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# taz.de -- Open Air in Lyon: Die Seele an der Hauswand
> Rund 180 bemalte Hauswände machen Frankreichs drittgrößte Stadt zu einer
> Open-Air-Galerie. Die Lyoner Gruppe Cité de la Création und ihre Idee.
Bild: Wandmalerei- Reise durch die Stadt.
Lyon, Ecke Quai Saint Vincent 49 und Rue de la Martinière 2: Gelb leuchtet
das Eckhaus am Saône-Ufer gegenüber der Altstadt. Warum stehen hier so
viele Menschen auf den Balkonen?
Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass sie alle Prominente sind: die
Brüder Lumière, die in ihrer Fabrik im Stadtteil Monplaisir mit dem
heutigen Musée Lumières das Kino erfanden; der Flugpionier Antoine de
Saint-Exupéry; Joseph-Marie Jacquard, der Erfinder des Lochkartensystems
für Webstühle. Im Erdgeschoss steht Paul Bocuse mit hoher Kochmütze vor
einer Beaujolais-Weinstube. Bernard Lacombe, Symbol des Aufstiegs von
Olympique Lyonnais, als Passant im Fußballtrikot. Und im Schaufenster kann
man sich die dickste luftgetrocknete Lyoner Wurst aussuchen. Auf dem Dach
schultert Filmregisseur Bernard Tavernier gerade die Kamera.
Eine 800 Meter im Quadrat bemalte Fassade - die „Fresque des Lyonnais“ ist
Lyons bekannteste Wandmalerei. Abends wird sie in der Stadt mit dem ersten
systematischen Beleuchtungsplan angestrahlt wie die Kirchen, Brücken und
Renaissancehäuser. Marie-Louise Maugat, Fremdenführerin des Office du
Tourisme, spricht gut deutsch. Sie kennt die Geschichte jeder einzelnen der
30 Hauswandpromis vom römischen Kaiser Claudius bis zu dem Puppenspieler,
der den französischen Kasper Guignol erschuf.
„Sie spiegeln das Leben in Lyon und stiften Identität“, sagt die
Fremdenführerin. Kinder interessiert eher der Lyoner Löwe. Er steht auf
seinen Hinterbeinen am Haus gegenüber, Quai Saint Vincent 44. „Keine Sorge,
er beißt nicht“, lächelt Marie-Louise. Gern übersetzt sie auch die Zitate
von der Hauswand am Saône-Ufer Ecke Rue de la Platière. „La Bibliothèque de
la Cité“ heißt das Gemälde: 500 Bücher, einige aufgeschlagen, andere in
Regalen, alle von Autoren aus der Region Rhônes-Alpes.
Die Reise zu den Murs peints in Lyonist aber auch ohne Führung spannend.
Mit Metro, Tram und Elektrobus. Oder mit den städtischen Leihfahrrädern,
die an 340 Vélo-Stationen bereitstehen. Eine Reise wert ist auch die Serie
aus sieben Bildern „Voyage dans la ville“ (98 avenue Lacassagne). Kutschen,
von Pferden gezogene Tramwagen auf der Place Bellecour, der Funiculaire
(die Seilbahn) und insgesamt 200 Personen zeigen die Entwicklung der
öffentlichen Verkehrsmittel.
Alle Werke der seit 1978 aktiven Künstlergruppe Cité de la Création kann
man sich in Lyon unmöglich ansehen. Entscheidungshilfen gibt das PDF „Weg
der Bilder“ (von der Website).
Halim Bensaïd, algerischer Abstammung, war von Anfang an dabei. Wie die
anderen elf Gründungsmitglieder besuchte er Lyons Hochschule für Schöne
Künste. Dort lernte man viel über Perspektive und Illusionsmalerei (Trompe
lOeil). „Es ist althergebrachtes Wissen von der Renaissance bis zum
Zeitalter der gemalten Filmkulissen. Caravaggio zum Beispiel war für uns
ein großes Vorbild“, sagt Halim.
Vor allem aber wollte die Gruppe die Kunst aus ihrem Elfenbeinturm auf die
Straße holen und vielen Menschen zugänglich machen. „Wir waren hungrig auf
ein kollektives Abenteuer im öffentlichem Raum, der uns nicht gehört“, sagt
Halim. Immer mehr Designer und Fassadengestalter schlossen sich der Gruppe
an. Lyon ist heute so etwas wie ihr Schaufenster.
