# taz.de -- Christian Ströbele über grüne Höhenflüge: "Kein Paradies versp… | |
> Hans-Christian Ströbele freut sich auf die greifbar nahe Machtübernahme | |
> in Berlin durch Renate Künast und warnt zugleich vor allzu großen | |
> Hoffnungen. | |
Bild: Auf fast jeder Demo in Berlin dabei: Christian Ströbele. | |
taz: Herr Ströbele, sind Sie neidisch auf Renate Künast? | |
Hans-Christian Ströbele: Nein, überhaupt nicht. | |
Sie haben es nur zum König von Kreuzberg gebracht, Künast könnte Königin | |
von ganz Berlin werden. | |
Ob der Regierende Bürgermeister der König ist, bezweifle ich. Ich habe | |
Herrn Wowereit noch nie mit einer Krone gesehen. Auch auf keiner Party. | |
König von Kreuzberg - das beschreibt, dass Sie so etwas wie der Regierende | |
Widerstand sind. Mit allen Freiheiten. Sie vertreten Ihren Wahlkreis, haben | |
aber keine konkrete Regierungsverantwortung. Sind Sie froh darüber? | |
Na ja, solche Verantwortung habe ich schmerzlich auch getragen. Aber ich | |
habe zur Wahl 2002 klar gesagt, dass ich Bundestagsabgeordneter werden will | |
und sonst nichts. Danach hatte ich große Freiheiten, meine Meinung zu | |
äußern. Außerdem mag ich ohnehin keine Posten, wo viel repräsentiert wird. | |
Ich meide Empfänge, wo ich kann. | |
Ihre Partei plant das Gegenteil, sie will 2011 ins Rote Rathaus und an die | |
Macht. Würde das den Grünen bekommen? | |
Ich bin Fan davon, ich war als einer der Ersten dafür. Es ist ein | |
faszinierender Gedanke, nicht nur in irgendeiner Regierung zu sitzen, | |
sondern den Hut aufzuhaben und Politik federführend zu gestalten. Wir | |
müssen diese Chance wahrnehmen - sonst würden wir uns politisch nicht ernst | |
nehmen. | |
Ihre Partei liegt in Berliner Umfragen bei 30 Prozent. Können die Grünen | |
dauerhaft für so verschiedene Milieus sprechen wie das alternative | |
Kreuzberg und bürgerliche Gegenden in Pankow oder Westberlin? | |
Schauen Sie mich an, ich tue das seit Jahren. Ich bin nicht nur in | |
Kreuzberg gewählt worden, sondern auch in Prenzlauer Berg Ost und | |
Friedrichshain. Dort leben auch Menschen in Plattenbauten aus ganz anderen | |
Milieus, sie haben mit den alternativen Szenen aus Kreuzberg kaum etwas | |
gemein. Ich bin auch noch Wessi. Trotzdem haben viele mich zu ihrem | |
Vertreter gewählt, einen linken Grünen. Das scheint inzwischen auch in den | |
Teilen Berlins möglich, die für die Grünen lange ein Problem waren. | |
Die Grünen punkten doch nicht vorrangig in den Plattenbaugegenden im Osten. | |
Sicher, es gibt schwierige Gebiete in den Außenbezirken wie in | |
Marzahn-Hellersdorf, doch auch da holen wir auf. Berlin ist vielschichtiger | |
als Tübingen oder Freiburg. Aber gerade hier wollen Menschen aus all diesen | |
Milieus und Schichten von uns vertreten werden. | |
Weshalb? | |
Die Grünen in Berlin sind entstanden aus der Alternativen Liste für | |
Demokratie und Umweltschutz. Aber auch soziale Gerechtigkeit stand immer | |
oben auf dem Programm. Das ist immer noch so. Für soziale Forderungen | |
kriegt man auf Berliner grünen Parteitagen klare Mehrheiten, und das ist | |
richtig so. | |
Die Grünen gewinnen zurzeit aber eher bei Konservativeren an Unterstützung, | |
denen soziale Fragen nicht so wichtig sind. | |
Das sehe ich ganz anders. Wir sind keine grüne FDP. Sicher, auch die Grünen | |
werden von vielen gebildeten Leuten mit gesichertem, auch mit höherem | |
Einkommen gewählt. Im Unterschied zu den FDP-Anhängern wollen die aber | |
