Therapieplatz gefunden | |
hat. Sie haben dazu geführt, dass die Politiker, die sich mit W. befassen, | |
viel Zeit damit verbringen, die Boulevardmedien zu beruhigen. Dabei haben | |
sie wenig Erfolg. Schließlich schüren ihre Kollegen das Feuer. | |
Keine positive Prognose | |
1980 wird Hans-Peter W., gelernter Maurer, aus dem Gefängnis entlassen, wo | |
er wegen Sexualstraftaten inhaftiert war. Drei Wochen später missbraucht | |
der damals 23-Jährige eine Spaziergängerin, dann vergewaltigt er eine Frau | |
vor den Augen ihres Sohns. Man verurteilt ihn wegen der besonderen | |
Brutalität der Taten zu sieben Jahren und neun Monaten Haft, anschließend | |
kommt er in Sicherungsverwahrung. | |
Nachdem im Mai das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs | |
(EGMR) rechtskräftig wird, stellt W. einen Antrag auf Entlassung. Das | |
Gericht hat entschieden, dass Sicherungsverwahrung nicht nachträglich | |
verlängert werden darf - genau das aber war bei W. geschehen. | |
Er hat nach den knapp acht Jahren Haft weitere 21 in Sicherungsverwahrung | |
verbracht. Am 15. 7. wird er auf Geheiß des Oberverwaltungsgerichts | |
Karlsruhe entlassen. Vermutlich freuen sich außer ihm nur wenige Menschen | |
darüber. Warum sollten sie auch, schließlich hat W. keine positive | |
Prognose. | |
Doch in der Öffentlichkeit stellt kaum jemand die Frage, wie man mit der | |
Gefahr, die - vielleicht - von ihm ausgeht, am besten umgeht. Stattdessen | |
beginnt eine mediale Jagd, die von den Zeitungen, die sich daran | |
beteiligen, mit dem Gestus selbsternannter Bürgerwehren geführt wird. Es | |
interessiert sie nicht, dass es in England bereits Erfahrungen mit | |
Internetprangern für entlassene Sexualstraftäter gibt. Sie verhindern | |
keineswegs weitere Straftaten. | |
Die Politik trottet den Medien hinterher und setzt auf Vertreibung und | |
Schuldzuweisungen, die sich in der Regel an die jeweils vorangegangene | |
Station richten. Manchmal stimmen sie, häufiger nicht. | |
Die ernsthafteren unter den Medien und Kriminologen werfen der JVA Freiburg | |
vor, Hans-Peter W. nicht auf die Entlassung vorbereitet zu haben, obwohl | |
sich seit Ende 2009 das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs | |
abgezeichnet habe. | |
"Ich gebe zu, wir haben nicht mit einer Blitzentlassung gerechnet", sagt | |
der Leiter der JVA Freiburg, Thomas Rösch. Und fährt fort: "Wir hatten auch | |
keinen Grund dazu." Dann zählt er einige Urteile von Oberlandesgerichten | |
auf, die die Entlassung von Sicherungsverwahrten trotz EGMR-Urteil | |
abgelehnt hätten. Diejenigen, die die Entlassung angeordnet haben, nennt er | |
nicht. | |
Kurz vor seiner Entlassung legen die Sozialarbeiter der JVA Freiburg W. | |
eine Liste mit möglichen Rehabilitationseinrichtungen vor. Auf entlassene | |
Sicherungsverwahrte spezialisierte Häuser gibt es nicht. | |
"W. sollte nach Stuttgart", sagt der JVA-Leiter, aber W. wollte nicht zu | |
nahe an seinen früheren Heimatort zurück. Stattdessen entscheidet er sich | |
für ein Pflege- und Betreuungszentrum in Bad Pyrmont. | |
Als er dort am 15. 7. ankommt, erwartet ihn bereits ein Reporter der | |
