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# taz.de -- Die Dorfläden kehren zurück: Tante Emmas Töchter
> Erst als sie nach und nach verschwanden, begannen die kleinen Dorfläden
> zu fehlen. Jetzt kehren sie zurück: als alternatives und nachhaltiges
> Wirtschaftsmodell.
Bild: Onkel Emma, Tante Horst und Anni Kratzer, hier in ihrem Laden: Vorreiter …
Gelting hat eine Kirche, einen Sportverein und eine freiwillige Feuerwehr.
Gelting ist kein verarmtes, verödetes Dorf; es liegt im Münchner
Speckgürtel, wo es von den zuzugswilligen Städtern profitiert. Nur einen
Laden gab es in der 1.800-Seelen-Gemeinde nicht mehr. Der Edeka an der
Hauptstraße hatte seit ein paar Jahren geschlossen: Zu wenig Kunden. "Dabei
hat das den Leuten gefehlt, sie wollten eine Einkaufsmöglichkeit", erinnert
sich Klaus Peter Mellwig an eine Versammlung der Dorfbewohner.
Drei Jahre ist das her. Das Ergebnis des Diskussionsabends steht gegenüber
der Kirche, am Rande eines neu gepflasterten Platzes: Das "Geltinger
Dorflädchen". Entstanden in Eigenregie der Bewohner, ohne Subventionen,
ohne Großunternehmer - und zwei Jahre nach der Eröffnung in den schwarzen
Zahlen.
"Ab Freitag Naturland-Rindfleisch von Schmid in Fletzen", wirbt ein Schild
am Eingang. Innen stehen hinter einer Fensterfront vier Holztische mit
rotkarierten Decken und Kerzen, es gibt Kaffee, mittags Brotzeiten und ein
warmes Essen. Im hinteren Bereich finden sich Katzenfutter, Klopapier und
Schokolade in handelsüblichen Supermarktregalen. Besonderes steht in
gesonderten Aufstellern, Marmelade aus der Region, die Gewürze aus dem
Nachbardorf. Dazwischen wuselt eine Handvoll Frauen umher, räumt Waren ein,
serviert Kaffee, bedient hinter der Brot- und Käsetheke.
Dienstleistung plus Nahversorgung, Minimarkt und Marktstandatmosphäre:
Gelting ist damit der Prototyp der "Tante Emma 2.0". Das ursprüngliche
Modell aus den 50er Jahren war im Dorfbild nahezu verschwunden. Seit ein
paar Jahren leben die Kleingeschäfte wieder auf, mehr als 100 sind vor
allem in Süd- und Westdeutschland entstanden - aber nicht mehr als
Familienbetriebe oder Konzernfilialen, sondern als kleine
Aktiengesellschaft, Genossenschaft, mit den Bewohnern als Anteilseignern,
oder als Vereine.
Der Unternehmensberater Wolfgang Gröll spricht von einer regelrechten
Renaissance von Dorfläden. Er schätzt die Zahl der neu entstandenen
Kleingeschäfte auf bis zu 250. Jedes Jahr kommen seinen Prognosen zufolge
etwa 20 dazu. Weil sich im Zuge der Globalisierung Supermärkte auf größere
Standorte zurückziehen, wird das Versorgungsnetz gröber.
Dazu kommt die demografische Entwicklung, die Bevölkerung altert. Ältere
sind weniger mobil; früher wurden sie auf dem Land von der Großfamilie
mitversorgt, heute wird das Modell kaum noch gelebt. "Die
3-Generationen-Haushalte sterben auch auf dem Land aus, gleichzeitig nimmt
die Zahl der Singlehaushalte zu", sagt Gröll, der seit 15 Jahren neue
Nahversorgungskonzepte begleitet.
Bundesweit ist die Zahl der Singlehaushalte in den letzten fünf Jahren um
10 Prozent auf fast 16 Millionen gestiegen; in gleichem Maß nahm die Zahl
der Haushalte mit mindestens fünf Personen ab, davon gibt es noch 1,4
Millionen (2009). "Wir stehen unmittelbar vor einer Versorgungslücke",
warnt auch die Soziologin Claudia Neu von der Hochschule Niederrhein. Junge
Menschen wanderten ab, ältere bleiben allein zurück und hätten häufig nur
noch den Bäcker- und Fleischerwagen, der zweimal pro Woche durchs Dorf
fährt.