neben dem, was sie für sich und ihre Familie an Wohlstand und Bildung | |
anstreben, bei der Wahl etwas für eine sozial gerechtere Welt tun. | |
Aber nur, solange ihnen selbst dadurch kein Nachteil entsteht. Nehmen wir | |
die Schulpolitik: Die Grünen sind für die Gemeinschaftsschule. Dummerweise | |
müsste man dann das Gymnasium abschaffen, auf das die ganzen Kinder der | |
Grünen-Wähler gehen. Die drohen: Wir wählen euch nie mehr. | |
Richtig, bei solchen Fragen gibt es Probleme. Trotzdem ist es falsch, | |
schwarz-grüne Schnittmengen zu beschwören. Zusätzliche Wählerinnen und | |
Wählern gewinnen wir von der SPD und frustrierten Nichtwählern. | |
Sie haben die Alternative Liste 1978 mitbegründet. Wie haben die Grünen die | |
Stadt verändert? | |
Soziale Bewegungen haben gemeinsam mit uns Teile der Stadt gerettet und | |
Wichtiges bewirkt. Protest und Widerstand kann sich eben doch lohnen. Die | |
Wohnsubstanz ganzer Stadtviertel wurde gerettet in Kreuzberg oder | |
Friedrichshain etwa. Genau diese Altbauten machen die Gebiete heute so | |
attraktiv, dass alle hinziehen wollen. | |
Und wie hat die Stadt die Grünen verändert? | |
Die Grünen in Berlin haben sich selbst verändert. Viele sind weggegangen, | |
auch aus inhaltlichen Gründen wegen der Kriegsbeteiligung oder Hartz IV. | |
Die Partei- und Politikkultur ist anders. Viele scheinen angepasster auch | |
beim Outfit. Ich versuche mit meinen bescheidenen Mitteln dagegenzuhalten, | |
wenn ich mit rotem Schal für linke Inhalte werbe. | |
Haben Sie sich nicht verändert? | |
Doch, natürlich. Aber ich halte gern an alten Wahrheiten fest. | |
Auch Sie sind ein bisschen bürgerlicher geworden? | |
Natürlich. Vor allem ruhiger. Früher war ich auch in verrauchten Kneipen | |
und habe nächtelang diskutiert. Das mache ich heute nicht mehr. Seit mehr | |
als 20 Jahren lebe ich drogenfrei, ohne Alkohol, Zigaretten, Kaffee, Hanf. | |
Damit kleide ich mich zuweilen, ich rauchte es nie. Aber ich versuche, den | |
Kontakt zu den Leuten zu halten, die andere Lebensweisen ausprobieren, | |
Politik und Probleme alternativer sehen als ich hier im Bundestag. | |
Inwiefern? | |
Ich gehe zu unterschiedlichsten Events und Demonstrationen. Wenn es zum | |
Beispiel Ärger um ein besetztes Haus gibt, verbringe ich manchmal einen | |
ganzen Abend da, schaue mir das mit großem Interesse an und versuche zu | |
vermitteln. Ich finde dann vieles von dem, was auch wir damals gedacht | |
haben. Es war doch richtig, Autoritäten immer wieder infrage zu stellen. | |
Daran denke ich in meinem täglichen Leben allerdings nur noch selten. | |
Sie wollen den Kontakt zur linken Basis nicht verlieren? | |
Ja. Auf Demos zu gehen und mit den Leuten zu sprechen ist manchmal | |
anstrengend und zeitaufwendig. Trotzdem kann ich meinen Kollegen aus dem | |
Bundestag nur raten, das zu tun. Es gab mal eine Zeit, da war ich auf allen | |
Demos in Berlin. | |
Auf allen? | |
Ja. Wenn es rechtsextreme Veranstaltungen gab, war ich auf der | |
Gegendemonstration. Aber das schaffe ich jetzt nicht mehr. In Berlin | |
verliert man den Überblick. Wenn ich morgens das Radio anschalte und höre, | |
da ist schon wieder eine Demo, von der ich nichts weiß, telefoniere ich mit | |
meinem Büro und frage: Kann es sein, dass ich etwas Wichtiges verpasse? | |
Häufig gibt es ja mehrere Demos pro Tag. | |
Wenn das Volk demnächst vor dem Roten Rathaus gegen einen grünen Senat | |
