Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Paulskirchenrede Alfred Grossers: Ein vielfach kritisierter Gast
> Alfred Grosser war eingeladen, in der Frankfurter Paulskirche zum
> Gedenken an die Pogrome vom 9. November 1938 zu reden. Der Streit ließ
> nicht lange auf sich warten.
Bild: Eine "Fehlbesetzung"? Alfred Grosser.
Traditionell wird am 9. November in der Frankfurter Paulskirche der Pogrome
vom 9. November 1938 ("Reichskristallnacht" im Nazi-Jargon) gedacht. In
diesem Jahr schwebt schon im Vorfeld ein dunkler Schatten über der
Veranstaltung. Der Zentralrat der deutschen Juden fühlte sich bei der Wahl
des Hauptredners nicht ausreichend konsultiert. Als Redner ausgewählt
wurden der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser, der aus
einer jüdischen Frankfurter Familie stammt, und Dieter Graumann,
Vizepräsident des Zentralrats.
Zuerst intervenierte der Zentralrat gegen Grossers Wahl diskret bei der
Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth, die die Gedenkveranstaltung
ausrichtet. Die Oberbürgermeisterin ließ sich jedoch nicht umstimmen und
hielt an Grosser als Hauptredner fest. Er wurde an gleicher Stelle 1975 mit
dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und erhielt 1986
die Goethe-Plakette der Stadt. Einen so hoch Geehrten als Gast wieder
auszuladen, wäre ein Affront sondergleichen gewesen.
Der Konflikt verschärfte sich, als Stephan Kramer, der Generalsekretär des
Zentralrats der Juden in Deutschland, eingriff und die Wahl Grossers - ohne
Mandat des Zentralrats - "pietätlos" nannte. Kramer wies darauf hin, dass
sich Grosser beim Streit über Martin Walsers verunglückte Rede (1998) in
der Paulskirche auf die Seite des Dichters vom Bodensee schlug und nicht
auf jene des zutiefst verletzten Ignatz Bubis, der damals Vorsitzender des
Zentralrats war.
Martin Walser verteidigt
Der Frankfurter Rundschau erklärte Grosser am 1. November 2010, er finde es
"zutiefst schockierend", dass sich Deutsche nicht zu
Menschenrechtsverletzungen in Israel äußern würden: "In diesem Punkt stehe
ich hinter Martin Walsers Kritik an der Auschwitz-Keule. Ja, ich sehe diese
Keule, die ständig gegen Deutsche geschwungen wird, falls sie etwas gegen
Israel sagen. Tun sie es trotzdem, sagt die Keule sofort: Ich schlage dich
mit Auschwitz."
Grosser hat sich nie zurückgehalten mit seiner Kritik und seinen
Vorbehalten gegenüber der israelischen Besatzungspolitik in Palästina. Und
so hielt er auch in seiner Rede daran fest. Die Werte der westlichen Welt
seien Werte für alle, sagte er. Der Staat Israel gehöre für ihn zu Europa
und deswegen sei er kritisch. Er rief dazu auf, die Leiden anderer
anzuerkennen. So sei beispielsweise die Art, wie Ausländer "hier und
anderswo" behandelt werden könnten, eine Verletzung der Grundwerte. An den
Anderen zu denken sei eine Voraussetzung für den Frieden. Man könne von
keinem Palästinenser verlangen, "dass er die Schrecken der Attentate
versteht, wenn man nicht ein großes Mitgefühl hat, die Leiden im
Gazastreifen zu verstehen".
Hauptanlass für die Verärgerung, die der Zentralrat der Juden im Vorfeld
zeigte, ist wohl Grossers jüngst erschienenes Buch "Von Auschwitz nach
Jerusalem" und ein Stern-Interview, in dem Grosser sagte: "Wenn Grundrechte
verletzt und Menschen entwürdigt werden, dann ist es ein Grundelement
unserer aller Ethik, dies anzuprangern. Solange Palästinenser an der Mauer
gedemütigt werden, solange ein palästinensischer Staat unmöglich ist, weil
die Siedlungen und die Straßen nur für Israelis sind, solange eine
territoriale Kontinuität unmöglich ist, wird Israel nicht in Frieden
leben."