In Gelting fand sich zügig ein Arbeitskreis, um das Projekt Dorfladen zu
realisieren. Der 69-jährige Mellwig übernahm gemeinsam mit einem Landwirt
aus dem Ort die Leitung. Ein halbes Jahr nach der ersten Idee wählte der
Arbeitskreis Dorfladen einen Aufsichtsrat, der ernannte einen Vorstand.
Eine Genossenschaft wurde gegründet: Dorfbewohner können Anteile à 180 Euro
an der "Dorfladen Gelting e.G. (eingetragene Genossenschaft)" kaufen.
"Wenn den Leuten der Laden gehört, haben sie Interesse, ihn zu halten",
sagt Mellwig. Die Genossenschaft mietet den Laden in der Ortsmitte von
einer Unternehmerin. Regale und Kühltheke besorgten sie sich von einem
Projekt in Nordbayern, das pleitegegangen war. Leitungen wurden neu verlegt
und ein Jahr nach der ersten Idee öffnete der Dorfladen.
Anfangs wollte die Genossenschaft eine Alternative zum Discounter im
Nachbarort anbieten. Doch nach der ersten Euphorie kehrte Ernüchterung ein,
bei Verkäufern und Kunden. "Wir haben Verluste geschrieben, obwohl wir zum
Start des Ladens ein gutes Polster hatten", erzählt Mellwig.
Eine reine Supermarkt-Kopie sei eben nicht überlebensfähig, bekräftigt
Heinrich Becker vom Thünen-Institut in Niedersachsen. "Die Leute sind nicht
zufrieden mit dem Angebot, außerdem hat sich das Kaufverhalten der Mehrheit
nicht geändert: Sie fahren nach wie vor mit dem Auto zum Supermarkt."
Zahlreiche Projekte sind so schnell gescheitert - dann ist nicht nur ein
Haufen Geld verloren, die Bürger sind zudem desillusioniert und kaum
bereit, sich ein zweites Mal zu engagieren.
Vorher den Bedarf klären, dann realistisch bleiben, sagen die Experten
übereinstimmend. Nicht alle Wünsche sind finanzierbar und mit Personal
abzudecken. Am ehesten realisiert das die Bevölkerung, wenn sie selbst
aktiv wird, wie es bei genossenschaftlichen Dorfläden in der Regel der Fall
ist. "Eine Genossenschaft hat mehr Eigenkapital, und durch
bürgerschaftliches Engagement können die Investitionssummen niedrig
gehalten werden", bekräftigt Unternehmensberater Gröll.
Der Geltinger Vorstand zog die Reißleine. Mit Andrea Pichler kam eine neue
Ladenchefin, die Personalkosten wurden gesenkt. "Wir können nun einmal
keine Spitzengehälter zahlen, von diesem Traum mussten wir uns
verabschieden", bekennt Mellwig. Andere Projekte mussten deswegen aufgeben,
wie ein Beispiel aus dem oberfränkischen Röbersdorf zeigt: Dort war ein
Laden nach ähnlichem Modell wie in Gelting euphorisch gestartet.
Die Initiatoren boten nur Lebensmittel an, die Verkäuferinnen kamen
größtenteils aus dem Ort. "Die Löhne senken, das war im Dorf nicht
durchsetzbar, man kannte sich ja", erinnert sich der Bürgermeister Andreas
Schlund. "Als dann ein paar Verkäuferinnen gehen mussten, hatte der Laden
gleich ganze Familien gegen sich." Das Geschäft ging pleite, die
Dorfbewohner erhielten ihre Anteile nicht zurück.
Die Geltinger nennen ihre Verkäuferinnen "400-Euro-Damen", ausgebeutet
fühlen sich die Frauen nicht; in der Regel waren sie vorher Hausfrauen,
jetzt verdienen sie dazu. Der Job ist für sie auch ein Treffpunkt, die
Kunden kennen sie in der Regel persönlich.
