# taz.de -- Leprakranke in China: Wer den Aussätzigen hilft | |
> Verstümmelung, Entstellung, der Tod als täglicher Gast - Schwester Maria | |
> hilft denen, die keine Hoffnung haben: Leprakranken. Sie leben in China | |
> in erbärmlichen Verhältnissen. | |
Bild: Leben in erbärmlichen Verhältnissen: Eine Leprakranke in einem Dorf in … | |
Schwester Maria* fährt wie der Teufel. Mit immensem Gottvertrauen und unter | |
ungezwungenem Einsatz der Hupe schlängelt sie ihren Kleinbus durch den | |
Gegenverkehr. Ohne angegurtet zu sein, ohne abzubremsen, düst die | |
Ordensschwester mit mehr als 80 Stundenkilometern in stockdunkler Nacht | |
über die Dörfer in der Provinz in Zentralchina, entgeht äußerst knapp den | |
Betonpfeilern, rast über Strohhaufen, die mitten auf der Fahrbahn liegen. | |
Dass der Wagen schrammenfrei bleibt, gleicht einem Wunder. Aber die | |
Schwester Oberin glaubt auch ganz fest an Wunder - und vielleicht muss man | |
das, wenn man Tag für Tag die Wunden von Menschen heilt, die die Lepra | |
entstellt hat. | |
Experten schätzen, dass es weltweit noch etwa 12 Millionen Leprakranke gibt | |
- in China sollen es etwa 200.000 Menschen sein, die von Lepra oder ihren | |
Spätfolgen gezeichnet sind. Im so imposant aufstrebenden Reich der Mitte | |
gab es noch vor zwei Jahren nach Angaben staatlicher Medien rund 1.600 | |
Neuinfektionen pro Jahr. | |
Nach wie vor vegetiert die Mehrheit der Leprakranken in Verhältnissen, die | |
zum Erbarmen sind: Sie sind ausgestoßen aus der Gesellschaft, häufig | |
verbannt in die Berge, fernab der Zivilisation sich selbst überlassen. In | |
vielen von Lepra betroffenen Dörfern fehlt jegliche ärztliche Versorgung, | |
Strom und sauberes Trinkwasser sind Mangelware. | |
Schwester Maria kümmert sich mit sechs weiteren Nonnen um die | |
Ausgestoßenen. Unterstützt werden sie von der Jesuitenhilfsorganisation | |
Casa Ricci Social Services. Lepra ist heutzutage heilbar, schon innerhalb | |
eines Jahres, wenn sie mit einer Kombination von drei Antibiotika | |
regelmäßig und konsequent behandelt wird. Doch gerade in ländlichen | |
Gebieten leben viele ehemalige Leprakranke, die durch ihre Krankheit | |
verstümmelt sind, weiterhin in sozialer und räumlicher Isolation. | |
Was Lepra noch heute bedeutet, kann man erahnen, wenn man den katholischen | |
Ordensfrauen morgens um acht Uhr von ihrem kleinen Konvent in den | |
schmucklosen Behandlungsraum auf der anderen Straßenseite folgt. Die | |
Schwestern haben sich weiße Kittel und Plastikhandschuhe übergezogen. Der | |
Behandlungsraum für die Leprapatienten ist so groß wie ein Klassenzimmer, | |
der Betonboden ist kalt. Die Lepra hat vielen der rund 20 Patienten | |
sämtliche Finger geraubt. Gleichwohl versuchen alle, zur Begrüßung zu | |
klatschen. | |
Die Gesichter der meisten Patienten sind zerstört, bei vielen ist die Nase | |
nur noch ein Stumpf. Die Erkrankten versuchen dennoch ein freundliches | |
Lächeln, aber das verzerrt die Gesichtszüge umso mehr. Es nicht leicht, | |
zurückzulächeln. | |
Die Nonnen beginnen sofort, die Wunden der Kranken zu versorgen. Fast alle | |
haben schwere Verletzungen an ihren grotesk aufgedunsenen Füßen, denen oft | |
die Zehen fehlen. Lepra kann zu Gefühllosigkeit in den Extremitäten führen. | |
Die Kranken nehmen dann kleine Alltagsverletzungen an den Händen oder Füßen | |