Bild-Zeitung. Der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann (CDU) | |
schreibt in einer Pressemitteilung, dass es "besonders fatal" sei, dass W. | |
sich in Niedersachsen aufhalten wolle. | |
Dass Politiker versuchen, mit der Entfernung entlassener | |
Sicherungsverwahrter aus ihren Wahlkreisen zu punkten, ist kein Vorrecht | |
der konservativen Parteien. Landrat Rüdiger Butte (SPD) veranlasst ein | |
Treffen von Polizei, Vertretern der Stadt Bad Pyrmont, Landgericht | |
Hannover, Justizsozialdienst, W.s Bewährungshelfer und dem Betreiber des | |
Betreuungszentrums. | |
Es geht um die "tickende Zeitbombe", so nennt Rüdiger Butte Herrn W., die | |
Bezeichnung greifen andere Politiker und Polizeigewerkschafter auf. Man | |
kommt überein, dass das Haus in Bad Pyrmont nicht die geeigneten | |
Voraussetzungen für eine dauerhafte Unterbringung von Hans-Peter W. biete. | |
Angeblich ungeeignet | |
"Eine interessante Fragestellung", sagt der Freiburger JVA-Leiter Thomas | |
Rösch, wenn man erfahren möchte, wieso man in Niedersachsen die | |
Einrichtung, die seine Mitarbeiter für W. ausgesucht haben, für ungeeignet | |
hält. "Natürlich ist sie geeignet", sagt Rösch. | |
Er hat das Haus 2009 bei einer bundesweiten Fachtagung im niedersächsischen | |
Justizministerium zum Thema Sicherungsverwahrung kennengelernt. Er habe | |
dann Mitarbeiter aus Bad Pyrmont nach Freiburg eingeladen und mit ihnen | |
über die Möglichkeit gesprochen, entlassene Sicherungsverwahrte bei ihnen | |
unterzubringen. | |
"Ich habe auf die Schwierigkeit hingewiesen, dass unsere | |
Sicherungsverwahrten nicht ganz einfach sind", sagt Thomas Rösch. "Ich habe | |
auch Namen genannt." Das Haus in Bad Pyrmont schloss einen | |
Betreuungsvertrag mit Hans-Peter W. | |
Den kündigte es nach dem Landratsgespräch - nach einer Woche Aufenthalt von | |
W. Laut seinem Anwalt musste W. bereits am nächsten Tag das Haus verlassen. | |
Marcus Rehse, der Geschäftsführer der Sewo GmbH, die das Haus in Bad | |
Pyrmont betreibt, sagt, dass in dieser Geschichte viele Halbwahrheiten im | |
Umlauf seien. | |
Aber er zeigt wenig Interesse daran, damit aufzuräumen. "Es gab keinen | |
Vertrag mit Herrn W.", sagt er nur. Und: "Unsere Einrichtung ist für einen | |
Mann mit diesem Hintergrund nicht geeignet." | |
Hans-Peter W. reist weiter nach Hamburg. Er ist an einer Therapie | |
interessiert. Dass das am Druck der Medien liegen könnte, hält der | |
Psychiater Knecht für abwegig. Im Gegenteil: Je mehr Druck von außen komme, | |
desto größer ist die Gefahr, dass der Entlassene instabil werde. | |
Zunächst lebt W. in einem Mehrfamilienhaus. Bild-Reporter klingeln an | |
seiner Wohnungstür, als er einen Sozialarbeiter erwartet, danach lauern sie | |
ihm im Keller auf. W. geht auf die Journalisten los. Die neuen Nachbarn von | |
W. lassen sich von den Boulevardzeitungen mit Schildern fotografieren, auf | |
denen steht: "Vergewaltiger sollen keine Menschenrechte haben". Kurz danach | |
sucht die Stadt Hamburg eine neue Bleibe für ihn: W. lebt nun in einem | |
alleinstehenden Haus in einem Vorort. | |
Auf einer von W.s Stationen gibt es ein Hintergrundgespräch zwischen | |