Elisabeth Lanzinger ist so ein Fall. Sie kommt jeden Tag, meist um die
Mittagszeit. Eine betagte Witwe, klein und nicht mehr so gut zu Fuß. Kaffee
habe sie hier zwar erst einmal getrunken, denn "das macht man doch daheim",
sagt sie. Aber da sie nicht ständig die Tochter mit Einkaufszetteln
belästigen will, kauft die Frau alles, was sie braucht, im Dorfladen. "Bei
der kleinen Menge ist es doch egal, ob es ein bisschen mehr kostet." Außer
zu ihrer Tochter hat Lanzinger nur zu wenigen im Dorf Kontakt, viele
Bekannte sind gestorben.
"Gerade für die Älteren brauchen wir die klassische Nahversorgung, deswegen
stellen wir die Standards ins Regal", sagt Geschäftsführerin Pichler. Die
neue Chefin beschließt zugleich, eigene Schwerpunkte zu setzen. Beispiel
Marmelade: Der Plastikbecher vom Großkonzern kostet in Gelting 1,19 Euro,
im Supermarkt im zwei Kilometer entfernten Geretsried ist er 40 Cent
billiger. Den Preis senken konnte Pichler nicht, sonst hätte sich der
Verkauf nicht gelohnt. Sie bestellte Marmelade im Glas von einer regionalen
Manufaktur. Das Glas kostet 4,50 Euro und steht in einem Holzregal,
dekoriert mit Deckchen und Schleifen, die Etiketten sind handgeschrieben.
"Wenn die Kunden die Augenbrauen hochgezogen haben wegen dem Preis, hab ich
ihnen erklärt, wie er zustande kommt", erzählt die 36-Jährige. "Und eine
Probieraktion habe ich gemacht." Das Ergebnis: Von den teuren Marmeladen
verkauft Pichler acht Mal so viel wie von den Plastikbechern.
"Ich will nicht Lieferant sein für das, was die Leute bei Aldi vergessen
haben", fasst sie ihr Geschäftsmodell zusammen. Sie setzt auf die Gut- und
Doppelverdiener, die in München arbeiten und weg vom Billigtrend bei
Lebensmitteln wollen. Kunden wie Klaus Zeifang. "Mir ist es auch etwas
wert, dass es gut schmeckt", sagt er. Käse und Brot kauft er regelmäßig im
Dorfladen, ob es dann einen Euro mehr oder weniger koste, sei ihm nicht so
wichtig.
Regionales als Nische, dazu die Brotzeiten und das Mittagessen, damit hat
sich der Laden etabliert. Eine generelles Erfolgsrezept ist das nicht, es
passt eben nur für diese Region: Im brandenburgischen Seddin etwa, wo
Planungen für einen Dorfladen laufen, gibt es schlicht weniger lokale
Käsereien und Bäckereien, die Landwirtschaft ist nicht so kleinteilig
organisiert. Frischwaren werden außerdem auch von mobilen Versorgern
angeboten - sie werden in ein Konzept eingebunden werden müssen, um interne
Konkurrenz zu vermeiden.
Für einen Landstrich in Mecklenburg-Vorpommern sah die Soziologin Neu gar
keine Perspektive für einen Laden: Zu verstreut die Siedlungen, zu gering
die Kaufkraft, zu hoch der Anteil der täglichen Pendler. Sie empfahl,
mobile Versorgungsangebote mit stationären (etwa Hofläden) zu kombinieren.
Im mittelständisch-landwirtschaftlich geprägten Bayern aber lohnen sich die
Einzelverträge mit lokalen Erzeugern. An die 80 Prozent des Geschäfts macht
der Laden an der Frischtheke. Einen Großteil der Gewinne verbucht die
Genossenschaft auf einem Rücklagenkonto. Ab 2013 nämlich können sich
Teilhaber ihre Anteile auszahlen lassen - darauf will die Genossenschaft
vorbereitet sein.
24 Nov 2010
## AUTOREN
Kristina Pezzei
## TAGS
Schweden
Einzelhandel
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ein Ersatz gefunden: Mit Lebensmitteln, Lesecafé und einer Tourismusecke
soll ein neues Geschäft zum Ortsmittelpunkt werden.
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