| # taz.de -- Debatte Bosnien: Raus aus Dayton – aber wie? | |
| > Mit dem Abkommen von Dayton endete der Bürgerkrieg in Bosnien. Doch um | |
| > das Land aus seiner Agonie zu reißen, braucht es einen neuen Anlauf. | |
| Als im November vor 15 Jahren im US-Staat Ohio das Abkommen von Dayton | |
| beschlossen und im Dezember in Paris paraphrasiert wurde, endete damit der | |
| über dreieinhalb Jahre währende Krieg in Bosnien und Herzegowina. Nicht | |
| alle Beteiligten haben den Vertrag unterzeichnet. | |
| Die bosnisch-serbischen nationalistischen Extremisten um Radovan Karadzic | |
| etwa glaubten, sie müssten zu viele Konzessionen machen, und verweigerten | |
| ihre Unterschrift; für sie signierte der serbische Präsident Slobodan | |
| Milosevic das Papier. Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Führung | |
| der bosnischen Serben das Abkommen heute mit Zähnen und Klauen verteidigen. | |
| Mit dem Abkommen von Dayton endeten zwar die Exzesse der ethnischen | |
| Säuberungen. Die hatte es vor allem von serbischer Seite gegeben, und sie | |
| gipfelten im Massaker an mehr als 8.000 Jungen und Männern in Srebrenica im | |
| Juni 1995. Doch die Kriegstreiber wurden mit dem Friedensabkommen nicht | |
| energisch genug in die Schranken gewiesen. | |
| Das gesellschaftliche Geflecht einer aus katholischen Kroaten, orthodoxen | |
| Serben, muslimischen Bosniaken und anderen Minderheiten durchmischten | |
| Bevölkerung, das vor dem Krieg eng verwoben war - fast ein Drittel der Ehen | |
| waren Mischehen -, wurde durch die ethnonationalistische Kriegspolitik | |
| auseinandergerissen. | |
| Blockade der Nationalismen | |
| Heute ist das Land in drei weitgehend ethnisch homogene Zonen aufgeteilt, | |
| was ganz nach dem Geschmack der serbischen und auch mancher kroatischer | |
| Nationalisten ist. Die internationale Gemeinschaft hat die Aufteilung des | |
| Landes nach ethnonationalen Kriterien mit dem Abkommen von Dayton | |
| bestätigt. Zudem hat sie es versäumt, einen Mechanismus zur Veränderung und | |
| Überprüfung der Verfassung einzubauen. | |
| Die beiden sogenannten Entitäten, die serbische Teilrepublik "Republika | |
| Srpska" und die "Föderation Bosnien und Herzegowina" | |
| (kroatisch-bosniakische Föderation), driften seit Jahren immer weiter | |
| auseinander. Der Gesamtstaat ist sehr schwach gehalten und verfügt nur über | |
| wenige Kompetenzen. In den Parlamenten erschweren vielerlei Vetorechte eine | |
| gemeinsame Beschlussfassung. Extreme Nationalisten aller Lager sind in der | |
| Lage, aus einer Minderheitenposition heraus wichtige Reformprojekte zu | |
| blockieren. | |
| Zwar hat die internationale Gemeinschaft in den letzten 15 Jahren durchaus | |
| einiges erreicht. Die Hohen Repräsentanten der internationalen | |
| Gemeinschaft, die ursprünglich lediglich vor Ort die Umsetzung des | |
| Abkommens überwachen sollten, haben immerhin versucht, mit ihren | |
| Machtmitteln gegen den Widerstand der nationalistischen Kräfte einige | |
| wichtige Weichen zu stellen. So gibt es jetzt eine vereinigte Armee, die | |
| Außengrenzen werden durch eine gemeinsame Polizei kontrolliert, das | |
| UN-Tribunal in den Haag hat über 100 Kriegsverbrecher abgeurteilt. | |
| Der Milliarden kostende Wiederaufbau wurde mit internationalen Geldern | |
| finanziert, die Infrastruktur und das Straßensystem funktionieren wieder. | |
| Selbst die Wirtschaft wächst wieder, wenngleich die internen Grenzen ein | |
| schnelleres Wirtschaftswachstum behindern. | |