demonstriert, stehen Sie dann immer noch mit Ihrem Fahrrad an der Seite? | |
Dann ist Ströbele dabei und diskutiert. Ich war auch auf den Demos gegen | |
die von den Grünen mitbeschlossenen Hartz-IV-Gesetze und musste mir als | |
Bundestagsabgeordneter die Beschimpfungen anhören. Aber es gab dann auch | |
Lob. Leute sagten: "Wir finden gut, dass du da bist, wenigstens einer." | |
Sie werden auch Polizeieinsätze beobachten, wenn der Innensenator Volker | |
Ratzmann heißt? | |
Wer wann wo Senator wird, werden wir sehen. Aber natürlich gehe ich weiter | |
zu Demos. | |
Sie haben auch mit Ihrer Demo-Präsenz einen gewissen Kultstatus erreicht. | |
Wenn man in eine WG kommt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass auf dem Klo, | |
wo früher ein Che-Guevara-Poster hing, heute ein Ströbele-Plakat klebt. Wie | |
fühlt man sich so als linkes Abziehbild? | |
Ich finde das großartig. Ich höre tatsächlich immer wieder: "Wir kennen Sie | |
ja nicht, aber Sie hängen bei uns zu Hause an der Wand." Das bauchpinselt | |
mich. | |
Es stört Sie nicht, ein linker Säulenheiliger zu sein? | |
Nein, überhaupt nicht. Ich kultiviere das manchmal bewusst, aber Autogramme | |
gebe ich nicht. Zum öffentlichen Bild von Ströbele gehört das Fahrrad | |
zwingend mit dazu. | |
Früher waren Sie in linken Kreisen für Ihren Passat bekannt. | |
Ich fahre Auto, seit ich 18 bin, und besitze einen VW Touran. Ich fahre | |
damit in den Urlaub. Autofahren in der Stadt halte ich für unvernünftig und | |
blöd | |
Auch wenn es Winter wird? | |
Ich fahre mit Vorliebe im Winter Fahrrad, weil die Leute dann besonders | |
große Augen machen. Außerdem fühle ich mich auf dem Rad sicherer. Ich bin | |
im letzten Winter zweimal zu Fuß ausgerutscht, mit dem Rad hingegen nie. | |
Nehmen wir an, die Grünen gewinnen die Berlin-Wahl im September. Was muss | |
eine grüne Bürgermeisterin in Berlin als Erstes ändern? | |
Wir werden nicht gleich Berge versetzen, aber vielleicht die A 100 stoppen. | |
Ich bin sehr dafür, dass wir führende Regierungspartei werden. Aber ich | |
rate auch zur Vorsicht. Nach dem Wahlsieg im vergangenen Jahr habe ich | |
schon einem Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg gesagt: Jetzt freuen wir | |
uns, der Bürgermeister wird ein Grüner, aber dann wird es unheimlich | |
schwer. Wir werden dann für alles verantwortlich gemacht und können wenig | |
ändern. Das wird auf Landesebene nicht anders sein. Oft wird es heißen, wir | |
würden gern, aber wir haben kein Geld. | |
Was heißt das für den Wahlkampf? | |
Wir müssen ehrlich sein mit Wahlaussagen, vor allem solchen, die Geld | |
kosten. Ich bin für Wahrheit und Klarheit. Ich will keine Forderung, von | |
der wir nicht sagen, wann und wie wir sie erfüllen können. Gleichzeitig | |
müssen wir konkrete inhaltliche Vorschläge finden, die die Fantasie | |
beflügeln, dass die Leute sagen: Es wäre toll, wenn sich die Stadt so | |
verändern würde. | |
Zum Beispiel? | |
Berlin wird grüner und gesünder, etwa durch mehr Fahrradstraßen und | |
Radstreifen auf großen Straßen wie der Skalitzer. Dort ist es auf dem Rad | |
lebensgefährlich. Die Grünen wollen das nun ändern. | |
Das ist die grüne Vision für die Stadt - mehr Radstreifen? | |
Natürlich nicht nur das. Das wäre ein Beispiel aus einem umfassenden | |
Konzept für mehr grünen Gebrauchswert der Stadt. Dazu gehören Vorschläge | |
für den öffentlichen Verkehr, weniger Autos und mehr mit Bus und Bahn, | |