Behörden und Journalisten. Die Behörden erklären, dass W. nur dann eine | |
geeignete Therapieeinrichtung fände, wenn diese nicht vorab öffentlich | |
gemacht würde. | |
Die Journalisten erklären, dass sie offensiv berichteten, weil sie | |
fürchteten, die Behörden würden ihrer Aufgabe nicht gerecht. Anschließend | |
fragen sie, welche Informationen sie als Gegenleistung für eine gewisse | |
Zurückhaltung bekommen würden. | |
Die Behörden in Hamburg finden schließlich eine Einrichtung in Reinbek, die | |
W. aufnehmen will. Reinbek liegt in Schleswig-Holstein, aber die | |
Einrichtung hat einen hamburgischen Träger. W. steht kurz vor dem Einzug, | |
doch da schreibt der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry | |
Carstensen (CDU) dem damaligen Hamburger Innensenator Ahlhaus (CDU) einen | |
Brief. | |
Hamburg zieht den Plan zurück. Peter Harry Carstensen begrüßt diesen | |
Verzicht in einer unnachahmlichen Wendung als "Ausdruck der guten | |
Zusammenarbeit". | |
In Hamburg kommentiert man das nicht, die Senatssprecherin verweist | |
lediglich darauf, dass man "nicht überall, wo Herr W. künftig wohnen | |
möchte, nach dem Sankt-Florians-Prinzip verfahren wird". | |
Sie erinnert daran, dass Herr W. das Bürgerrecht Freizügigkeit besitzt: Er | |
kann dorthin gehen, wohin er möchte. Man hört, dass Hamburg, anders als | |
Niedersachsen, seine vordringliche Aufgabe nicht darin sieht, Hans-Peter W. | |
wieder loszuwerden. Lob erntet die Stadt dafür nicht. | |
Der Sprecher von Harry Peter Carstensen möchte die Frage, warum die | |
Einrichtung in Reinbek nicht geeignet sei, "nicht erörtern". Er möchte auch | |
nicht die Frage beantworten, ob es von Bedeutung ist, dass Reinbek im | |
Wahlkreis des schleswig-holsteinischen Innenministers liegt. "Jede | |
Einrichtung liegt in irgendeinem Wahlkreis", sagt er. | |
Es gibt undichte Stellen | |
Es werden immer wieder Sicherungsverwahrte entlassen. Hans-Peter W. ist | |
nicht der einzige, der trotz schlechter Prognose auf freiem Fuß ist. | |
Manchmal erfährt die Öffentlichkeit davon. | |
Es heißt, dass es undichte Stellen bei Justizvollzugsanstalten und | |
Staatsanwaltschaften gebe, die finden, dass die Betreffenden besser nicht | |
freikommen. Oder bei der Polizei, die der Rund-um-die-Uhr-Bewachung nicht | |
viel abgewinnen kann. Thomas Rösch von der JVA Freiburg erklärt, dass seine | |
Mitarbeiter sicherlich nicht geplaudert hätten. Mehr will er dazu nicht | |
sagen. | |
Warum wurde gerade der Fall von Hans-Peter W. publik und damit zum | |
Profilierungsfeld der Landräte, Minister und Ministerpräsidenten, zu einer | |
"Steilvorlage", wie es einer aus dem politischen Umfeld nennt? | |
"Bloßer Zufall", sagt Guntram Knecht, der Leiter der forensischen | |
Psychiatrie in Hamburg-Ochsenzoll. Aber seitdem die Medien sich W.s | |
angenommen haben, winken in Hamburg viele Einrichtungen ab, wenn sie | |
Menschen wie ihn aufnehmen sollen. Nicht, weil sie nicht mit ihnen arbeiten | |
wollten. Die Gefahr, dass sich die Presse auf sie stürzen könnte, ist ihnen | |
zu groß. | |
8 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Friederike Graeff | |
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