nicht mehr wahr. Mangel an Hygiene führt nicht selten dazu, dass daraus | |
schwärende Wunden werden. | |
Deshalb behandeln die Ordensschwestern an diesem Morgen vor allem Füße, die | |
die Patienten ihnen, aufgestützt auf kurze Ständer aus Metall oder Holz, | |
entgegenstrecken. Die Frauen reinigen und verbinden die Wunden. Manche | |
singen dabei leise ein Liedchen, als klammerten sie sich an etwas Schönes | |
in diesem Elend. | |
Anschließend trotten die Kranken zurück in ihre Behausungen. Pro Patient | |
gibt es ein Zimmer. Rechts und links eines länglichen, ein wenig mit Palmen | |
begrünten Innenhofs stehen zwei Backsteinbaracken. Sie sind in 30 Zimmer | |
unterteilt. Es gibt mehrere solcher Gehöfte, insgesamt leben hier rund 270 | |
Menschen. In allen Zimmern flimmert ein Fernseher. Zwei große | |
Satellitenschüsseln dominieren den Innenhof, als seien sie die letzte | |
Verbindung zum Planeten Erde. | |
In einem Zimmer kauert eine alte, völlig verwahrloste Frau auf dem Boden | |
und wimmert. Auf ihrem Bett liegt seit gestern in Totenstarre ihr | |
verstorbener Lebensgefährte. Die Leiche ist in einem Wust von Kleidern kaum | |
zu erkennen, nur die Füße ragen heraus. Das Gesicht des Toten ist bedeckt | |
mit einem Stück Papier. Die Nonnen sprechen der Alten Mut zu, beten kurz | |
mit ihr. | |
Wenig später kommt der Leichenwagen in das Gehöft. Es ist ein zweirädriges | |
Gespann mit einem Sarg aus massivem Holz. Mehrere Männer heben die Leiche | |
hinein. Es dauert eine Weile, bis sie den Deckel mit einem Tau auf dem Sarg | |
befestigt haben. Einige rauchen, machen Scherze. Die Nachbarn des Toten | |
schauen teilnahmslos zu. Manche setzen ungestört ihr Frühstück fort, andere | |
glotzen Fernsehen. Der Tod ist alltäglich hier. | |
Die Nonnen kehren zurück in ihren Konvent, es wird still. In ihrer Zelle | |
hat eine der Schwestern etwas Zeit für ein Gespräch. Sie ist 23 Jahre alt, | |
hat in den Spitzen rot gefärbte Haare und trägt eine recht moderne | |
Hornbrille. Auf ihrem Bett liegt eine Stickarbeit, die Jesus als Hirten | |
zeigt. Auf ihrem kleinen Schreibtisch steht ein Laptop, daneben liegt | |
christliche Erbauungsliteratur. | |
Die junge Frau kommt aus der Provinz Innere Mongolei, hat gerade ihr | |
Studium der chinesischen Literatur beendet und ist als Freiwillige für ein | |
Jahr hier. "Jeder Mensch ist gleich, und Jesus hat für andere gelebt", | |
nennt sie als Grund für ihre Arbeit hier. Ende Juli kam sie her. "Ich war | |
geschockt und habe mich gefürchtet", beschreibt sie ihren ersten Tag im | |
Konvent. Nun vertraue sie auf die Erfahrung der Nonnen und auf Gott. Dabei | |
zeigt sie - es ist eine so hilflose wie rührende Geste - mit dem | |
Zeigefinger nach oben. Und lacht. | |
Ein Glöckchen klingelt. Mittagessen im Wohnzimmer der Schwestern. Ein Bild | |
der Ordensgründerin hängt an der Wand, darunter sieht man ein paar lobende | |
Urkunden lokaler Behörden. Die Nonnen reden viel, immer wieder lachen und | |
kichern sie. Dann herrscht wieder Stille. Alle ziehen sich in ihre Zellen | |
zurück oder erledigen Hausarbeit. Früh gibt es Abendessen, früh geht man zu | |
Bett. Es wird viel gebetet. Vielleicht wäre die Arbeit sonst auch nicht | |
auszuhalten. | |
Auch am nächsten Tag behandelt Schwester Maria wieder die schlimmsten | |