Im Übrigen beklagte sich Grosser, dass niemand vom Zentralrat mit ihm über
das Buch und seine Thesen zur israelischen Siedlungspolitik gesprochen
habe. Er fühle sich verleumdet und als Exilant beleidigt, wenn ihn Salomon
Korn, der Vizepräsident des Zentralrats, einen "nützlichen Idioten" nennt.
Grosser hält die aktuelle Stimmung in Deutschland für so bedenklich wie in
Frankreich: "Wenn einer die Stimme gegen Israel erhebt, heißt es sofort
Antisemitismus."
Die Auseinandersetzung um und mit Grosser bekam medialen Schwung. Grosser
griff Graumann persönlich an, obwohl sich dieser auch "kritisch zur
israelischen Siedlungspolitik geäußert hat" (Micha Brumlik). Der
Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik seinerseits, der sich stark für den
christlich-jüdischen Dialog engagiert, würde aus Protest der
Gedenkveranstaltung fernbleiben, so ließ er wissen, wenn er nicht ohnehin
einen anderen Termin wahrnehmen müsste. Dieter Graumann und Salomon Korn
hatten im Vorfeld der Veranstaltung öffentlich damit gedroht, zu gehen,
"wenn Grosser ausfallend gegenüber dem Zentralrat oder Israel" werde. Bis
zum Redaktionsschluss der taz war nicht bekannt, ob sie tatsächlich
gegangen sind.
Auf die Frage, warum sich der Konflikt so hochschaukelte, obwohl sich fast
alle Kontrahenten persönlich kennen, kriegt man von Beteiligten keine
Antwort. Grosser hielt Rainer Werner Fassbinders Frankfurt-Stück "Die
Stadt, der Müll und der Tod" für "schlechterdings antisemitisch" und Henryk
M. Broder als "unwürdig" für den Börne-Preis der Stadt Frankfurt. In beiden
Fällen erhielt er Zustimmung.
Warum der Respekt vor dem französischen Wissenschaftler geschwunden ist,
bleibt rätselhaft.
Mit Material von dpa
9 Nov 2010
## AUTOREN
Rudolf Walther
## TAGS
Deutschland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Alfred Grosser ist tot: Deutsch-französischer Brückenbauer
Alfred Grosser war einer der intellektuellen Wegbereiter des
deutsch-französischen Freundschaftsvertrags. Er starb im Alter von 99
Jahren.
Kandidat für Vorsitz Zentralrat der Juden: Der brave Dieter und der bissige Da…
Mit Streitlust will sich Dieter Graumann dem Stress eines der
aufreibendsten öffentlichen Ämter in Deutschland aussetzen - Hassbriefe
inklusive. Was treibt ihn an?
Kommentar Alfred-Grosser-Rede: Exemplarische Grundsätze
Grosser fordert die Achtung der Grund- und Menschenrechte der Palästinenser
- das ist exemplarisch, meint Rudolph Walther.
Alfred Grosser in der Paulskirche: Die Leiden der anderen
Alfred Grosser ermahnte in seiner Rede zum 9. November in der Paulskirche
den Westen. Der von vielen erwarteten Eklat blieb aus, versöhnliche Worte
waren zu vernehmen.
Kommentar Westerwelle in Israel: Bündnis von Duz-Freunden
Westerwelle versucht durch Zureden, die Israelis dazu zu bringen, den
Exportboykott gegen Gaza aufzuheben. Nicht die schlechteste Taktik, um
Extremisten den Boden zu entziehen.
Brandanschlag auf Synagoge bleibt ungeklärt: Keine Spur in Mainz
Die Polizei in Rheinland-Pfalz schließt einen antisemitischen Hintergrund
nicht aus, ermittelt aber weiter wegen "Vandalismus".
Zwei Frauen in israelischem Tanzwettbewerb: Stilettos für Homo-Rechte
Im israelischen Unterhaltungsprogramm "Dancing With The Stars" stellt sich
erstmals ein gleichgeschlechtliches Tanzpaar der Jury. Sie sagen: Sie
machen mit der Teilnahme auch Politik.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.