| Unreformierbare Verfassung | |
| Wenn dieser Tage Politiker aus der EU nach Bosnien und Herzegowina reisen, | |
| dann lassen sie es nicht an Aufforderungen an die bosnischen Politiker | |
| fehlen, Reformen durchzuführen, mit denen das Land in der Lage ist, in den | |
| Prozess der Integration in die EU einzutreten. Wer so argumentiert, will | |
| nicht wahrhaben, welche Fehler die internationale Staatengemeinschaft auf | |
| dem Balkan zu verantworten hat. Daraus hat sie bis heute leider kaum | |
| Konsequenzen gezogen. Es wird schlicht ignoriert, dass die dem Abkommen von | |
| Dayton entsprungene Verfassung nicht reformierbar ist, den Status quo im | |
| Land zementiert und keinen Ausweg aus der Misere bieten kann. | |
| Die Staatengemeinschaft hätte anfänglich die Machtmittel vor Ort gehabt, | |
| eine andere Lösung durchzusetzen. Sie konnte sich aber nicht einigen. Die | |
| Uneinigkeit vor allem der Europäer setzt sich fort. Politiker Europas | |
| sprechen seit Jahren davon, die noch immer für den Zusammenhalt des Landes | |
| wichtigen Institutionen der internationalen Gemeinschaft aufzulösen, was | |
| deren Autorität in Bosnien erschüttert und den nationalistischen Kräften | |
| entgegenkommt. | |
| Und fast alle ehemaligen Hohen Repräsentanten der internationalen | |
| Gemeinschaft fordern seit langem eine Verfassungsreform, der kroatische | |
| Expräsident Stipe Mesic sogar ein Dayton II. Doch nur, wenn sich die | |
| Weltmächte zusammensetzen und erneut über die Lage in Bosnien und | |
| Herzegowina beraten, kann seiner Meinung nach eine neue Verfassung | |
| geschaffen werden. Die ehemaligen Hohen Repräsentanten, Christian | |
| Schwarz-Schilling und Wolfgang Petritsch, warnen deshalb vor einem | |
| politischen Vakuum und fordern neben einer Verfassungsreform ein ganzes | |
| Bündel von Maßnahmen. | |
| Xenophober Funken fliegt über | |
| Doch weder Washington, Brüssel noch Moskau bewegen sich. Man ist offenbar | |
| mit dem Status quo zufrieden: Es scheint ja alles ruhig zu sein. Dass der | |
| Kompromiss mit dem Nationalismus das Land in dieser Agonie festhält, aus | |
| der es keinen Ausweg geben kann, sei aus dem Blick der Spitzenpolitiker | |
| geraten, moniert Schwarz-Schilling. | |
| Im Gegenteil gerät Europa jetzt selbst in Gefahr, durch xenophobe, | |
| illiberale, intolerante Bewegungen seine geistigen Grundlagen infrage zu | |
| stellen. Die Erfolge rechtspopulistischer Anti-Islam-Parteien in den | |
| Niederlanden, in Dänemark, Österreich und zuletzt in Schweden, die | |
| politischen Spannungen in Belgien: All das scheint eher zu einer | |
| Balkanisierung Europas zu führen als zu einer Europäisierung des Balkans. | |
| Alles das bietet keine guten Aussichten für eine demokratische Erneuerung | |
| in Bosnien und Herzegowina und die anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens - | |
| vor allem, wenn die große Politik diesen Raum nicht doch wieder in den | |
| Fokus nimmt, wenn nicht Versöhnungsprozesse unterstützt und | |
| menschenverachtende Ideologien bekämpft werden. Die Europäer müssen sich | |
| gegen die kleingeistigen und engstirnigen Nationalismen in und außerhalb | |
| der EU wehren: Auch das ist eine Konsequenz aus Dayton. | |
| 21 Nov 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Erich Rathfelder | |
| Erich Rathfelder | |
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| Schwerpunkt Syrien | |
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