Fälle, sie hat die meiste Erfahrung. Mit besorgtem Blick redet sie mit | |
einer Patientin, deren rechtes Bein aufgedunsen und dunkel verfärbt ist. | |
"Hast du Fieber da drin?", fragt sie. Die wohl 40-Jährige, durch die | |
Krankheit alterslos gewordene Frau verneint. Plötzlich taucht draußen eine | |
Großmutter mit ihrem Enkelkind auf. Die Frau hat eine verstümmelte Nase, | |
das Baby in einem weiß-blauen Anorak sieht kerngesund aus. Mit Kulleraugen | |
schaut es ausdruckslos in den Behandlungsraum. Die Großmutter lächelt, das | |
Kind ist wie der Widerschein einer heilen Welt. Alle freuen sich an ihm. | |
Wohl auch wegen des starken Jodgestanks im Behandlungsraum hat sich die | |
Besucherin mit ihrem Enkel nicht hineingetraut. Nach der Behandlung schauen | |
drei Nonnen nach der Lebensgefährtin des Mannes, der gestern beerdigt | |
worden ist. Sie weint noch immer. In einer beherzten Aktion schaffen die | |
Schwestern Ordnung in ihrem Zimmer. Die Oberin schabt mit einem großen | |
Messer Dreck von einer Tischplatte. Die anderen schaffen Müll, einen Wok | |
mit gegorenem Essen und einen bestialisch stinkenden Blecheimer mit der | |
Notdurft der Frau fort. Von nun an wollen sie der Alten regelmäßig Essen | |
vorbeibringen. | |
Mit der Hilfe von Schwester Maria ist es möglich, einen der ältesten | |
Bewohner des Leprazentrums zu sprechen - der 74-jährige Mann lebt in einem | |
benachbarten Gehöft. Vor sieben Jahren sind die Nonnen in das Lepradorf | |
gekommen. Etwa 100 ihrer Patienten sind seitdem gestorben. Der freundliche | |
Alte gehört zu den wenigen, die Schwester Maria von Anfang an kennt. | |
Schon mit 13 Jahren war er an Lepra erkrankt, Anfang der fünfziger Jahre | |
kam er in dieses Dorf, weil weder seine Familie noch seine Nachbarn länger | |
mit ihm zu tun haben wollten. Damals lebten hier noch über 3.000 Menschen. | |
Verfallene Dienstgebäude mit Sozialistensternen über den Fensterrahmen | |
künden von dieser Zeit. | |
Früher habe er fast gar keine Medikamente erhalten, berichtet der alte | |
Mann. Nur selten kamen völlig vermummte Ärzte vorbei, die vor allem | |
Verbandszeug abluden, dann waren sie wieder weg. Die Kranken mussten ihre | |
Wunden selbst versorgen. Auch die Ärzte hätten Angst vor der Krankheit | |
gehabt. Seit der Öffnung Chinas ab Ende der siebziger Jahre habe es große | |
Veränderungen gegeben, sagt der Alte und fügt sibyllinisch hinzu: "Die | |
einen sind im Himmel, die anderen in der Hölle." | |
Die Zeit zum Abschied ist da. Die sportliche Rückfahrt im Kleinbus zum | |
Busbahnhof fordert Schwester Maria nicht so sehr, dass nicht noch Raum für | |
ein Gespräch bliebe. Die Behörden tragen die Hälfte der Medikamente bei, | |
lässt sie sich entlocken. Man schätzt die karitative Arbeit der Kirche, | |
jegliche Mission aber ist verboten. Schwester Maria sagt, sie habe eine | |
Pflegeschulung durch staatliche Ärzte erhalten, den Rest über Bücher und | |
Erfahrung gelernt. "Das Wichtigste aber ist das Herz", sagt sie. Ohne | |
Ironie. | |
Am Busbahnhof verabschiedet sich Schwester Maria herzlich. Einen grauen | |
Trainingsanzug hat sie heute an. Vielleicht ist Schwester Maria ja eine | |
Heilige. Ganz sicher aber ist sie die coolste Nonne der Welt. | |
* Name geändert | |
15 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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