Von ihrem Hauptsitz im Parc de Chabrières im Vorort Oullins gründete sie
Filialen in Quebec, Potsdam, Jerusalem, Moskau, Japan und China. Die Gruppe
realisierte Wandfresken in Berlin Weißensee und Teltow. In Schanghai
entstand ihr größtes Wandgemälde: auf 5.000 Quadratmeter am Carrefour
Wuning im Distrikt Putuo.
Lyons größte Wandmalerei (1.200 Quadratmeter) und Halims Lieblingswerk
führt ins einstige Viertel der Seidenweber (canuts) La Croix Rousse. Es
bringt Farbe an die fensterlose Wand eines tristen sechsstöckigen
Mietshauses (Boulevard des Canuts/Rue Denfert Rochereau). Kinder versuchen
hier manchmal die Treppenstufen hochzugehen, so echt sieht das Bild aus.
Die gemalte Autowerkstatt und die Bank zählen zu den Sponsoren der „Mur des
Canuts“, die dargestellten Menschen sind Bewohner des Viertels. 1997 konnte
das Bild nach einem Wasserschaden nach zehn Jahren endlich erneuert werden.
„Die Bewohner liebten es und unterstützten uns dabei“, erinnert sich Halim.
Da viel Zeit vergangen war, ließen die Künstler die Figuren an der Wand
mitwachsen: „Die Frau mit dem Buch auf der Treppe und der Mann mit dem
Fahrrad und dem Kind auf dem Arm waren in der ersten Version noch Kinder.“
Das Bild lebt.
„Für uns ist eine Hauswand wie die Haut der Bewohner“, erklärt Halim. Die
Künstlergruppe kümmert sich nicht nur um die Genehmigungen und die
Finanzierung ihrer Projekte, die Bewohner des Viertels haben
Mitspracherecht. Sie stehen Modell, beteiligen sich an der Wahl der Farben
und der Motive.
Ein Highlight jedes Lyon-Besuchs ist das Musée Urbain Tony Garnier im
Quartier der Etats-Unis. 14 Jahre dauerte die Realisierung der 25
Wandmalereien in dieser multikulturell bewohnten Siedlung mit sozialem
Wohnungsbau aus den 1930er Jahren. „Wir hatten ein wenig Angst, dass unsere
Bilder hier mit Graffiti übersprüht würden“, erzählt Halim. Was aber nicht
geschah. Die Bewohner kooperierten. Ihr tägliches Umfeld bekam Farbe,
weckte Aufmerksamkeit.
Architekt Tony Garnier schüttelt auf dem Viehmarkt die Hand von
Bürgermeister Edouard Herriot. Ab 1905 war dieser Bürgermeister sein
Großauftraggeber. Weitere Wandbilder zeigen Visionen der
arbeiterfreundlichen Cité Idéale, die Tony Garnier weit über Lyon hinaus
bekannt machte. 1991 finanzierte die Unesco Fresken von sechs Künstlern aus
Mexiko, Russland, den USA, Ägypten, der Elfenbeinküste und Indien. Der
einstige soziale Brennpunkt wurde zu einer Attraktion. Die Open-Air-Galerie
verzeichnet mehr als 20.000 Besucher im Jahr.
Ein Augenblick der Zeitreise in einer fiktiven U-Bahn, eine durch
Lichttechnik in Szene gesetzte optische Illusion. Partnerstädte seit 50
Jahren - dies gab den Anlass für ein gemeinsames Projekt der Cité de la
Création Lyon mit ihrer deutschen Tochtergesellschaft Creative Stadt. Das
Bild „Reise in Raum und Zeit“ in der Frankfurter U-Bahn Konstablerwache
zeigt die Börsen beider Städte, das Frankfurter Museumsuferfest und das
Lichterfest, das Lyon im Dezember verzaubert.Am Bahnsteig warten die Brüder
Lumière und Goethe. Ach ja, die Sponsoren aus beiden Städten sitzen im Zug.
10 Nov 2010
## AUTOREN
Petra Sparrer
## TAGS
Reiseland Frankreich
Hörbuch
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