attraktivere Tarife und bessere Angebote wie der Straßenbahn, die nicht | |
jeweils an der ehemaligen Mauer endet. Dazu ein Konzept für die Mieterstadt | |
Berlin gegen steigende Mieten - Stichwort Gentrifizierung. Wenn da nichts | |
passiert, wird es hier bald nicht mehr so liebens- und lebenswert sein wie | |
im Moment. Mieterhöhungen müssen gedeckelt werden. | |
Wie denn? | |
Durch Ausbau und konsequente Anwendung der gesetzlichen Möglichkeiten für | |
den Milieuschutz, auch über Initiativen auf Bundesebene. Die landeseigenen | |
Wohnungsbaugesellschaften sollten gegensteuern. Und - jetzt hören Sie was | |
von mir, was Sie vor 30 Jahren so noch nicht gehört hätten - das Konzept | |
für die Wirtschaft muss her, für die Förderung der alternativen innovativen | |
Kreativwirtschaft. | |
Was meinen Sie? | |
Ich bin in Kontakt mit kreativen Jungunternehmern wie am Moritzplatz mit | |
der Firma Modulor oder dem Betahaus. Ich war beeindruckt von neuen Formen | |
der Arbeitsorganisation. Mit der Kreativwirtschaft könnte Berlin gewinnen - | |
nicht nur an Arbeitsplätzen. | |
Revolutionäre Ideen klingen anders. | |
Mag sein. Aber in einer revolutionären Situation sind wir nun mal nicht. | |
Wir stehen vor Wahlen und müssen aufpassen, dass nicht große Enttäuschung | |
folgt, weil das Geld fehlt. Wir wollen alles schnell besser, aber davor | |
stehen die Schulden aus CDU-Regierungszeiten. Die müssen runter, und wir | |
dürfen um Himmels willen keine paradiesischen Verhältnisse versprechen. | |
Sie sind ein Meister im Spagat zwischen pragmatischer Parteipolitik und | |
moralischer Integrität. Was sind inhaltliche Fragen, bei denen auch die | |
Berliner Grünen nach einem Wahlsieg in den Spagat gehen müssten? | |
Da sehe ich in der Landespolitik keine großen Probleme. Die | |
Umfrageergebnisse der Grünen sind doch nicht aus einzelnen Programmpunkten | |
zu erklären. Die Grünen werden schlicht als glaubwürdiger angesehen als die | |
anderen Parteien. Die Leute schätzen realistische ehrliche Vorschläge und | |
wenn wir einsichtig auf Fehler reagieren. | |
Wie gehen Sie denn mit umstrittenen Beschlüssen der rot-grünen | |
Bundesregierung um? | |
Ich gebe Fehler zu und versuche, sie zu erklären. Ich setze mich beharrlich | |
für Korrekturen ein. In der Fraktion ist man wenig begeistert, wenn ich | |
wieder damit anfange, dass in Afghanistan immer mehr Menschen sterben, wir | |
das mit zu verantworten haben, und dass wir jetzt den Krieg beenden müssen. | |
Aber ich höre nicht auf. Dafür habe ich noch mal kandidiert. Das fällt mir | |
nicht immer leicht, weil ich eigentlich konfliktscheu bin. | |
Ach. | |
Ich denke manchmal schon: Muss ich jetzt diese Kontroverse wieder | |
aufmachen? Das kostet Überwindung. | |
Heute in vier Jahren: Berlin wird längst grün regiert. Was ist dann Ihre | |
Rolle? Sitzen Sie auf Ihrem Balkon und schauen zu? | |
Bei schönem Wetter aber sicher. Aber ich werde, solange ich mich noch | |
bewegen und vernünftig denken kann, weiter politisch tätig sein. | |
Ist das jetzt die Ankündigung, dass Sie bei der nächsten Bundestagswahl | |
wieder antreten? | |
Das ist keine Androhung, wenn Sie das meinen. Nein, ich kündige nichts an. | |
Aber ich merke inzwischen ja auch, dass ich älter geworden bin. | |
1 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Gereon Asmuth | |
Antje Lang-Lendorff | |
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